Читать книгу Die Philosophie der Stoa - Maximilian Forschner - Страница 24
10. Komplexe Syllogismen
ОглавлениеDie Stoa unterscheidet zwischen einfachen und nicht-einfachen bzw. komplexen (peplegmenoi) Syllogismen. Komplexe Syllogismen müssen, da ihre Schlüssigkeit nicht prima facie evident ist, auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden. Eine semantische Prüfung bestünde in erster Linie darin zu untersuchen, ob ihre conclusio mit der Summe ihrer Prämissen vereinbar ist. Die Stoa entschied sich stattdessen für ein „syntaktisches Verfahren“, das dazu diente, die verborgene argumentative Struktur aufzudecken, die die Form einer Abfolge einfacher ‚indemonstrabler‘ Syllogismen bilden muss, um gültig zu sein.371 Die Stoa sprach dabei von Analyse (analysis).372 Die argumentative Verkettung komplexer Syllogismen bedarf der Auflösung; sie enthalten zwei oder mehr nicht-einfache Prämissen373 oder Argumente, in denen die conclusio sich nicht von einer der Prämissen unterscheidet (adiaphorōs perainontes).374 Die Themata bzw. Theoremata sind die Prinzipien bzw. Regeln, die eine solche Analyse komplexer Syllogismen leiten.375
Sextus referiert Beispiele der Auflösung komplexer Syllogismen in einfache, wobei er die komplexen in homogene und heterogene unterscheidet, homogen, weil sie aus gleichen, inhomogen, weil sie aus ungleichen ‚Indemonstrablen‘ zusammengesetzt sind.376 Sein erstes Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, dann: Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also ist es hell“.377 Hier sind, nach der Form des ersten ‚Indemonstrablen‘ zwei einfache Syllogismen zu einem komplexen verwoben; sie lassen sich durch Analyse folgendermaßen trennen und explizieren: (1): „Wenn es Tag ist, dann: Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also: Wenn es Tag ist, dann ist es hell“. Diese conclusio ist „der Möglichkeit nach (dynamei)“ im komplexen Argument erzielt, doch nicht explizit zum Ausdruck gebracht. In der Analyse wird dieser Schritt nachgeholt. Sie dient nun als leitende Prämisse eines folgenden einfachen Syllogismus: (2) „Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also ist es hell“.378 Hier wird der minor „Nun ist es Tag“ ergänzend explizit wiederholt, um zu der conclusio zu gelangen, die den komplexen Syllogismus abschließt. Der komplexe Syllogismus ist in zwei einfache (derselben Form) aufgelöst, und zwar, wie Sextus erklärt, entsprechend dem „dialektischen Theorem (theōrēma dialektikon)“: „Wenn wir die Prämissen haben, die einen Schluss ermöglichen, dann haben wir der Möglichkeit nach auch diesen Schluss, auch wenn er nicht explizit gesagt wird“.379
Für einen inhomogenen komplexen Syllogismus wählt Sextus als Beispiel ein Argument, das der Skeptiker Aenesidemus gegen die Zeichen vorgebracht hat: „Wenn die sinnlich erfahrbaren Gegenstände (ta phainomena) allen gleich Disponierten gleich erscheinen und die Zeichen (ta sēmeîa) sinnlich erfahrbare Gegenstände sind, dann erscheinen die Zeichen allen gleich Disponierten gleich. Nun erscheinen die sinnlich erfahrbaren Gegenstände allen gleich Disponierten gleich. Die Zeichen aber erscheinen nicht allen gleich Disponierten gleich. Nicht also sind die Zeichen sinnlich erfahrbare Gegenstände“.380 Das komplexe Argument besteht aus dem zweiten und dem dritten ‚Indemonstrablen‘. Dies lässt sich nach Sextus am besten zeigen, wenn man die Analyse „an Hand des Modus (epi toû tropou)“ vornimmt. Der komplexe Syllogismus sieht unaufgelöst dann so aus: „Wenn das Erste und das Zweite, dann das Dritte. Nun aber nicht das Dritte. Vielmehr das Erste. Also nicht das Zweite“.381 Seine Auflösung in zwei einfache Syllogismen ergibt: (1) „Wenn das Erste und das Zweite, dann das Dritte. Nun aber nicht das Dritte. Also nicht: das Erste und das Zweite. (2) Nicht: das Erste und das Zweite. Nun aber das Erste. Also nicht das Zweite“. Die Auflösung erfolgt auf genau die gleiche Weise wie im ersten homogenen Beispiel.
Die von Sextus angeführten Beispiele sind vergleichsweise einfach aufzulösen. Ungleich komplexer ist ein von Cicero überliefertes Argument, durch das Chrysipp, Diogenes von Babylon und Antipater von Tarsus die Existenz der Weissagung (divinatio) zu beweisen versucht haben:382 „Wenn es Götter gibt und sie den Menschen nicht im Voraus ankündigen, was kommen wird, sind sie den Menschen entweder nicht zugetan oder sie wissen (selbst) nicht, was kommen wird; oder sie sind der Meinung, es sei für die Menschen nicht von Bedeutung zu wissen, was kommen wird; oder sie halten es mit ihrer Würde für unvereinbar, den Menschen im Voraus anzuzeigen, was kommen wird; oder die Götter sind selbst nicht in der Lage dies anzuzeigen. Doch weder lieben die Götter uns nicht (sind sie doch die Wohltäter und Freunde des Menschengeschlechts) noch sind sie in Unkenntnis über das, was sie selbst entschieden und angewiesen haben; noch ist es für uns ohne Bedeutung zu wissen, was kommen wird (wir sind nämlich dann bedachtsamer, wenn wir es wissen); noch halten sie dies mit ihrer Hoheit für unvereinbar (gibt es doch nichts Großartigeres als Güte); noch sind sie nicht in der Lage, Künftiges im Voraus zu erkennen. Nicht also gibt es Götter und kündigen nicht Kommendes an. Es gibt aber Götter. Sie zeigen also die Zukunft an. Und es ist nicht so, dass sie, wenn sie sie anzeigen, uns keine Mittel und Wege geben zur Erkenntnis des Angezeigten (sonst wären nämlich ihre Hinweise unsinnig); noch ist es so, dass es, wenn sie uns diese Mittel geben, keine Weissagung gibt. Es gibt also die Weissagung.“
So komplex dieses Argument auch ist; es lässt sich nach demselben Verfahren in einfache Syllogismen auflösen wie die beiden von Sextus angeführten. Die in Klammern gesetzten Parenthesen dienen der Stützung der Prämissen eines Syllogismus; sie können hier bei der Darstellung der Argumentstruktur außer Betracht bleiben. Das gesamte komplexe Argument hat ‚nach dem Modus‘ folgende Struktur: „Wenn das Erste und nicht das Zweite, dann entweder das Dritte oder das Vierte oder das Fünfte oder das Sechste oder das Siebte. Nun aber nicht das Dritte, nicht das Vierte, nicht das Fünfte, nicht das Sechste und nicht das Siebte. Aber nicht: das Erste und nicht das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite. Wenn das Zweite, dann nicht: nicht das Achte. Wenn das Achte, dann nicht: nicht das Neunte. Also das Neunte.“ Die Auflösung des Arguments in eine Kette einfacher Syllogismen sieht so aus: „(1) Wenn das Erste und nicht das Zweite, dann entweder das Dritte oder das Vierte oder das Fünfte oder das Sechste oder das Siebte. Nun aber nicht das Dritte, nicht das Vierte, nicht das Fünfte, nicht das Sechste, nicht das Siebte. Also nicht: Das Erste und nicht das Zweite. (2) Nicht: Das Erste und nicht das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite. (3) Wenn das Zweite, dann nicht: nicht das Achte. Nun aber das Zweite. Also das Achte. (4) Wenn das Achte, dann nicht: nicht das Neunte. Nun aber das Achte. Also das Neunte“.383 Die wesentlichen Schritte der Auflösung bestehen zum einen darin, die conclusio aus zwei Prämissen explizit zu ziehen, wo dies nicht explizit geschieht, und zum anderen darin, diese conclusio mit der folgenden Prämisse zu verbinden, um wiederum zur folgenden conclusio zu gelangen, bis schließlich die conclusio des gesamten komplexen Syllogismus erreicht ist. Denn die Verkettung zu einem komplexen Syllogismus entsteht ja dadurch, dass eine Aussage, die die conclusio eines ersten Schlusses und zugleich die Prämisse eines zweiten Schlusses ist, nicht genannt wird, weil sie „der Möglichkeit nach (dynamei)“ durch die Prämissen des ersten Schlusses als bereits gegeben behandelt wird.384
Nun hat Chrysipp vier Themata zur Analyse komplexer Syllogismen benützt.385 Die Überlieferung bezüglich dieser Themata ist äußerst spärlich. Was sie besagten, bedarf spekulativer Rekonstruktion.386 Das ‚dialektische Theorem‘ des Sextus ist eine Kettenschlussregel. Es ist, soweit man sieht, mit keinem der vier chrysippschen Themata identisch, könnte allerdings in seiner Funktion das zweite, dritte und vierte Thema Chrysipps ersetzt haben.387
Das erste Thema (thema) ist (in lateinischer Version) bei Apuleius überliefert; es handelt sich um eine Schlusskonversionsregel: „Wenn aus zwei Aussagen eine dritte folgt, dann folgt aus einer der beiden Aussagen in Verbindung mit dem kontradiktorischen Gegenteil der Folgerung das kontradiktorische Gegenteil der anderen Aussage“.388 Falls die drei anderen Themata dieselbe Funktion hatten wie das ‚dialektische Theorem‘, dann könnte man für Chrysipp dieselbe Methode unterstellen wie jene, die bei Sextus Anwendung findet.389 Nun ist uns nur das dritte stoische Thema überliefert, von Simplicius und Alexander von Aphrodisias, und zwar in voneinander abweichender Version. Bei Simplicius lautet es: „Wenn aus zwei (Aussagen) eine dritte folgt und aus der einen (sc. der dritten), die folgt, zusammen mit einer anderen, externen Annahme eine andere folgt, dann folgt diese andere aus den ersten beiden und der zusätzlichen externen Prämisse“.390 Die Version von Alexander lautet: „Wenn aus zwei (Aussagen) eine dritte folgt, und externe Annahmen eine der beiden (Prämissen) erschließen, dann folgt dieselbe (sc. die dritte) aus der anderen (Prämisse) und den externen Annahmen, die die eine (Prämisse) erschließen“.391 Die beiden Versionen weichen in logisch relevanten Punkten voneinander ab.392 Nach Alexander ist die Anzahl der Prämissen auf drei beschränkt; bei Simplicius bleibt sie unbestimmt. Bei Simplicius scheint die dritte Prämisse aus einer proslēpsis, d.h. einer einfachen Aussage zu bestehen; die Version von Alexander gibt dazu keinen sprachlichen Hinweis.393 Es könnte sein, dass sich die Version Alexanders der Anpassung der stoischen Regel an seinen peripatetischen Diskussionskontext verdankt.394 Für das zweite und das vierte Thema lässt uns die Überlieferung im Stich. Alexander von Aphrodisias meint, das zweite, das dritte und das vierte Thema seien nichts weiter als Spezifikationen eines ‚synthetischen Theorems‘, das (auf Aristoteles zurückgehe) und lautet: „Wenn eine bestimmte Aussage aus bestimmten anderen erschlossen wird, und wenn die erschlossene Aussage, zusammen mit einer oder mehreren anderen, eine conclusio erschließt, dann erschließen die Aussagen, die jene zur Folge hat, in Verbindung mit dieser oder diesen anderen, die diese zur Folge haben, dieselbe Aussage“.395 Wie dem auch sei: Diese Regeln beschreiben jedenfalls die Art und Weise, wie eine conclusio indirekt aus bestimmten Prämissen und aus diesen zu ziehenden Konklusionen folgt, ohne dass diese Konklusionen explizit gemacht sind. Sie laufen im Verein auf das hinaus, was das dialektische Theorem zum Ausdruck bringt.396