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12. Die Fähigkeit der Erkenntnis

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Die Stoa behandelte erkenntnistheoretische Fragen (nicht nur, aber auch) im Rahmen der Logik. Nach dem Diokles-Fragment bei Diogenes Laertius war es sogar allgemeine stoische Praxis, den Logiktraktat mit der Theorie der Erkenntnis, näherhin mit der Behandlung des Eindrucks, der Begriffsbildung und des Kriteriums zu beginnen.407 Doch dies mag das Zeugnis einer späteren Schulentwicklung sein. Sie diskutierte jedenfalls diese Themen über die gesamte Zeit ihrer Schulgeschichte in Auseinandersetzung mit Herausforderungen der (akademischen und pyrrhonischen) Skepsis. Fragen nach dem Wesen von Wissen, nach der Möglichkeit, der Genese und den Kriterien von Erkenntnis beherrschten die Diskussion. Die Antworten, die die Stoa gab, ja ihre Philosophie im Ganzen galten der Skepsis als ‚dogmatisch‘, da sie die Möglichkeit von Erkenntnis vehement gegen skeptische Einwände verteidigte. Dabei vertrat sie einerseits ein ‚normalsinniges‘ Verständnis der Leistungsfähigkeit von sinnlicher Wahrnehmung (aisthēsis), die jedermann offensteht, andererseits einen ungemein anspruchsvollen ‚holistischen‘ Begriff von Wissen (epistēmē), dem im Vollsinn des Wortes nur der Weise zu genügen vermag. Was im Einzelnen als veritable Erkenntnis zu gelten hat, muss eingebettet sein in ein umfassendes System wahrer, sich gegenseitig stützender und erhellender Überzeugungen über die Welt und den Menschen in ihr. Charakterisierungen ihrer Theorie als empiristisch408 oder rationalistisch409 greifen etwas zu kurz.410 Sowohl die Wahrnehmung bzw. Erfahrung als auch die Vernunft spielen eine konstitutive Rolle im stoischen Bau der Erkenntnis. Ähnlich verkürzend und missverständlich ist die (übliche) Kennzeichnung der Theorie als „physikalistisch“ oder „naturalistisch“. Gewiss versteht die Stoa sämtliche Akte menschlichen Erkennens als physikalische Ereignisse. Doch ebenso gewiss ist, dass für sie die Inhalte des Erkennens und ihr Zusammenhang nicht über eine ‚physiologische‘ Kausalgeschichte beschreibbar und erklärbar sind. Die Grundüberzeugung, die die stoische Theorie der Erkenntnis trägt, ist metaphysischer bzw. teleologischer Art: Die göttliche Natur hat den Menschen so eingerichtet, dass er zu Erkenntnissen befähigt ist, die ihm ein genuin menschliches und individuell gelingendes Leben zu führen ermöglichen.

Die stoische Theorie der Erkenntnis ist verwoben mit ihrer Theorie der menschlichen Seele bzw. ihrer Theorie des Geistes. Als Seelenstoff galt ihr, im Anschluss an naturwissenschaftlich-medizinische Vorstellungen der Zeit, das materiell-gasförmig gedachte Pneuma, das in einem Lebewesen dessen gesamtes körperliches Substrat in vollkommener Mischung durchdringt. Das seelische Gebilde ist organisch gegliedert und hierarchisch strukturiert. Man unterschied sieben Teile der menschlichen Seele und ein leitendes Zentrum (das hēgemonikon). Den ‚Teilen‘ sind bestimmte Kräfte bzw. Funktionen und leibliche Organe zugeordnet. Genannt werden die fünf Sinne, die Stimme und die Zeugungskraft.411 Das leitende Zentrum, das sich der Teile als Instrumente bedient, wird (nicht im Kopf, sondern) in der menschlichen Brust, im Herzen verortet. Es wird als logos bzw. dianoia bezeichnet und über die Sprachfähigkeit charakterisiert. Es bestimmt das gesamte seelische Leben des Menschen. Es ist, epistemologisch gesehen, das Rezeptions-, Koordinations-, Kontroll- und Interpretationszentrum aller Informationen. Es zeichnet für alle kognitiven Leistungen des Menschen, ja für all seine (unwillkürlichen) Eindrücke bzw. Vorstellungen, für alle propositionalen Einstellungen und Akte verantwortlich (to poioūn tas phantasias kai synkatatheseis kai aisthēseis kai hormas).412 Nach einem Zeugnis des Calcidius hat Chrysipp diese umfassende und durchdringende Rolle des „leitenden Organs“ in Beziehung zu den anderen Teilen der Seele auch mit dem Stand und den Aktivitäten einer Spinne in ihrem Netz verglichen.413

Die Grundbegriffe der stoischen Erkenntnistheorie sind aisthēsis (Wahrnehmung), phantasia (Eindruck/Vorstellung), phantasia katalēptikē (ein Begreifen ermöglichender Eindruck), prolēpsis (Vorbegriff), ennoia (Begriff), dianoia (Verstand), noēsis (Gedanke), synkatathesis (Zustimmung), katalēpsis (Erfassen/Begreifen), doxa (Meinung) und epistēmē (Erkenntnis/Wissen).

Es ist schwierig, das mit dem Wort ‚phantasia‘ Gemeinte ins Deutsche zu übersetzen. Englische Texte geben es abwechselnd mit ‚impression‘ (‚Eindruck‘) und ‚presentation‘ bzw. ‚representation‘ (‚Vorstellung‘) wieder; Bächli/Graeser414 sprechen durchgängig von ‚Erscheinung‘. Das Wort bezeichnet ein Vorkommnis im Leben eines Lebewesens, in dem in diesem etwas aufscheint, sich zeigt, zu ‚erkennen‘ gibt, zur Darstellung bringt bzw. etwas vorgestellt wird. Steine und Pflanzen können nicht Subjekte von phantasiai sein. Nur in Tieren, Menschen (und Göttern) wird die Welt über phantasiai ‚licht‘, scheinen die Dinge, Vorkommnisse und Sachverhalte auf; nur Tiere, Menschen und Götter werden über phantasiai der Dinge und ihrer selbst inne. Die Stoiker selbst haben die Bedeutung des Wortes über die Metaphorik des Lichts erklärt: „Das Wort ‚phantasia‘ ist abgeleitet von ‚Licht (phôs)‘. Denn so wie das Licht sich selbst und all das, was es umgibt, aufzeigt, so zeigt auch die phantasia sich selbst und seine sie bewirkende Ursache (to pepoiēkos auto) auf “.415

In der Regel bezeichnet ‚phantasia‘ das mentale Vorkommnis, das durch die Affektion und Aktivität eines oder mehrerer Sinnesorgane im Subjekt hervorgerufen wird. Doch mit ‚phantasiai‘ können (beim Menschen) auch Eindrücke/Vorstellungen gemeint sein, „die man durch den Verstand (dianoia) wie solche von Unkörperlichem und von den übrigen durch den sprachfähigen Geist (logos) erfassten Dingen empfängt“.416

Phantasiai haben einen Inhalt, haben intentionale Struktur: Sie stellen etwas vor.417 Dies kann etwas sein, was in der Welt da ist bzw. der Fall ist (hyparchei) und die Vorstellung bewirkt (to poioûn tēn phantasian). Es kann sich aber auch um ein reines Phantasieprodukt (dokēsis dianoias) wie im Fall von Träumen oder ‚verrückten‘ Anfällen des Geistes handeln. Dann ist statt von phantasia von einem phantasma die Rede.418 Entsprechend wird, was ihren Gegenstand betrifft, zwischen dem phantaston der phantasia und dem phantastikon eines phantasma unterschieden.419

Zur erklärenden Beschreibung von phantasia bedienten sie sich neben der Metaphorik des Lichts (wie wir auch heute noch) der Metaphorik des Eindrucks. Es heißt, „die phantasia sei ein Eindruck in der Seele (tēn de phantasian eînai typōsin en psychê)“.420 Dabei haben Zenon und Kleanthes offensichtlich die Rede vom Eindruck etwas zu wörtlich genommen und den mentalen Sachverhalt mit dem Eindruck eines Siegelrings in Wachs verglichen. Nach Chrysipp werde dieses Bild nicht der Beschreibung der Funktion des Geistes bei der Vielzahl verschiedenartiger gleichzeitiger (und kontinuierlich sich ablösender) Eindrücke gerecht. Er hat deshalb den Terminus typōsis durch alloiōsis bzw. heteroiōsis (Veränderung, Modifikation) ersetzt und ein neues Bild bemüht: Wie die Luft, wenn viele Menschen gleichzeitig sprechen, unzählig verschiedene Eindrücke aufnimmt und zugleich vielen Veränderungen unterliegt, so widerfährt dem hēgemonikon bei vielfachen Eindrücken Ähnliches.421 Nun besitzt der hochgenerelle Begriff der Veränderung zwar kaum noch einen positiven Erklärungswert.422 Doch man sollte bedenken, dass wir auch heute beim (vielleicht vergeblichen) Versuch der Erklärung des Zusammenhangs von physischem Prozess und mentalem Gehalt eines Eindrucks nicht allzu viel weitergekommen sind. Ob man Chrysipps Korrektur, der der Komplexität des Sachverhalts Rechnung trägt, als einen Wechsel vom indirekten (ein vermittelndes Abbild des extramentalen Objekts in der Seele bemühenden) Realismus zum direkten (das Objekt unmittelbar erfassend behauptenden) Realismus in der stoischen Analyse der (Ontologie der) Wahrnehmung verstehen kann, scheint zweifelhaft. Klar ist, dass für Zenon und Kleanthes in der Wahrnehmung kein direkter, sondern ein indirekter Bezug zum extramentalen Objekt über die phantasia besteht, und genau dies der Skepsis die Angriffsfläche bot.423 Reed meint, Chrysipp gebe den repräsentativen Charakter der phantasia auf und kennzeichne sie nur noch in kausalen Begriffen: Welche Veränderung auch immer im physikalischen Prozess der Wahrnehmung vor sich geht, sie ermögliche nach Chrysipp dem Subjekt, etwa einen weißen Gegenstand zu sehen und zu sagen, dass es dort einen weißen Gegenstand sehe.424 Dagegen spricht, dass die Stoa genuin menschliche phantasiai allemal als logikai phantasiai bestimmt, und dies so erklärt, dass ihr Gehalt in sprachlicher Form sich ausdrücken lässt:425 Die phantasia selbst hat einen repräsentativen Inhalt, sie ermöglicht dem Subjekt der Wahrnehmung nicht nur, etwas Inhaltliches (direkt) zu fassen und zum Ausdruck zu bringen.

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