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13. Wahrnehmung und Begriff
ОглавлениеVon Wahrnehmung (aisthēsis) ist bei den Stoikern nach doxographischem Bericht426 in unterschiedlicher Bedeutung die Rede: Zum einen ist das Seelensubstrat (to pneûma) gemeint, das sich vom Zentralorgan zu den Sinnen erstreckt, zum anderen das Erfassen von etwas durch die Sinne (hē di’ autôn katalēpsis), dann die Ausstattung mit Sinnen (hē peri ta aisthētēria kataskeuē), und schließlich deren Aktivität (hē energeia). Diese ist so gedacht, dass sie im Zentralorgan eine phantasia erzeugt, die ihre Ursache enthüllt.427 Wie das geschieht, deutet die Metapher des „Eindrucks“ (typōsis) an: Wohl so, dass die ‚Modifikation‘ des pneûma der Seele hinreichend Merkmale des Objekts reproduziert, das sie hervorrief und das hēgemonikon befähigt, durch sie das Objekt zu erfassen. Chrysipp hat offensichtlich ein krudes Abbildverständnis zurückgewiesen. Doch die im Wahrnehmungsprozess erzeugte phantasia soll jedenfalls repräsentativen Charakter haben und (auf welche Weise auch immer) als Analogon des externen Objekts fungieren.428
Nicht alle Wahrnehmungsprozesse führen indessen zum adäquaten ‚Erfassen‘ eines Objekts. Phantasiai können traum- bzw. wahnhaft, sie können täuschend oder ungenau sein. Nur eine erkenntnishafte, eine ‚kataleptische‘ Vorstellung (phantasia katalēptikē) ist auf klare und distinkte Weise repräsentativ, ermöglicht ein völlig korrektes Erfassen des Objekts. Sie ist bestimmt als eine solche, die (a) von etwas Vorliegendem (apo hyparchontos) verursacht ist bzw. stammt, die (b) eben diesem Vorliegenden gemäß eingeschrieben und eingedrückt ist (kat’ auto to hyparchon enapomemagmenē kai enapesphragismenē), und zwar (c) so, wie es von etwas Nichtvorliegendem nicht sein könnte (hopoia ouk an genoito apo mē hyparchontos).429 Mit ‚to hyparchon‘ kann sowohl das, was wahrnehmbar existiert, als auch das, was tatsächlich der Fall ist, gemeint sein.430 Durch die ersten beiden Bestimmungen sollen Traum- bzw. Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen ausgeschlossen sein; die dritte Bestimmung ist ein Nachtrag im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Skepsis. Ihre Bedeutung, wenn sie denn über eine bloße Explikation bzw. Verstärkung des zuvor Gesagten hinausgeht, wird in der Forschung spekulativ und kontrovers diskutiert.431 Es spricht manches dafür, dass das apo mē hyparchontos nicht kausal, sondern repräsentativ gemeint ist und die Bestimmung demnach besagt, dass die phantasia katalēptikē einen bestehenden Sachverhalt so klar und deutlich darstellt, wie sie es nicht könnte, wenn der Sachverhalt nicht bestünde (so Sedley). Dies würde dem Umstand gerecht, dass die phantasia katalēptikē eben nicht nur Objekte der Wahrnehmung, sondern ganz allgemein etwas, was der Fall ist auf klare und distinkte Weise vorstellen kann.
Es gibt, so das bei Diogenes Laertius zitierte lapidare Referat des Diokles von Magnesia, phantasiai, die seien logikai, und andere, die seien alogoi. Logikai seien die der sprachfähigen Lebewesen (hai tôn logikôn zōōn), alogoi die der nichtsprachfähigen Wesen. Die phantasiai sprachfähiger Wesen seien (sämtlich) Vorkommnisse des Geistes (noēseis).432 Dies besagt: Alle Vorstellungen sprachfähiger Wesen, auch die auf ‚bloßer‘ Wahrnehmungsebene, sind nach stoischer Lehre bereits begrifflichsprachlich strukturiert und lassen sich in sprachlicher Form, über Prädikate und Sätze zum Ausdruck bringen; jeder Eindruck eines sprachfähigen Wesens ist konzeptualisiert und hat propositionalen Gehalt, ist ein Eindruck, dass…433 Und natürlich nimmt jemand, der auf einem bestimmten Gebiet fachkundig und entsprechend sprachlich versiert ist, die Dinge dieses Gebiets anders (eben fachkundig) wahr, als ein Laie; seine diesbezüglichen phantasiai sind technikai.434 Es gibt Grade der sprachlichen Durchdringung und des sprachlich artikulierbaren Gehalts von Wahrnehmungen.435
Was die Entwicklung der Sprachfähigkeit beim Menschen betrifft, so scheinen die Stoiker auf gleicher Linie wie die Epikureer gedacht zu haben.436 Ursprünglich gleiche das hēgemonikon des Menschen einem unbeschriebenen Blatt Papier. In dieses werde jede einzelne begriffliche Vorstellung (mia hekastē tôn ennoiôn) eingeschrieben. Dies beginne durch die Wahrnehmungen. Denn wenn wir etwas, sagen wir Weißes wahrnehmen, hätten wir, wenn es weg ist, eine Erinnerung. Wenn viele gleichartige Erinnerungen entstehen, dann hätten wir Erfahrung (empeiria). Erfahrung sei nichts weiter als „die Menge gleichartiger phantasiai“.437 Der Gehalt solcher Erfahrung drücke sich der zur Sprache befähigten Seele ein als eine Allgemeinvorstellung (ennoēma), der allerdings nichts Allgemeines als genuines Objekt in der Welt entspricht. Sie sei so gesehen lediglich ein phantasma dianoias.438 Die Entwicklung des Verstandes (logos, dianoia) ist gekennzeichnet durch den Erwerb eines Vorrats durch Erfahrung gewonnener Allgemeinbegriffe (ennoiai bzw. prolēpseis).439 Die Sprach- und Vernunftfähigkeit eines Menschen nimmt schrittweise zu und reift mit dem Stock solcher Begriffe im Alter von etwa 14 Jahren.440 Sie bilden die Basis allen Wissens in Wissenschaft, Kunst, Weisheit und tugendhaftem Verhalten.441
Mündige Menschen haben Eindrücke, deren Inhalt ihrer Natur nach propositional ist. Ob nach stoischer Auffassung auch tierische und kleinstkindliche Wahrnehmung propositionale Form besitzt bzw. besitzen kann, ist umstritten. Die generelle Bestimmung von Wahrnehmung als ein Widerfahrnis (pathos), das im Subjekt auf sich selbst und auf seine Ursache verweist,442 gibt zu verstehen, dass tierische Wahrnehmung Selbstwahrnehmung mentaler Zustände und ein Bewusstsein kausaler Relationen einschließt. Andererseits betont die Stoa allemal mit Nachdruck, dass Tiere und Kleinstkinder den Gehalt ihrer Wahrnehmung nicht in Form von Sätzen artikulieren und ausdrücken können.443
Die Stoa wollte, jedenfalls seit Chrysipp444 zwischen Begriff (ennoia) und Vorbegriff (prolēpsis) genau unterschieden wissen. Vorbegriffe sind eine besondere Art von Begriffen, und zwar jene, die nicht absichtlich und geplant bzw. im Rahmen von und im Blick auf fachkundiges Wissen (anepitechnētikôs), durch unsere eigene Lehre und Aufmerksamkeit (di’hēmeteras didaskalias kai epimeleias) gebildet sind, sondern, auf der Basis erkenntnishafter, ‚kataleptischer‘ Wahrnehmungseindrücke, auf natürliche Weise (physikôs) entstehen.445 Dies setzt voraus, dass auch die Unterscheidung von ‚kataleptischen‘ und nicht-kataleptischen Eindrücken auf elementarer Ebene „natürlich (physikôs)“ erfolgt. Bei Diogenes Laertius findet sich die definitionsartige Formel: „Der Vorbegriff ist der natürliche Begriff der Dinge im Ganzen (ennoia physikē tôn katholou)“.446 Mit „im Ganzen“ sind die generellen Merkmale einer Sache gemeint. Es geht also um naturwüchsige, über kausale Mechanismen entstehende allgemeine bzw. abstrakte Vorstellungen. Die Kennzeichnung ihrer Bildung als „natürlich“, „ohne Fachkunde“, „ohne Sorgfalt“, „ohne Belehrung“ besagt wohl, dass diese Prozesse sich weitgehend unbewusst und ohne jede kulturelle Deformation vollziehen.447 Sie sind so gesehen authentisch; mit ihnen treffen wir Wahres (und nicht durch ‚zivilisatorische‘ Interessen und ungesicherte bzw. falsche Meinungen Verzerrtes). Nach Diogenes Laertius habe Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift Peri logou Wahrnehmung (aisthēsis) und Vorbegriff (prolēpsis) als Kriterien der Wahrheit genannt.448 Für den die Prolepsis kennzeichnenden Ausdruck „natürlich (physikos)“ können auch die Ausdrücke „mitgewachsen (symphytos)“ oder „eingewachsen (emphytos)“ stehen.449 Gemeint sind damit von der Stoa sicher nicht eingeborene Begriffe im cartesianischen Sinn, sondern Muster ‚instinktiver‘ zielgerichteter Aktions- und Reaktionsweisen, die auf unbewusst-kognitiven Leistungen beruhen. Vergleichbares kann man wohl bereits bei Tieren unterstellen.450 Sie zeigen jedenfalls auch und vor allem an, dass der Mensch von Natur dispositional auf den Erwerb von Begriffen ausgerichtet ist, die die zu ihm passende Lebensführung ermöglichen.451 Schließlich ist bei Alexander von Aphrodisias davon die Rede, dass wir nach Chrysipp von der Natur gemeinsame Begriffe (koinai ennoiai) als Kriterien der Wahrheit erhielten.452 Ein Teil der Vorbegriffe ist diesem Zeugnis entsprechend nach Chrysipp allen Menschen gemeinsam. Andere sind, so wäre der Gedanke wohl zu ergänzen, abhängig von den Besonderheiten der natürlichen Umwelt, in der ein Mensch aufwächst; und die gemeinsamen jedenfalls dienten als Kriterium treffender Erkenntnis.
Vorbegriffe (grundlegender natürlicher Arten und moralischer Eigenschaften) entstehen nach unseren Texten aus der Erinnerung gleichförmiger Wahrnehmungseindrücke. Solche Eindrücke beziehen sich auf Einzelnes. Die Erinnerung bewahrt das dem gleichförmig Einzelnen Gemeinsame auf und fasst es als ‚Erfahrung‘ im Vorbegriff zusammen.453 Vorbegriffe ermöglichen es dem mündig Werdenden, in Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteilen Einzelnes als Fall eines Allgemeinen zu erfassen. Der Ausdruck ‚ennoia‘ zeigt an, dass der Vorbegriff als Begriff eine Leistung des menschlichen Geistes (noûs) ist. Man nenne diese Leistungen Begriffe (ennoiai), wenn sie gespeichert (enapokeimenas), man nenne sie Gedanken (dianoēseis), wenn sie (in der einzelnen Wahrnehmung) aktiviert sind.454
Vorbegriffe entstehen aufgrund natürlicher ‚Mechanismen‘ unseres Geistes. Was alles für die Stoa unter solchen ‚Mechanismen‘ zu verstehen ist und was sie leisten, ist in den Quellen nur spärlich und uneindeutig belegt. Ciceros Lucullus unterscheidet zwischen dem, „was mit den Sinnen erfasst wird“ und dem, „was der Geist mit den Sinnen erfasst und begreift“. Letzteres gliedert er in Schritte, von singulären deiktischen Sätzen mit elementaren Wahrnehmungsprädikaten: „Dies ist weiß, süß, wohlklingend, wohlriechend, rauh“, über deiktische Sätze mit komplexeren Prädikaten: „Dies ist ein Pferd, dies ein Hund“, bis hin zur konditional formulierten abstrakten Definition des Menschen: „Wenn etwas Mensch ist, ist es ein sterbliches, der Vernunft teilhaftiges Sinnenwesen“.455
Nach anderen Quellen456 fallen auch der Begriff von Gott bzw. von Göttern, sowie die Begriffe des Guten, Schönen, Gerechten und Frommen unter die Vorbegriffe (prolēpseis), bzw. natürlichen Begriffe (physikai ennoiai) bzw. gemeinsamen Begriffe (koinai ennoiai). Bei Diogenes Laertius ist z.B. davon die Rede, dass „etwas Gerechtes und Gutes auf natürliche Weise gedanklich erfasst wird (physikôs noeîtai)“.457 Der Inhalt eines Vorbegriffs ist im Übrigen seiner logischen Form nach als eine (definitionsartige) Aussage zu verstehen: „Das Gute ist Nutzen oder nichts anderes als Nutzen“;458 „Gott ist ein seliges, unsterbliches, fürsorgliches, den Menschen wohltätiges Wesen“.459 Dies besagt wohl: Die Vorbegriffe implizieren (jedenfalls im Umriss) die Definitionen der entsprechenden Eigenschaften ihres Objekts. Die Entwicklung einer expliziten Definition ist dann Sache verfeinernder bzw. läuternder, fachkundig reflektierender Zergliederung (diarthrōsis) des Vorbegriffs. So stellen es jedenfalls Cicero und später Epiktet dar.460 Die Oikeiosis-Lehre (siehe unten S. 163–177) etwa macht klar, wie aus dem Vorbegriff des Guten („Das Gute ist Nutzen“461 der reflektierte Begriff des Guten entsteht.462
Ob, wie Dyson glaubt nachweisen zu können, Chrysipp unter den koinai ennoiai nur die fachkundig zergliederten Vorbegriffe verstanden wissen wollte, sei dahingestellt. Die Vorbegriffe, von Chrysipp auch als physikai ennoiai bezeichnet, wären nach seinem Verständnis dann als Kriterien der Wahrheit im Alltag und die koinai ennoiai für Aussagen in Wissenschaft und Philosophie gedacht.463 Wenn Plutarch, Sextus und Alexander von Aphrodisias das stoische Verständnis von prolēpseis und koinai ennoia im Sinn allgemein verbreiteter, vortheoretischer Begriffe bzw. Meinungen darstellen, so verdanke sich dies einem polemischen Diskussionskontext, der auf vielleicht absichtlichem Missverständnis beruht.464 Waren diese Kritiker doch bestrebt, Kerndogmen der stoischen Philosophie als paradox darzustellen, obgleich diese für sich beanspruche, auf natürlichen und allgemein akzeptierten Vorstellungen zu basieren.
Diogenes Laertius verdanken wir ein kurzes, mit Beispielen unterlegtes Referat über das, was die Stoa alles an verschiedenen Operationen des Geistes beim Denken von Objekten bzw. der Bildung von Begriffen ins Auge fasste.465 Zeitlich und sachlich primär ist danach, dass die Dinge uns über die Sinne unmittelbar begegnen und beeindrucken; sie werden in der Wahrnehmung gemäß dem, was begegnet, gedacht (kata periptōsin). Auf der Basis sinnlicher Eindrücke vergegenwärtigen wir uns imaginativ bzw. ‚gedanklich‘ ferner Reales und Fiktionales über bildhafte Darstellungen, über Operationen der Zusammensetzung (synthesis), Umstellung (metathesis), Entgegensetzung (enantiōsis) und Entfernung (sterēsis), der Vergrößerung (auxēsis) und Verkleinerung (meiōsis) von Merkmalen, der Analogisierung (kat’analogian), und schließlich der Abstraktion (kata sterēsin) und Transgression (kata metabasin). An Sokrates denken wir anhand eines Bildes von ihm, einen Pygmäen stellt man sich durch die Operation der gedanklichen Verkleinerung der Menschen normaler Größe vor, einen Kentaur durch eine Kombination von Mensch und Pferd, den Tod durch Antithese zum (erlebten) Leben, den Erdmittelpunkt in Analogie zum Zentrum kleinerer (wahrnehmbarer) Kugeln, das Sagbare durch Abstraktion vom physischen Lautgebilde und den Ort durch Abstraktion vom Körperlichen, das ihn einnimmt.
Der Text ist in mehrfacher Hinsicht unklar: Er unterscheidet nicht präzise zwischen Operationen des bildhaften Sich-Vorstellens-von-etwas und der Bildung eines abstrakten Begriffs-von-etwas.466 Und er sagt uns nichts über die Art der Beziehung von naturwüchsig-assoziativer und reflektiert-sachkundiger Begriffsbildung. Es ist schließlich kaum zu entscheiden, ob der Stoa die genannten Operationen der Imaginierung und Konzeptualisierung (jedenfalls zum Teil) sowohl bei der natürlichen und weitgehend unbewussten als auch bei der bewussten, geplanten und reflektierten Begriffsbildung im Spiel befindlich gelten.467
Ciceros Lucullus betont468 die Kunstfertigkeit, mit der die Allnatur jedes Sinnenwesen, auch den Menschen ausgestattet habe: Der menschliche Geist (mens) sei die Quelle der Sinne und selbst ein Sinn. Er gebrauche die Eindrücke teils unmittelbar, teils lege er sie zurück, woraus das Gedächtnis (memoria) entstehe. Die übrigen Eindrücke stelle er nach Ähnlichkeiten zusammen, woraus die (begrifflichen) Kenntnisse der Dinge (notitiae rerum) bewirkt würden, die die Griechen bald ennoiai, bald prolēpseis nennen würden. Wenn dann die Vernunft (ratio) und das schlussfolgernde Denken (argumenti conclusio) und die Menge unzähliger Dinge hinzukämen, dann trete das begreifende Erfassen (perceptio) all dieser Dinge in Erscheinung, und eben diese Vernunft gelange, über die genannten Stufen vollkommen (geworden), zur Weisheit.
Ciceros Text setzt mit dem Auftreten der Vernunft eine deutliche Zäsur. Die Vorbegriffe entstehen ihr vorgängig in einem naturalen, kausal-teleologischen Prozess aufgrund der Zusammenstellung von gleichartigen sinnlichen Eindrücken.469 Wie die Vorbegriffe von Gott und dem Guten und Gerechten auf solch elementare und natural-kausale Weise sich bilden (können), wird hier nicht weiter erklärt. Doch man muss beachten, dass für die Stoiker alle Züge von Wirklichem (d.h. Körperlichem), auch die ästhetischen und moralischen, in den Bereich des Wahrnehmbaren fallen.470 So lernen wir, wahrzunehmen, dass etwas schön oder schlecht oder gerecht ist eben so, wie wir lernen, wahrzunehmen, dass es weiß oder rau oder trocken etc. ist. Und wie wir lernen, wahrzunehmen, dass etwas ein Baum, ein Fluss, ein Stern etc. ist, so lernen wir wahrzunehmen, dass etwas göttlich ist. Für ein erfahrenes Auge sieht nach stoischem Verständnis ein tugendhafter Mensch eben entschieden anders aus als ein lasterhafter.471
Berücksichtigt man indessen, was die stoische Theologie in Form von Gottesbeweisen und die stoische Ethik in Form präziser Distinktionen, Definitionen und Schlüsse zu sagen hatte, so ist klar, dass die Stoa zwischen einem naturwüchsigen Begriff und dem entsprechenden philosophisch reflektierten und verfeinerten Begriff von etwas genau unterschieden wissen wollte. Und zudem gilt es zu beachten, dass die Stoa evidente, erkenntniskonstituierende Vorstellungen (phantasiai katalēptikai) sowohl durch die Wahrnehmung, als auch durch den Verstand vermittelt in Ansatz brachte. Bei Diogenes Laertius472 etwa ist davon die Rede, dass nach den Stoikern das Erfassen (katalēpsis) von Weißem, Schwarzem, Rauem und Weichem durch die Wahrnehmung (aisthēsei), das Erfassen der Konklusionen von Beweisen aber, z.B. dass es Götter gebe und dass sie fürsorglich planen, durch den Verstand (logō) erfolge.