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14. Erkenntnis und Meinung
ОглавлениеSeit ihrem Beginn vertritt die Stoa epistemologisch einen vierstufigen Aufbau des Wissens: phantasia – synkatathesis – katalēpsis – epistēmē. Zenon pflegte die Struktur durch vier Handgesten zu veranschaulichen: Die rechte Hand mit ausgestreckten Fingern entspreche der Vorstellung/dem Eindruck (phantasia, visum), die Krümmung der Finger nach innen der Zustimmung (synkatathesis, adsensio, adprobatio), ihr Ballen zur Faust dem Erfassen/Begreifen (katalēpsis, perceptio, conprehensio) und das (feste) Umfassen der geballten Faust mit der linken Hand der Erkenntnis (epistēmē, scientia).473 Die Form des Zusammenhangs der Strukturelemente findet ihren markantesten Ausdruck in der Chrysippschen Definition des ‚Erfassens‘ von etwas: Erfassen (κatalēpsis) ist die Zustimmung (synkatathesis) zu einer erkenntnishaften Vorstellung (phantasia katalēptikē).474 Die (sc. sinnliche) phantasia ist von außen induziert; das Zustimmen liegt bei uns (adsensio – in nostra potestate sita).475 Dem erkenntnishaften, d.h. klaren und deutlichen Eindruck gibt der Geist spontan und unausweichlich nach (non potest obiectam rem perspicuam non adprobare).476 Erfassen (katalēpsis) ist für die Stoa also ein Erfolgsprädikat: Wer etwas erfasst, trifft das Wahre.
Die Zustimmung erfolgt indessen häufig, mangels Bildung und aus Schwäche des Geistes,477 zu nicht-kataleptischen, d.h. unklaren bzw. ungenauen oder täuschenden bzw. falschen Eindrücken.478 Eine solche Zustimmung bedeutet kein Erfassen, sondern erzeugt generell das, was die Stoa unter einer Meinung (doxa) versteht. Sie gilt ihr als voreilig, wenn die Vorstellung zwar wahr, aber ungenau, sie gilt ihr als irrig, wenn sie falsch ist.479 Alles Meinen, selbst die im Einzelnen treffende katalēpsis des Nichtweisen ist ein Akt der Unwissenheit (agnoia).480 Das mag paradox klingen, erklärt sich indessen aus dem holistischen Verständnis von Wissen. Zu einer Erkenntnis im eigentlichen Sinn (epistēmē) ist nur der Weise in der Lage. Sie ist bestimmt als sicheres, beständiges und durch kein (Gegen-)argument erschütterbares Erfassen (von etwas).481 Der Weise hat keine Meinungen. Er verfügt über eine feste Disposition (hexis), nur ‚kataleptischen‘ Vorstellungen zuzustimmen. Seine sämtlich korrekten Überzeugungen bilden ein durch und durch stimmiges ‚System‘.482
Gewiss, auch der Nichtweise „erfasst“ bestimmte Sachverhalte; auch er hat gelegentlich klare und deutliche Eindrücke und Vorstellungen, denen er selbstverständlich zustimmt. Die katalēpsis ist schließlich Weisen und Nichtweisen gemeinsam.483 Sie steht, für sich betrachtet, zwischen bloßer Meinung und Wissen. Sie eröffnet dem Nichtweisen ja auch über die immer sorgfältigere Prüfung seiner phantasiai und die immer stärkere Kontrolle seiner Zustimmung die Möglichkeit, sich schrittweise dem Status eines Weisen zu nähern. Doch solange er diesen Status nicht erreicht hat, ist er subjektiv zu mehr als bloßen Meinungen kognitiv nicht befähigt. Denn seine Zustimmung selbst zu kataleptischen Vorstellungen bleibt schwach (synkatathesis asthenēs), da sie sich bei ihm allemal noch im Zusammenhang und Gefolge voreiliger und irriger Meinungen befindet und damit durch Gegenargumente angreifbar und erschütterbar erweist.484 Die Schwäche seiner Zustimmung depraviert sein (sc. korrektes) Erfassen von etwas zur bloßen (wahren) Meinung und damit zu einem Fall von Nichtwissen.485
Nur ‚kataleptische‘ Eindrücke/Vorstellungen sind glaubwürdig. Epistemisch grundlegend sind sinnliche ‚kataleptische‘ Eindrücke. Doch dies besagt nicht, dass ‚kataleptische‘ Eindrücke immer sinnliche Eindrücke sein müssen. In gewisser Weise gilt der Stoa der menschliche Geist ja selbst als Sinn. Und selbstverständlich können für ihn auch die Eindrücke abstrakter Gedanken (etwa mathematischer Art) schlagend und evident sein.486 Die Stoa war überzeugt davon, dass die göttliche Natur den Menschen nicht fehlkonstruiert, sondern so ausgestattet hat, dass er ein gutes Leben zu führen imstande ist. Sie war zudem im geistigen Gefolge des Sokrates davon überzeugt, dass der Mensch Wissen benötigt von dem, was für ihn wahrhaft gut ist, um ein gutes Leben zu führen. Sie musste also einen Leitfaden namhaft machen, den Natur uns zur Verfügung gestellt hat, der uns den Weg zum Wissen weist und vor Irrtum zu schützen vermag. Den Anker dieses Leitfadens bieten ihr die ‚kataleptischen‘ Eindrücke, die sie so gedacht hat, dass sie nicht falsch sein können und sich von allen nichtkataleptischen Eindrücken unterscheiden lassen.487 Es ist allerdings nur der Weise, der sie stets als solche identifiziert.
Wie Epikur und der Epikureismus488 sprach sie von ‚Kriterien‘ der Wahrheit im Sinne von Instrumenten der Entdeckung elementarer Wahrheiten, die die Grundlagen veritabler Erkenntnis liefern.489 Dabei galt ihr (zumal im Kontext der Auseinandersetzung mit der Skepsis) der erfassende, erkenntnisermöglichende, klare und deutliche Eindruck, die phantasia katalēptikē als ‚das‘ Kriterium.490 Doch ein Bericht des Diogenes Laertius belegt, dass sie in ihr (im Lauf ihrer Geschichte) nicht das einzige Mittel zur Sicherung von Erkenntnis sah: „Sie sagen, Kriterium der Wahrheit sei der erfassende Eindruck (katalēpsis), d.h. der, welcher dem entspringt, was (der Fall) ist (tēn apo hyparchontos), wie Chrysipp im 12. Buch seiner Physik, sowie Antipater und Apollodor erklären. Boethos hingegen benennt mehrere Kriterien: Geist (noûs) und Wahrnehmung (aisthēsis) und Streben (orexis) und Erkenntnis (epistēmē). Chrysipp erklärt im Widerspruch zu sich selbst im ersten Buch Über Vernunft, Wahrnehmung (aisthēsis) und Vorbegriff (prolēpsis) seien Kriterien. Ist doch der Vorbegriff eine naturwüchsig-gedankliche Vorstellung der Dinge im Ganzen (physikē ennoia tôn katholou). Andere der älteren Stoiker machen die rechte Vernunft (ton orthon logon) zum Kriterium, wie Poseidonios in seinem Buch Über das Kriterium sagt“.491 Was hier wie verwirrende Vielfalt oder gar Selbstwiderspruch erscheint, lässt sich durch den Wechsel der Perspektive erklären, je nachdem, ob man einzelne konstitutive Schritte, Bausteine und Faktoren, oder das gesamte Konstrukt von veritabler Erkenntnis ins Auge fasst. Letztlich ist es seine rechte Vernunft (orthos logos), die beim Weisen auch den untrüglichen Sinn dafür umfasst, welche Eindrücke erkenntnishaft-erfassend sind und welche nicht.492 Es möchte allerdings auch sein, dass Boethos bzw. die mittlere Stoa unter peripatetischem Einfluss die Kriterienliste im Blick auf den Erwerb von Erkenntnis nichtweiser Menschen erweitert hat.493
Die Auseinandersetzung mit der Skepsis macht sich freilich an der Frage fest, ob es, wie die Stoiker behaupten, tatsächlich erkenntnishafte, erfassende Eindrücke (phantasiai kataleptikai) gibt, und ob sie sich von nicht-kataleptischen Eindrücken eindeutig unterscheiden lassen. Derartige ‚kataleptische‘ Eindrücke müssten als Basis dessen, was wir wissen müssen, auch Eindrücke umfassen, die unser Streben auszulösen (hormētikai phantasiai) und das Handeln im Blick auf ein gutes Leben hinreichend zu orientieren vermögen.494 ‚Kataleptischen‘ Eindrücken stimmten wir von selbst zu. Die Ablehnung eindeutig falscher und die konsequente Zustimmungsenthaltung bei unklaren und undeutlichen Eindrücken ermöglichte uns dann, irrtumsfrei und gut zu leben.
‚Kataleptische‘ Eindrücke sind, so die Stoa, eine Gabe der Natur.495 Doch sie haben zu können, hängt von den äußeren Umständen und der mentalen Verfassung des ihnen begegnenden Subjektes ab. Wer etwa einen ‚kataleptischen‘ visuellen Eindruck eines realen Objektes gewinnen möchte, muss wach und bei Verstand sein, sich seiner Sehkraft versichern, dem Gegenstand sich entsprechend nähern, die günstigen Lichtverhältnisse prüfen, alles Entgegenstehende und Behindernde beseitigen etc.496 Es sind dies Erfordernisse der „Natürlichkeit“ und „Normalität“ der Entstehung eines Eindrucks, die seine „Unverzerrtheit“ gewährleisten. Eine schulmäßige Liste dieser Bedingungen ist überliefert: „Damit nach ihnen ein (sc. adäquater) Wahrnehmungseindruck, etwa des Sehens, entsteht, müssen fünf Faktoren auf passende Weise zusammenspielen: das Sinnesorgan, das Sinnesobjekt, der Ort, das Wie (des Sehens) und der Verstand“.497 Sind die entsprechenden Bedingungen erfüllt, dann ergibt sich dem Normalsinnigen ein Eindruck, der für sich selbst die Gewähr bietet (a) von einem wirklichen Objekt zu stammen, und (b), dieses Objekt (in seinen generischen und individuellen Eigenschaften) klar und deutlich zu repräsentieren.498 Sextus spricht so, als würde (nach stoischer Lehre) ein kataleptischer Eindruck alle Merkmale eines Objekts in exakter Weise beinhalten.499 Cicero dagegen erklärt, er würde alle und nur jene Merkmale des Objekts enthalten, die in den Bereich des Sinnes fallen, der den Eindruck vermittelt.500 Verwechslungen mit Wahn- und Traumeindrücken ebenso wie falsche Identifikationen und Subsumptionen sind jedenfalls ausgeschlossen. Eine spätere einschränkende Bestimmung, der ‚kataleptische‘ Eindruck sei das Kriterium des Wahren, „vorausgesetzt, ihm stehe kein Hindernis entgegen“,501 beruht wohl auf einem Missverständnis: Ein kataleptischer Eindruck kommt bei gegebenem Hindernis erst gar nicht zustande.502 Zenon, so Cicero,503 habe nur jenen Eindrücken Glaubwürdigkeit zugesprochen, die eine gewisse ihnen eigene, von allen anderen Eindrücken unterschiedene Bekundungskraft (propriam quandam declarationem) bezüglich der Dinge besäßen, die erfahren würden.504 Diese ausgezeichnete Bekundungskraft wird in den Texten in der Regel mit den Ausdrücken „klar (tranēs)“ und „deutlich (ektypos)“505, „schlagend (plēktikos)“, „anschaulich (enargēs)“506 bzw. „offensichtlich (evidens, perspicuus)“507 gekennzeichnet. Sie kommt nach Zenons Definition eben jenen und nur jenen Eindrücken zu, die „so von dem eingedrückt und abgebildet sind, von dem sie stammen, wie sie es von dem, von dem sie nicht stammen, nicht sein könnten“.508 Zenon versuchte mit dieser letzten Bestimmung offensichtlich, den skeptischen Einwurf zurückzuweisen, es könnte falsche Eindrücke geben, die sich von wahren, klaren und distinkten nicht unterscheiden ließen, was schließlich nach skeptischer Sicht das Kriterium im Ganzen entwerten würde.509 Tatsächlich habe Arkesilaos, so Cicero, zeigen wollen, dass kein Eindruck „so vom Wahren sei, dass er nicht in gleicher Weise auch vom Falschen sein könne“. Und dies sei der einzige Streitpunkt, der bis heute nicht beigelegt sei.510 Der andauernde Streit scheint sich einerseits auf den Punkt der vermeintlich unhintergehbaren Subjektivität (und damit Fallibilität) der Evidenzerfahrung und andererseits auf den Gedanken objektiver (und damit ununterscheidbarer) Zwillingsphänomene konzentriert zu haben.511
Die Stoa hat in diesem Streit gegenüber der Skepsis auf einem Begriff objektiver Evidenz beharrt: Er trifft nach ihrer Sicht nur auf ‚kataleptische‘ Eindrücke zu. Sie und nur sie weisen diesen Charakter auf; und es ist möglich zu lernen, sie von allen nicht-kataleptischen Eindrücken zu unterscheiden.512 ‚Ausgelernt‘ hat bezüglich dieser Unterscheidungsfähigkeit freilich nur der Weise. Die Beispielfälle subjektiver täuschender Evidenz aus Trunkenheit oder mentaler Verdrehtheit, in der Lage des Traums oder Wahns etc., die Wahres für falsch und Falsches für wahr vorspiegelt, versuchte sie wohl, durch den Verweis auf normalsinnige genaue Erfahrung und ihre objektiven Entstehungsbedingungen zu neutralisieren.513 Heute würden wir (bei Wahrnehmungsurteilen) natürlich auch noch die Möglichkeit intersubjektiver Bestätigung und Kontrolle mit ins Spiel bringen.
Das Problem liegt anders bei Zwillingsobjekten. Die Stoa vertrat das ontologische principium identitatis indiscernibilium, nach dem es keine zwei numerisch verschiedene, in allem sich gleichende Dinge geben könne.514 Sie musste allerdings dem Umstand Rechnung tragen, dass auch dem Normalsinnigen unter adäquaten Erfahrungsbedingungen scheinbar klar und deutlich kaum unterscheidbare, deshalb in ihrem Eindruck möglicherweise täuschende Objekte begegnen können.515 Sie empfiehlt hier zunächst Urteilsenthaltung, behauptet die prinzipielle Unterscheidbarkeit und betont die Fähigkeit Erfahrener, Fachkundiger und mit den betreffenden Dingen eminent Vertrauter (etwa der Mütter von eineiigen Zwillingen), das normalerweise gleich Erscheinende, gleichwohl individuelle Merkmale Aufweisende zweifelsfrei unterscheiden zu können.516
Obgleich die Stoa einen ungemein anspruchsvollen Begriff von Erkenntnis vertrat, setzte sie gegen alle philosophische Skepsis auf den ‚gesunden‘ Menschenverstand im Vertrauen auf die Weisheit und Fürsorge der Allnatur, die den Menschen kognitiv so ausgerüstet habe, dass er zur Erkenntnis all dessen befähigt ist, was er zu einer guten Lebensführung braucht. Erkenntnis zu besitzen, ist das Merkmal des Weisen. Für sich selbst haben die Häupter der Stoa nicht beansprucht, das Ziel der Weisheit erreicht zu haben.517 In ihrer Selbstbeurteilung trugen sie dem Anliegen skeptischer Bescheidung also durchaus Rechnung. Doch dass wir Menschen grundsätzlich zu Erkenntnis und Weisheit zu gelangen in der Lage sind, daran hielten sie gegen alle Einwände fest.
1 DL VII, 39 = SVF I, 45; II, 37 = FDS 1; Ps.-Plutarch Placita I, 874 E = SVF II, 35 = FDS 15; Stoic. rep. 1035 A; SE AM VII, 16 = SVF II, 38.
2 vgl. Hadot 1991b, 205–219; Ierodiakonou 1993a, 57–74.
3 vgl. SE AM VII, 16; Cicero De fin. IV, 3 = FDS 252.
4 vgl. Cicero De fin. IV, 4; M. Frede 1974, 24; Gourinat 2000, 22f.
5 vgl. SVF II, 49 = FDS 28.
6 vgl. SE AM VII, 17–19.
7 1935, 111–131.
8 SE AM II, 6–7 = FDS 35.
9 vgl. DL VII, 41–44.
10 DL VII, 42.
11 vgl. FDS 43.
12 Plutarch Stoic. rep. 28. 1047 A = SVF II, 297.
13 DL VII, 41–44.
14 vgl. DL VII, 18; SVF III Diog. 125; Imbert 1975, 647.
15 vgl. FDS 46.
16 vgl. FDS 50.