Читать книгу Rauhnacht - Max Pechmann - Страница 6
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ОглавлениеDas Haus, in dem Gregor wohnte, stand etwas außerhalb von Tiefenfall. Es handelte sich um ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Aus dem Schornstein qualmte Rauch, der von dem Wind davon geweht wurde. Das behagliche Aussehen des Gebäudes stand im vollen Gegensatz zu dem gegenüberliegenden Ort. Ein von einer verwachsenen Hecke eingerahmter Friedhof. In der Dämmerung erkannte Titus Steinkreuze und Grabsteine sowie eine alte Kapelle, deren windschiefe Konstruktion die Kälte des beginnenden Abends einzusaugen schien.
Das Tor der Garage, die an das Gebäude angebaut war, öffnete sich automatisch. Gregor fuhr den Wagen hinein und schaltete den Motor aus. „Willkommen daheim.“
Hinter ihnen rollte das Tor wieder herunter. „Hier hast du es auf jeden Fall ruhig.“
Gregor öffnete die Tür. „Du meinst wegen des Friedhofs? Ja, dort drüben macht bestimmt niemand Radau.“
Titus stieg aus und nahm seinen Koffer von der Rückbank. „Ein ganzes Haus nur für dich allein. Hat es die ganze Zeit über leer gestanden?“
„Soweit ich weiß, hat hier seit langem niemand mehr gewohnt.“ Gregor zuckte mit den Achseln. „Kein Wunder. Wie gesagt, in diesen Ort verirrt sich niemand.“
„Und von den Bewohnern des Ortes zog niemand hierher?“
Gregor trat an die Tür, die in das Haus führte. „Willst du in der Garage übernachten? Das Haus stand leer. Es interessiert mich nicht, wer oder ob jemand vor mir hier gelebt hat. Das Gebäude ist hervorragend für meine Arbeit. Wenn du dich mit der Geschichte des Hauses auseinandersetzen willst, dann findest du vielleicht etwas darüber in der Bibliothek.“
„Bibliothek?“
Gregor trat durch die geöffnete Tür in die Diele. „Hier im Erdgeschoss. Eine durchaus ansehnliche Büchersammlung.“
Titus folgte ihm. Er kam in einen weitläufigen Eingangsbereich, in dem eine Holztreppe hinauf in das Obergeschoss führte. Mehrere Türen öffneten sich in angrenzende Zimmer.
An einer der Wände hing ein großes Gemälde. Es zeigte eine düstere Berglandschaft, bedeckt von einem dichten Wald. Im Hintergrund erkannte Titus so etwas wie eine dunkle Gewitterwolke. Erst bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass die Wolke aus einer Unzahl dunkler, schemenhafter Teufelsfratzen bestand. Nicht gerade ein typischer Beitrag zur Landschaftsmalerei.
Es roch nach frisch zubereitetem Essen. Titus’ Magen knurrte. Seit er seine Reise früh am Morgen begonnen hatte, hatte er lediglich ein belegtes Brötchen und einen Becher Kaffee zu sich genommen.
„Ich zeige dir kurz dein Zimmer“, sagte Gregor. „Danach genehmigen wir uns ein großartiges Essen.“ Er geleitete Titus über die Treppe ins Obergeschoss.
Das Zimmer, in dem Titus übernachten sollte, war großräumig und besaß zudem ein eigenes Bad. Titus stellte den Koffer ab und legte seine Laptoptasche auf den Schreibtisch. Eine Glastür ging hinaus auf einen Balkon. Die Möbel entsprachen dem geläufigen Landhausstil.
„Gib es ruhig zu, du hast etwas anderes erwartet“, meinte Gregor.
„Was hätte ich erwarten sollen? Es ist schön hier.“
„Ich lasse dich für einen Moment alleine“, erwiderte Gregor. „Treffen wir uns unten wieder.“
Nachdem sein Freund gegangen war, schaltete Titus das Licht aus und trat ans Fenster. Natürlich. Es zeigte in Richtung Friedhof. Von hier aus sah er einzelne Grabkerzen leuchten. Er ließ seinen Blick durch die Ferne schweifen. Tiefenfall lag in einem Tal. Die hohen, zerklüfteten Berge umgaben den Ort wie die Mauern einer gewaltigen Festung. Das restliche Licht des Tages zeichnete sich als orangerote Flecken auf ihren Spitzen ab. Titus benutzte die Toilette und wusch sich Hände.und Gesicht. Er fühlte sich schwer wie Blei. Er war das Reisen nicht gewöhnt. Aus dem Erdgeschoss hörte er Gregor mit einer Frau sprechen. Wohl oder übel handelte es sich dabei um seine abergläubische Haushälterin. Titus blieb noch einen Moment in dem Zimmer stehen, bevor er hinaus in den Flur trat und im Erdgeschoss nach dem Esszimmer suchte.
„Da bist du ja schon!“, rief Gregor ihm zu. Er stand vor einem großen Kamin und schürte das Feuer. Funken stoben empor.
Die Mitte des Raumes nahm ein ovaler Tisch ein, der für zwei Personen gedeckt war. Es gab eine weiße Porzellanschüssel mit Suppe und einen Teller, auf dem ein dampfender Rinderbraten Titus’ Appetit anregte. Dazu gab es Kartoffeln und Rotkraut.
Gregor zeigte auf die Speisen. „Lisa hat bereits alles vorbereitet.“
„Lisa?“
„Meine Haushälterin.“
„Ist sie noch in der Küche?“
„Sie ist soeben nach Hause“, erklärte Gregor und trat an den Tisch. „Seit gestern will sie nicht länger als bis kurz nach Sonnenuntergang bleiben. Frag mich nicht, aus welchem Grund.“
„Hängt wahrscheinlich mit ihrem Aberglauben zusammen“, bot Titus eine Erklärung an.
„Da kannst du Recht haben. Aber was soll’s. Setz dich lieber. So wie du aussiehst, kannst du sicherlich eine Menge vertragen.“
Titus nahm sich von der Suppe. „Das kannst du laut sagen. Ich habe einen Bärenhunger.“
Gregor lächelte. „Das hört sich schon einmal gut an. Vielleicht vertreibt das Essen ja deine trüben Gedanken.“
Titus stockte in seiner Bewegung. „Merkt man mir das so sehr an?“
„Anmerken? Man braucht nicht einmal Licht dazu. Hör einmal auf deinen ältesten und besten Freund. Deine Muse war nicht die einzige Frau auf diesem Planeten.“
„Das sagt einer, der seit Jahren mit seiner Mutter zusammen lebt und noch nie eine Freundin gehabt hat.“
Gregor schmunzelte. „Oh, da kennst du nur die halbe Wahrheit.“
„Halbe Wahrheit? Sollte innerhalb der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, ein Wunder geschehen sein?“
Gregor lachte auf. „Wunder? Nicht wirklich. Eine meiner Studentinnen, Titus. Sie ist jetzt meine Assistentin.“
Titus probierte die Suppe. Gut war kein Ausdruck. Sie schmeckte göttlich. Eine Kürbissuppe wie sie nicht besser hätte sein können. „Ich kann mir denken, aus welchem Grund.“
„Jetzt wirst du geschmacklos, Titus. Sie hat das Zeug zu einer hervorragenden Wissenschaftlerin.“
„Und ist zufällig auch gut im Bett.“
Gregor rückte verlegen seine Brille zurecht. „Ihre Brüste, Titus …“
„Jetzt fängst du damit an. Und wieso ist sie nicht mit hierher gekommen?“
„Sie kommt morgen.“
Titus schaute von seiner Suppe auf. „Ich dachte, ich sei dein einziger Gast.“
„In Ordnung, ich hätte es dir schon früher sagen sollen. In deiner Lage war es sicher unfein. Aber ich brauche sie hier bei mir.“
„Als Betthäschen oder als intellektuelle Unterstützung?“
„Es gibt zu viele Dinge zu untersuchen. Alleine werde ich nicht damit fertig.“
Titus löffelte seinen Teller aus. „Ich brauche Ruhe. Eine fremde Person …“
Gregor seufzte. „Streiten wir nicht, Titus. Sie kommt morgen und damit basta. Sie wird dich nicht stören. Theresa ist ein äußerst sanftmütiger Mensch.“
„Theresa heißt die Gute?“
„Theresa Chambers.“
„Engländerin?“
„Sie kommt aus den USA. Spricht aber hervorragend deutsch.“
Titus stellte den Suppenteller zur Seite. „Ich werde mir Mühe geben.“
„Mühe? Bei was?“
„Freundlich zu sein. Und jetzt schneide mir etwas von dem Braten ab. Am besten gleich zwei Scheiben. Lisa kocht hervorragend.“
Nach dem Essen holte Gregor die Kanne Kaffee, die auf der Kommode gestanden hatte. „Die gute Fee hat an alles gedacht. Setzen wir uns damit vor den Kamin. Du schaust übrigens müde aus.“
Titus unterdrückte ein Gähnen. „Die Fahrt war nicht gerade kurz.“ Er setzte sich in einen der beiden Lehnstühle, die Gregor vor den Kamin gerückt hatte.
Gregor legte Holz nach, bevor er in dem anderen Stuhl Platz nahm. Er betrachtete gedankenverloren die tanzenden Flammen. Schließlich richtete er seine Augen auf Titus. „Über sie hast du mir so gut wie gar nichts erzählt.“
Titus verkrampfte sich. Er beobachtete die Spiegelung der Flammen auf der Kaffeeoberfläche, während er sagte: „Was soll ich dir über sie erzählen? Sie inspirierte mich. In dem Zeitraum, in dem wir zusammen waren, schrieb ich zwei meiner besten Romane. Seit sie weg ist, bringe ich absolut nichts mehr zustande.“
„Sie ist einfach auf und davon?“
Titus nickte. „Ohne Grund. Ich wachte eines Morgens auf und sie war nicht mehr da. Keine Nachricht, kein Anruf, keine Email.“
„Eindeutig ein billiges Flittchen, das sich von seinen Liebhabern aushalten lässt.“
„Du musst es ja wissen.“
Gregor schenkte sich Kaffee nach. „So hört sich das für mich an. Du solltest ihr nicht nachtrauern.“
„Elvira Mohn war wie eine Droge.“
Gregor horchte auf. „Sagtest du soeben Mohn?“
„Ihr Nachname. Wieso?“
Sein Freund runzelte die Stirn. „Nur so. Ich kenne einen Wissenschaftler mit diesem Namen. Er ist … Wir sind das, was man schlechthin als Rivalen bezeichnet. Er zieht meine Artikel durch den Dreck und ich seine. Mohn versucht alles, um dahinter zu kommen, an was ich gerade forsche.“
Titus zuckte mit den Achseln. „Und wenn schon. Was hat er davon, wenn er es herausfindet?“
Gregor hob seinen Zeigefinger. „Eine ganze Menge, Titus. Er würde versuchen, mir Konkurrenz zu machen, indem er schnell irgendwelche Artikel über meine Forschungen veröffentlicht. Damit würde er meine Arbeit zunichte machen. Um es auf den Punkt zu bringen, er ist das, was man gemeinhin als Arschloch bezeichnet.“
„Und was ist so besonders an deiner derzeitigen Forschung? Ich meine, außer Männer dabei zu beobachten, wie sie Holzstämme durch den Ort schleppen.“
Gregor zog seine Mundwinkel auseinander und runzelte die Stirn. „Ich bin in einem alten Dokument auf eine sonderbare Spur gestoßen. Es handelt sich dabei um den Brief eines Gelehrten namens Theophilus Gotthelf aus dem 18. Jahrhundert. Auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa kam er eines Tages nach Tiefenfall. In seinem Brief erwähnt er eine rätselhafte Tradition, die im Zusammenhang mit etwas steht, dass im Volksmund als Wilde Jagd bekannt ist.“
Titus reichte ihm seine leere Tasse, damit Gregor sie nachfüllte. „So, so. Auch wenn dieser Begriff im Volksmund so heißt, habe ich trotzdem keine Ahnung, was es damit auf sich hat.“
Gregor griff nach der Kanne, die neben ihm auf einem Rauchertischchen stand. Während er nachschenkte, erklärte er: „Die Wilde Jagd ist reiner Aberglaube. Es soll sich dabei um ein Heer aus Monstern, Dämonen und Untoten handeln, die zwischen Weihnachten und Neujahr die Nächte unsicher machen. Diese Vorstellung ist in den Alpen nicht gerade unbekannt. Aber hier in Tiefenfall scheint sie eine ganz andere Dimension angenommen zu haben.“
„Das alles erwähnte er in dem Brief?“
„Er erwähnte eigentlich nur, dass er das Haus des Pfarrers besucht habe. Dieser besaß eine eigene Waffenkammer, die voll gestellt war mit Musketen, Schwertern, Sprengstoff und weiß der Teufel was noch. Gotthelf erstaunte diese Ansammlung von Waffen bei einem Pfarrer natürlich. Daher wollte er wissen, was das zu bedeuten habe. Der Pfarrer zögerte ein wenig. Er gab schließlich preis, dass Tiefenfall gelegentlich heimgesucht werde. Auf die Frage, wer oder was diesen Ort heimsuche, antwortete der Pfarrer lakonisch: ‚Die Wilde Jagd’.“
Titus nippte an seiner Tasse. „Ich nehme an, dieser Theophilus Gotthelf hielt den Pfarrer für unzurechnungsfähig?“
„Das weiß ich nicht. Mehr hat der gute Mann nicht notiert. Es gibt nur diese eine Stelle in seinen unzähligen Briefen. Keine ähnlichen Bemerkungen in seinen Tagebüchern. Nichts. Verwunderlich, nicht wahr?“
„Nur dann, wenn man dem Aberglauben der Bergleute skeptisch gegenübersteht.“
Gregor lachte laut auf. „Seit wann glaubst du an Spuk oder Hexerei?“
„Ich glaube an gar nichts. Daher bin ich für alles aufgeschlossen.“
„Ein interessantes Paradoxon. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Es gibt keinen einzigen Ort in den Alpen, in dem sich die Bewohner gegen die Wilde Jagd im wahrsten Sinne des Wortes wappnen. Es gibt natürlich gewisse Bräuche, mit denen sich die Bewohner versuchen zu schützen. Aber nicht mit Pistolen, Gewehren, Schwertern und dergleichen. Die Rituale sind dadurch gekennzeichnet, dass als Dämonen verkleidete Männer durch die Straßen ziehen und Häuser aufsuchen, um deren Bewohner vor dem Bösen zu schützen. In manchen Gegenden achtet man auch darauf, dass nach Sonnenuntergang keine Kinder mehr auf den Straßen spielen. Aber damit hat es sich. Im Grunde genommen ist es ein Spiel, eine Art Karneval oder Fasching. Keiner hortet irgendwo Waffen, um sich gegen diese Bedrohung zu schützen.“
Titus zeigte ein flüchtiges Grinsen. „Die Leute von hier sind eben Pragmatiker.“
„Oder etwas völlig Anderes steckt dahinter. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Der einzige Mann, der relativ aufgeschlossen mir gegenüber ist. Wahrscheinlich, weil er noch nicht lange die Gemeinde in diesem Ort leitet. Ich fragte ihn nach dieser Kammer. In der Tat zeigte er mir einen kleinen Raum, der ihm als Abstellkammer dient. Keine Waffen. Er lagert darin nur alte Kartons.“
„Wenn es nichts gibt, wieso hast du dann vorhin gemeint, es gebe zuviel zu untersuchen?“
„In der Kirche lagern alte Dokumente. Walter Dorn, der Pfarrer, hat sie sich noch nicht genau angesehen. Mir hat er jedoch erlaubt, die Schriften zu studieren. Auch hier in der Bibliothek gibt es ein paar Bücher, die für meine Arbeit wichtig sein könnten. Du siehst, ich stehe mit meinen Forschungen noch völlig am Anfang. Irgendetwas geht hier vor. Es kommt mir vor, als habe dieser Ort ein dunkles Geheimnis, das von seinen Bewohnern aufs strengste bewahrt wird. Wie gesagt, außer dem Pfarrer redet niemand mit mir. Und Dorn weiß so gut wie nichts über die Geschichte des Ortes.“
Titus und sein Freund saßen noch bis kurz vor Mitternacht am Kamin. Da Titus bereits ein paar Mal in seinem Stuhl beinahe eingeschlafen war, beschlossen sie, sich beim Frühstück weiter zu unterhalten.
Als Titus wieder sein Zimmer betrat, ließ er das Licht zunächst aus und ging zur Balkontür. Der Friedhof lag ruhig und vergessen inmitten der Winterlandschaft. Die Berge waren in der nächtlichen Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.
Er öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Die Kälte erfrischte ihn. Noch immer wehte ein Wind. Im gesamten Ort herrschte eine fast gespenstische Stille. Es gab nur ein einziges Geräusch, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein regelmäßiges Hämmern und Schlagen, so als wären mitten in der Nacht mehrere Zimmerleute am Werk.
Titus dachte an die großen Holzstämme. Gregor hatte wahrscheinlich Recht. Tiefenfall hatte ein Geheimnis.