Читать книгу Klippenfall - Meike Messal - Страница 11

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Die nackte Neonröhre strahlte unerbittlich und tauchte den Raum in ein geradezu klinisches Licht. Seit Stunden, so kam es ihr vor, saß Sylke angespannt auf dem Stuhl, den sie so positioniert hatte, dass sie die Tür sehen konnte. Erst hatte sie überlegt, sich in den Sessel zu setzen, doch sie wollte auf keinen Fall wieder einschlafen. Stattdessen hatte sie darüber nachgedacht, ob sich irgendetwas in dem Raum als Waffe benutzen ließ. Sollte sie das dickste Buch nehmen und ihn damit auf den Kopf schlagen? Schnell verwarf sie die Idee wieder. Sie wollte erst wissen, wo Emilie war, bevor sie versuchte, zu kämpfen. Wenn sie ihm unterlag, würde er sie vielleicht töten und ihre Tochter bliebe allein zurück in seiner Hand. Nach einigem Zögern hatte sie jedoch einen Filzstift genommen und ihn unter ihren Pullover an der rechten Hand geschoben. Ein Stift war eine gute Sache, wenn es ihr gelingen würde, ihn direkt in sein Auge zu stechen.

Nun saß sie hier, den Stift fest umklammert und mit einem laut knurrenden Magen. Doch noch schlimmer war der Durst. Was würde sie jetzt für ein Glas Wasser geben! Und danach einen großen Becher Kaffee. Der würde wenigstens helfen, wieder klar zu denken.

Dann schlug sie sich vor den Kopf. Natürlich, es gab doch ein Waschbecken in dem Raum. Mit wackeligen Schritten ging sie zu der Waschecke hinüber und drehte am Wasserhahn. Sofort sprudelte klares, kaltes Wasser heraus. Sylke trank es gierig aus ihrer Hand. Dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war! Sie schimpfte im Stillen mit sich selbst. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, sie brauchte mehr denn je all ihre Sinne. Als ihr Blick auf die Toilette fiel, zögerte sie. Sie musste dringend. Doch was, wenn es hier eine Kamera gab, die sie nicht entdeckt hatte? Oder er genau in dem Moment zur Tür hereinkam, wenn sie mit heruntergelassener Hose dastand? Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Doch sie hielt es nicht mehr aus, setze sich schnell und sprang genauso hektisch wieder auf, sobald sie fertig war. Jetzt schnell zurück zum Stuhl. Vorbereitet sein.

Sylke setzte sich kerzengerade hin und starrte auf die Tür. Die Minuten verstrichen, wurden zu Stunden, jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Sie wurde müde, ihr Kopf rutschte immer wieder nach vorne und dann schreckte sie jedes Mal hoch. Deshalb wusste sie im ersten Moment auch nicht, ob sie träumte, als sie ein kratzendes Geräusch vernahm. Sofort richtete sie sich auf, konzentrierte sich. Ja, es kam eindeutig von der Tür.

Sylkes Herz begann zu rasen, Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie sprang auf, stellte sich hinter den Stuhl, den rechten Fuß nach vorne, Arme angewinkelt. Die Tür öffnete sich. Langsam. Wie hypnotisiert folgten Sylkes Augen der schweren Metallplatte, die sich Zentimeter für Zentimeter in den Raum fraß. Die Spitze eines schwarzen Turnschuhs folgte, dann ein Bein, schließlich der ganze Körper. Direkt danach fiel die Tür krachend zu.

Sylke blinzelte. Ihre Augen tränten und mit einer schnellen Bewegung wischte sie darüber. Das konnte nicht sein ... das war nicht er ... aber ...

»Mama!« Emilie war mit drei Schritten bei ihr, umarmte Sylke so heftig, dass sie schwankte. Sie versuchte, ihren Halt wiederzufinden, sog gierig den Geruch ein, der sie traf, Emmis Geruch, der Geruch ihrer Tochter. Vorsichtig, als könnte sich Emmi als eine Fata Morgana erweisen, hob sie ihre Hand, strich über das blonde Haar.

Emilie umklammerte sie. So standen sie da, regungslos. Schließlich löste sich Emmi von ihr. Sylke legte ihre Hand auf die Wange ihrer Tochter, schaute sie an. »Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie. »Hat er dir irgendetwas getan?«

Emilie schüttelte stumm den Kopf.

Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie schob Emilie zum Bett, setzte sich direkt daneben, Bein an Bein. Emilie blickte mit großen Augen in das Zimmer.

Sylke nahm ihre Hand. »Wo warst du? Was ist passiert?«

Doch Emilie antwortete nicht. Sie starrte weiterhin wie gelähmt in den Raum, anscheinend ohne etwas wahrzunehmen. Sylkes Erleichterung löste sich auf, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das hier war nicht ihre Emilie. Dieses Mädchen hatte Angst und stand eindeutig unter Schock.

»Schon gut. Schon gut, meine Süße!« Sie rückte an ihre Tochter heran, umfasste sie mit beiden Armen. Erst da fiel ihr auf, dass Emmi einen Rucksack trug. Vorsichtig löste sie die Schulterriemen. Emilie ließ das teilnahmslos geschehen, jegliche Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Die Tasche war schwer, Sylke stellte sie auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Sie war voll mit Essen. Zuerst holte Sylke eingepackte Brote heraus, dann Äpfel und Bananen. Zum Schluss zwei Tafeln Schokolade, Alpenmilch und Haselnuss. Außerdem befand sich noch eine Flasche Eistee darin und zu guter Letzt beförderte sie Cola ans Tageslicht. Obwohl sie es nicht wollte, knurrte ihr Magen laut auf.

»Hast du Hunger?«, fragte sie. Emilie schüttelte den Kopf. Bis auf »Mama« ganz zu Beginn hatte sie noch kein Wort gesprochen, stellte Sylke beunruhigt fest.

Sie schob das Essen zur Seite und nahm ihre Tochter erneut in den Arm. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, vergrub sich in Emilies Haaren und sog den vertrauten Geruch in sich auf. »Wir sind zusammen, jetzt kann uns nichts mehr passieren, ich verspreche es dir.« Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Sie wollte alles wissen: Wo Emilie gewesen war, was er mit ihr gemacht hatte, ob er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, das darauf hinwies, warum sie beide hier waren. Doch Emilie würde jetzt nicht reden. Sie musste ihr Zeit lassen, Sicherheit geben. Eine Sicherheit, die sie selbst nicht verspürte. Sylke drückte sie fest an sich, hielt sie umschlungen. Sie merkte, wie Emilie sich langsam entspannte, sich in sie hineinkuschelte, als wollte sie in ihr verschwinden.

Alles wird gut. Immer wieder wiederholte Sylke das Mantra in ihrem Kopf. Sie hielt ihre Tochter im Arm, das war das Einzige, das zählte. Jetzt musste sie nur noch herausbekommen, wo sie waren, und es schaffen, zu flüchten. Irgendwann würde dieser Mistkerl ja mal auftauchen. Sylke hielt die Augen weit geöffnet. Sie würde über Emilie wachen und bereit sein, sobald er den Raum betrat.

Klippenfall

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