Читать книгу KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen - Maya Schneebeli - Страница 14
1.2 Das klinische Bild des Asperger-Syndroms
ОглавлениеDie besonderen Verhaltensmerkmale von Menschen mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum führen zu Einschränkungen und Beeinträchtigungen im alltäglichen Umgang und im Zusammenleben mit ihren Mitmenschen. Kinder mit Asperger-Syndrom werden zwar früh von den Eltern und weiteren Bezugspersonen – gerade auch im Vergleich zu möglicherweise vorhandenen Geschwisterkindern – als »anders« erlebt, fallen aber meist erst beim Eintritt in eine feste soziale Gruppe auf, also in einer Spielgruppe, dem Kindergarten oder der Schule. Zuvor war jedoch das Spielverhalten meist schon qualitativ auffällig, da Imitations-, Rollen- und Phantasiespiele oftmals fehlten. In der Kleinkindzeit dominieren Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation zum Beispiel bei Veränderungen oder Neuem, dominantes Spiel- und Interaktionsverhalten, eine auffällige Spielentwicklung mit eher sich wiederholenden und unflexiblen Spiel- und Interessenmustern und wenig Rollen- und Phantasiespiel sowie »ungezogene« Verhaltensweisen, welche soziale Konventionen verletzen. Manchmal entwickeln sich auch erst in der mittleren Kindheit als problematisch erlebte Verhaltensweisen, wenn die Komplexität der sozialen Interaktionen und der organisatorischen Anforderungen in der Schule zunimmt.
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken trotz ihres sozialen Interesses, das sich immer wieder neben den Phasen des Rückzugs zeigt, sehr auf sich bezogen, wenig an partnerschaftlichem Austausch interessiert sowie oft unempathisch, emotional wenig schwingungsfähig und dadurch gefühlskalt. Sie suchen weniger geteilte Aufmerksamkeit und stellen seltener geteilte Freude her. Die impliziten und meist subtilen Regeln (z. B. Teilen) und Konventionen (z. B. Grüßen) des sozialen Zusammenlebens verstehen sie oft nicht und verhalten sich dementsprechend so, dass sie als unsozial, egoistisch oder schlecht erzogen erlebt werden.
Diese Kinder verfügen nicht über das notwenige Verhaltensrepertoire, um mit anderen entsprechend den gegebenen Konventionen zu interagieren. Gemäß der Studie von Knott et al. (2006) nehmen Kinder mit Asperger-Syndrom und High-Functioning-Autismus ihre sozialen Schwächen durchaus wahr: Im Schnitt schätzen sie ihre sozialen Fertigkeiten (z. B. Umgang mit Gruppen, Affektregulation) und Kompetenzen (z. B. Entwicklung von Freundschaften) signifikant tiefer ein (eine Standardabweichung) als die gleichaltrige Kontrollgruppe. Die Eltern schätzen die sozialen Möglichkeiten sogar noch tiefer ein (fast zwei Standardabweichungen unter dem Mittel der Kontrollgruppe), sie stimmen jedoch mit den Kindern darin überein, in welchen Bereichen die Schwierigkeiten liegen.
Dieser Mangel an sozialen Fertigkeiten verhindert, dass die Betroffenen zeitgerecht bestimmte Meilensteine der kindlichen Entwicklung bewältigen und befriedigende familiäre Beziehungen und Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen können. Im Vergleich zu Gleichaltrigen haben Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom in der Folge weniger Freunde (Koning und Magill-Evans 2001). Aufgrund ihrer geringeren sozialen Responsivität sind sie in Gruppen, die sich nicht primär über ein gemeinsames Interesse definieren, oft nicht integriert und nehmen eine Außenseiterposition ein: Sie werden durch Gleichaltrige und Geschwister sozial ausgegrenzt und geschnitten, geschlagen und geplagt oder sogar gemobbt (Little 2001). Attwood (2018) zeigt auf, dass Kinder mit Asperger-Syndrom sowohl wegen ihrer passiven, zurückgezogenen, unsicheren Art als auch ihrer aktiven, dominierenden, sozial ungeschickten Verhaltensweise von anderen Kindern eingeschüchtert und tyrannisiert werden. Das Risiko wird dadurch erhöht, dass sie unstrukturierte, freie Zeiten (z. B. Pausen) oft alleine verbringen, über einen geringen sozialen Status verfügen und sich kaum zu wehren wissen (Attwood 2018.). Kinder mit Asperger-Syndrom fühlen sich einsamer (Bauminger und Kasari 2000), verfügen oft über ein unreifes oder ungewöhnliches Konzept von Freundschaft (Botroff et al. 1995, zit. n. Attwood 2000) und erleben Freundschaften als weniger unterstützend (Bauminger und Kasari 2000).
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken kommunikativ unbeholfen, indem sie Gespräche nicht angemessen beginnen, aufrechterhalten und beenden. Das etwas oberflächliche soziale Plaudern zur Festigung des Kontakts oder zur Überbrückung gemeinsam verbrachter Zeit (Small Talk) fehlt oft. Gespräche verlaufen meist nach einem von zwei Mustern: Entweder ergibt sich ein eher starrer Wechsel von Fragen und unkommentierten Antworten oder der Betroffene beginnt über ein ihm wichtiges Thema zu monologisieren, ohne Kommentare, Fragen oder Hinweise des Gegenübers hinsichtlich eines geringen Interesses am Gesprächsgegenstand ausreichend zu beachten. Schnell können sich im Gespräch Missverständnisse ergeben, da die Betroffenen weniger zwischen den Zeilen lesen und daher das Gemeinte nicht aus dem faktisch Formulierten ableiten können. Unbeabsichtigt können sie verletzende Bemerkungen machen, da sie sich zu wenig bewusst sind, wie das Gesagte vom Gegenüber aufgenommen wird. Sie zeigen wenig Körpersprache oder eine übertriebene, was sich auch in einer eher flachen Mimik oder im Grimassieren ausdrückt, und sie verstehen nonverbale Signale nicht als Hinweis, wie eine Aussage zu interpretieren ist. Subtile Zeichen werden meist nicht verstanden. Ihre Formulierungen wirken oft nicht altersgemäß, mal zu altklug, dann wieder zu naiv. Ihre Stimme ist meist wenig moduliert, zeigt wenig Betonungen oder andere Rhythmisierungen und kann auch zu laut oder zu leise sein.
Sobald die besonderen Interessengebiete der Menschen mit Asperger-Syndrom in das Gespräch einfließen, werden ihr großes Wissen und ihre diesbezügliche Konzentrationsfähigkeit deutlich. Dieses Wissen ist eher lexikalischer, sachlicher und oft technischer Natur und ignoriert manchmal die Einbindung in größere Zusammenhänge. Die Betroffenen zeigen eine hohe Motivation, sich damit auch auf Kosten von sozialen Aktivitäten zu beschäftigen. Schon in jungen Jahren kann ein hinsichtlich der kognitiven als auch sozialen Komponenten auffälliges Spielverhalten beobachtet werden (z. B. kein Imitations-, Rollen-, Phantasie- oder Gruppenspiel).
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken oft bis in das Erwachsenenalter motorisch ungeschickt und gestalten motorische Tätigkeiten unökonomisch. Sie haben Mühe, sich auf Neues, Unerwartetes einzulassen und reagieren entsprechend unflexibel bei Veränderungen von Abläufen oder geplanten Aktivitäten, bei spontanen Ideen, wie auch auf jahreszeitlich bedingte Veränderungen (z. B. Kleiderwechsel). Manche zeigen sensorische Überempfindlichkeiten vor allem gegenüber Geräuschen, aber auch Gerüchen und Geschmacksempfindungen, Helligkeit oder bestimmten Berührungen zum Beispiel durch Kleider. Jugendliche schenken einer angemessenen Körperpflege häufig wenig Beachtung.
Menschen mit Asperger-Syndrom sind schneller als andere und leicht zu irritieren und verfügen manchmal über eine ungenügende Emotionsregulation, sodass für Außenstehende ganz unerwartet heftige emotionale Ausbrüche zu beobachten sind. Bereits im Kindesalter erleben Menschen mit Asperger-Syndrom ihre Andersartigkeit. Aufgrund ihrer reduzierten Fähigkeit zum Perspektivenwechsel attribuieren sie die Ursache jedoch lange dem Gegenüber und nicht dem eigenen Verhalten (»Die anderen sind ganz anders.«). Bis hinein in das Jugendalter haben sie oft nur ein begrenztes Verständnis für den eigenen Anteil an den sozialen Schwierigkeiten, da auch die Introspektionsfähigkeit aufgrund der mangelnden Theory of Mind ( Kap. 1.5.1) weniger gut entwickelt ist. Zudem wollen viele gerade in der Pubertät nur ja nicht auffallen und sich nicht von den anderen Jugendlichen unterscheiden. Dadurch ist die Veränderungsmotivation oft stark eingeschränkt und wird erst gegen Ende des Jugendalters oder im jungen Erwachsenenalter größer, was auch Auswirkungen auf die Therapieplanung hat.
Das klinische Erscheinungsbild der Mädchen mit Asperger-Syndrom unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von demjenigen der Jungen, was die Diagnose oft erschwert. Mädchen gehen mit ihren Schwierigkeiten und ihrem erlebten Anderssein anders um. Sie ahmen andere nach oder kopieren sie sogar bis in die Körpersprache hinein, passen sich so stark an, dass sie kaum mehr eine eigene Meinung zu haben scheinen, und fügen sich fast bis zur Unsichtbarkeit in eine Gruppe ein. Oft suchen sie sich eine gute Freundin, welche sie durch ihr Vorbild und ihre Solidarität an sozialen Stolpersteinen vorbeiführt. Somit fallen sie in sozialen Situationen weniger auf und werden seltener als störende Problemkinder wahrgenommen. Mädchen mit Autismus zeigen mehr So-tun-als-ob- und Phantasiespiel als Jungen und unterscheiden sich darin kaum von nicht betroffenen Mädchen (Knickmeyer et al. 2008). Ihre Spezialinteressen sind oft sozialerer und weniger technischer Art: In Phantasiespielen mit Tieren und Puppen spielen sie (erlebte) soziale Situationen exzessiv nach, um sie zu verstehen und einzuüben. Anhand von Geschichten und Vorabend-Fernsehserien versuchen sie intuitiv, ihr soziales Verständnis zu trainieren.
Menschen mit Asperger-Syndrom weisen viele Stärken auf, welche sich aber oft nicht in denselben Situationen wie ihre Schwächen zeigen. »Menschen mit Asperger-Syndrom sind, aufgrund der beschriebenen Entwicklung, aber auch sehr loyal anderen gegenüber, sie lügen oder täuschen andere Menschen nicht. Sie sind zuverlässig und halten sich auch verlässlich an einmal akzeptierte Regeln. Sie sind unvoreingenommen anderen Menschen gegenüber und betrachten andere Menschen ohne Vorurteile. Sie machen sich nicht abhängig von Moden oder Meinungen anderer und sagen offen und ohne Scheu, was sie denken. Dabei sprechen sie in einer eindeutigen, unzweideutigen Sprache und verfügen in vielen Bereichen über einen großen Wortschatz. Sie haben Spaß an ungewöhnlichen Wortbildungen und Wortspielen. In speziellen Wissensbereichen verfügen sie über ein bewundernswertes Wissen, dass sie gerne und ausführlich preisgeben« (Remschmidt et al. 2006, S. 76). Oft sind es dieselben Verhaltensmerkmale, welche je nach Betrachtungsweise und Situation wie die Kehrseite einer Münze mal eine Stärke und mal eine Schwäche darstellen. So kann der sorgfältige Blick für Details zum Verlust des Gesamtüberblicks führen, aber auch zum Erkennen von wesentlichen Unterschieden, oder die sachliche Kommunikation verhindert zwar das Heraushören kommunikativer Zwischentöne, führt aber zu einem transparenten Austausch, bei dem alle Beteiligten wissen, woran sie sind.
Eine Übersicht zu den gängigen diagnostischen Instrumenten, eingeteilt nach kategorialen Skalen (Screening-Fragebogen, Beobachtungsskalen, Interviews), dimensionalen Fragebogen, Selbstbeurteilungsbogen sowie Skalen zur Verlaufs- und Förderdiagnostik, aber auch spezifischen Skalen zum Asperger-Syndrom, findet sich in Bölte (2010).