Читать книгу KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen - Maya Schneebeli - Страница 17
1.5 Ätiologie der Autismus-Spektrum-Störungen
ОглавлениеFür das Asperger-Syndrom ist die Erkenntnislage zu den Ursachen deutlich schlechter als für den Frühkindlichen Autismus, da es erst spät in den 1980er-Jahren in das Forschungsinteresse gerückt ist. Gemäß den aktuellen Forschungsbefunden werden aber dieselben Faktoren für das ganze autistische Spektrum diskutiert.
Die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen weisen eine mehrdimensionale Ätiologie mit einem Schwerpunkt bei biologischen Faktoren (Remschmidt et al. 2006; Poustka et al. 2008) auf, wofür der frühe Störungsbeginn, die hohe Verhaltenskonkordanz bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen, die hohe Komorbidität mit einer Intelligenzminderung, die hohe Rate neurologischer Auffälligkeiten und neuropsychologischer Funktionsstörungen ( Kap. 1.5.1) sowie die Assoziation mit bekannten genetischen Erkrankungen ( Kap. 1.3) sprechen. Mehr als 90% der Betroffenen weisen keine organische Störung auf, die das autistische Störungsbild erklären kann, und die Erkrankung ist vermutlich genetisch bedingt (Fombonne 2005), was vor allem auch für das Asperger-Syndrom gilt. Die aktuellen Befunde und offenen Fragen in diesem Forschungsgebiet diskutieren Freitag (2007, 2010) und Skuse (2010) in ihren Übersichtsarbeiten.
Die wenigen Familien- und Zwillingsstudien zum Asperger-Syndrom verweisen deutlich auf eine familiäre Häufung des Syndroms sowie einzelner autistischer Verhaltensweisen (broader autism phenotype), wie die Übersichten von Skuse (2010) und Freitag (2010) zeigen. Die These des Broader Autism Phenotype besagt, dass sich autistische Verhaltensweisen und die dahinter liegenden Prozesse der Informationsverarbeitung sowie genetische Befunde auch in einem Teil der nicht klinisch auffälligen Normalbevölkerung auf einem Kontinuum finden. Da diese auch durchaus Vorteile mit sich bringen, setzen sie sich weiterhin genetisch durch. Die Forschung konzentriert sich aktuell auf molekulargenetische Kopplungs- und Assoziationsstudien (Freitag 2007, 2010).
Das Asperger-Syndrom ist eine zerebrale Störung. Die genetischen Veränderungen führen zu einem veränderten Aufbau und veränderten Funktionen, wofür sowohl strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten in bestimmten Hirnregionen als auch biochemische Anomalien sprechen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen der Temporallappen und das limbische System, mit einem Schwerpunkt auf der Funktion der Amygdala. Auch bei den Funktionen des Frontallappens wurden Auffälligkeiten entdeckt, wie sie für Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen typisch sind. Es gibt zudem Hinweise auf Besonderheiten der Sinneswahrnehmung und damit einhergehend einer gestörten Informationsverarbeitung. Seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise, dass der Mensch wie andere Primaten über ein sogenanntes Spiegelneuronensystem verfügt, das für das Verständnis von Handlungen wie auch für Imitation und Empathie bedeutsam sein könnte. Greimel et al. (2009) geben eine Übersicht über die aktuellen Befunde.
Baron-Cohen (2006) verfolgt eine These, die genetische und neuropsychologische sowie -anatomische Ansätze verbindet: Autistische Menschen interpretieren Wahrgenommenes weniger mit dem Empathising System, welches mit der Amygdala, dem orbitalen und medialen frontalen Kortex sowie dem superioren temporalen Sulcus zusammenhängt. Sie aktivieren eher das Systemising System, welches nach wiederkehrenden Mustern und Regeln im wahrgenommenen Geschehen sucht, um eine Aussage über das Kommende zu machen. Baron-Cohen stellt die Hypothese der Hyper-Systematisierung (hyper-systemizing theory) auf, wonach autistische Menschen Informationen auf einem zu hohen Systematisierungsniveau verarbeiten, und sich somit verschiedene Symptome (z. B. Rigidität, Spezialinteressen) erklären lassen. Seine Studien zeigen, dass sich diese hohe Ausprägung des Systematisierungsniveaus auch in der Verwandtschaft von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung findet, was wiederum auf die These des Weiteren autistischen Phänotyps (broader autism phenotype) verweist. Kinder mit Asperger-Syndrom haben öfter Mütter und Väter, welche Systematisierer sind. Somit schließt Baron-Cohen auf eine Vererbung des hohen Systematisierungsgrades, welcher unter anderem zur autistischen Symptomatik führen kann.
In Bezug auf die These der schwachen zentralen Kohärenz (weak coherence) beziehungsweise der detailorientieren Verarbeitung (local processing) stellen Happé und Frith (2006) ähnliche Überlegungen an ( Kap. 1.5.1). Auch diese Autoren haben bei klinisch unauffälligen Eltern autistischer Menschen vermehrt einen detailorientierten Verarbeitungsstil gefunden (Happè et al. 2001), was ebenfalls für das Vorhandensein eines Broader Autism Phenotype spricht.
In geringerem Umfang spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle (Poustka et al. 2008; Dawson 2008): Der Einfluss von Toxinen (z. B. Umweltgifte, Pestizide) und Viren (z. B. Masern, Röteln, Mumps), intrauterine Umweltfaktoren (z. B. Grippeerkrankungen) und eine erhöhte Hormonkonzentration im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsbehandlungen, aber auch ein Zusammenhang mit Autoimmunerkrankungen stehen zur Debatte (Dawson 2008). Die immer wieder diskutierten Hypothesen eines Zusammenhangs von Autismus mit Impfungen, Lebensmittelunverträglichkeiten (z. B. Gluten, Casein) oder Antibiotikamedikation konnten bisher nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden, sondern beruhen auf Einzelfallstudien (Poustka et al. 2008).
Vermutlich existiert eine Interaktion zwischen genetischen und umweltbedingten Faktoren, bei der verschiedene Gene miteinander interagieren und Umweltfaktoren die Anfälligkeit erhöhen, eine autistische Störung zu entwickeln (Dawson 2008). Dawson (2008) fasst Befunde zusammen, die zeigen, dass autistische Verhaltensweisen nicht im Zusammenhang mit einer stabilen Hirnschädigung stehen, sondern durch dynamische postpartale Veränderungen im Gehirn und somit des Verhaltens charakterisiert sind. Gemäß einem kumulativen Risikomodell senkt eine Anhäufung von frühen Risikofaktoren, die allenfalls durch Umweltfaktoren bedingt sind, die Schwelle zur Entwicklung suboptimaler neuronaler Prozesse.