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Ratlos nahm Levke die Hand von der Klingel. Warum machte Sylke nicht auf? Sie hatte doch gesagt, dass sie und Emmi zu Hause seien und Levke vorbeikommen könne. So hatten sie es vereinbart, als Levke am Morgen gegen zehn in Sylkes Laden in Burg geschneit war. Jetzt im Juli, in der Hauptsaison, war Sylke auch sonntags dort anzutreffen.

Jedes Mal, wenn Levke die Tür aufstieß und die helle Klingel ertönte, war sie gespannt, welche Dekorationswunder ihre Freundin diesmal vollbracht hatte. Und sofort hatte sie die kleinen Unterschiede zur letzten Woche entdeckt: Der Tisch mit den selbstgenähten Taschen aus Jeanshosen, auf denen vorne der Umriss von Fehmarn zu sehen war, stand nicht mehr mittig, sondern links am Fenster. Dafür thronte im Zentrum des Ladens ein Couchtisch, der aus einem Baumstamm mit einer kleinen Glasplatte bestand. Durch das Glas hindurch sah man ebenfalls die Insel, ihre Umrisse waren in den Baum geritzt. »Der ist cool, den würde ich mir auch sofort ins Wohnzimmer stellen.« Levke strich vorsichtig mit den Fingern über den Tisch. »Tolle Arbeit. Wer hat das angefertigt?«

»Ich arbeite neuerdings mit Lutz zusammen, du weißt schon, dem Tischler aus Petersdorf. Es ist super, wie sein Sortiment aus Holz meine selbstgenähten Sachen ergänzt. Die Touristen kaufen einfach alles von ihm.«

»Das freut mich!« Levke lächelte. Wie hatte Sylke vor einigen Jahren mit der Entscheidung gehadert, ihren langweiligen, aber dafür sicheren Job als Verwaltungsfachfrau an den Nagel zu hängen und sich selbstständig zu machen. »Ich hab keinen Mann, dessen Gehalt uns auffangen könnte, falls es schiefläuft«, hatte sie immer wieder gesagt. Doch Levke war nicht müde geworden, Sylke zuzureden und sie in ihrer Idee zu unterstützen. So gut nähen wie ihre Freundin konnte niemand und schon vor der Öffnung des Ladens waren ihre Sachen im Internet heiß begehrt, vor allem unter Fehmarn-Fans. Sylke nähte ausgefallene Taschen, Kissen, Taschentuchhüllen, Handwärmer, Kopftücher, Schals und Ponchos. Und auf all diesen individuellen Stücken prangte Fehmarn – mal nur der Umriss, mal die ganze Insel, mal ein besonderer Teil von ihr. Am liebsten mochte Levke die großen Umhängetücher, auf denen buntgestickte Vögel aus dem Naturschutzgebiet Wallnau leuchteten. Man konnte mit geschlossenen Augen über sie streichen und fühlen, um welchen Vogel es sich handelte. Emmi liebte dieses Spiel und sie gewann immer. Niemand kannte die Tiere auf Fehmarn so gut wie sie.

Levke ließ sich auf den großen Stuhl am Verkaufstresen fallen. »Ich muss dir was erzählen.« Sie fuhr sich durch ihre lockigen braunen Haare und klemmte eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr. »Gestern war doch Kais Geburtstagsfeier.«

»Ach ja!« Sylke schlug sich gegen die Stirn. »Mist, ich habe ganz vergessen, ihm zu gratulieren.«

»Ich weiß!« Nun blickte Levke vorwurfsvoll. »Erst kommst du nicht und dann meldest du dich nicht mal. Ich habe dir gestern Abend eine SMS geschrieben, aber darauf reagiert Madame ja nicht.«

»Entschuldige.« Sylke schüttelte den Kopf. »Meine Taschen sind fast ausverkauft. Ich musste gestern Abend nähen, was das Zeug hält. Heute schaffe ich einfach nicht alles, denn Emmi muss ich schließlich auch mal sehen.« Sie deutete vage auf den Vorhang, der hinter dem Verkaufstresen angebracht war und das daran anschließende Nähzimmer verbarg. »Eigentlich habe ich jetzt gar keine Zeit zu quatschen, wenn gerade mal keine Touristen hier einfallen. Komm doch heute Abend zu uns, dann kannst du mir alles erzählen. Es wird wohl nur Tiefkühlpizza geben ...«

»Das bin ich ja gewohnt. Aus dir wird keine Köchin mehr.« Levke schüttelte lachend ihren Kopf. »Man kann nicht in allem Talent haben. Ich würde ja was mitbringen, aber wie gesagt, gestern war ich bei Kai und da habe ich diesen Typen kennengelernt. Er ist nur dieses Wochenende auf der Insel und ich bin gleich mit ihm verabredet. Heute Abend ist er schon wieder weg.«

»Oh Levi, nicht dein Ernst.« Sylke verzog den Mund. »Neben dir und deinen Eskapaden komme ich mir alt vor.« Sie drehte sich im Kreis. »Aber wo soll neben Laden und Kind auch noch Platz für einen Mann sein?«, murmelte sie.

Levke hatte sie trotzdem gehört. Das war das große Manko an dem Geschäft. Es lief so gut, dass Sylke kaum noch Zeit für etwas anderes hatte. Sogar ihre Tochter kam zu kurz, fand Levke. Aber das durfte man Sylke nicht sagen, dann wurde sie wütend. Und Emilie war wirklich reif für ihr Alter. Außerdem hielt sie sich am liebsten allein am Meer auf. Am Wasser, immer am Wasser. Manchmal, wenn Levke sie ansah, kam ihr Emmi schon selbst wie ein halbes Meerwesen vor. Sie schien das Rauschen der Wellen in sich zu tragen und mit Schritten zu laufen, die sich diesem Rhythmus angepasst hatten.

»Okay, also heute Abend. Sieben?«

»Besser um acht.« Sylke seufzte. »Vielleicht koche ich doch. Emmi kann ja nicht immer nur Fastfood bekommen.«

»Ansehen kann man es euch nicht.« Ein wenig neidisch blickte Levke auf ihre Freundin, die groß und schlank vor ihr stand. Obwohl Sylke im letzten Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte und sie damit drei Jahre älter war, fand Levke, dass man den Altersunterschied zwischen ihnen nicht sah. Im Gegenteil, Sylke wirkte jünger als sie. Dazu war sie immer perfekt gekleidet, die Farbtöne aufeinander abgestimmt, dezentes Make-up, das zu ihrer hellen Haut und den blonden, akkurat geschnittenen schulterlangen Haaren passte.

»Dir doch auch nicht.« Lächelnd musterte Sylke ihre Freundin. »Du hast Rundungen an den richtigen Stellen und die Männer stehen auf dich. Andauernd kommst du mit einem Neuen um die Ecke.«

Mit diesen Worten hatte sie Levke sanft, aber bestimmt zur Tür geschoben. »Bis heute Abend, Levi«, hatte sie ihr hinterhergerufen und Levke hatte von der anderen Straßenseite gewunken.

Und jetzt war Sylke nicht zu Hause. Hatte sie die Zeit vergessen und einfach weitergenäht? Das war bei ihr durchaus möglich. Auch, dass Emilie immer noch am Strand hockte und sich irgendeiner Beschäftigung so hingab, dass sie auf nichts anderes mehr achtete.

Levke ging um das Haus herum in den Garten. Dort spähte sie durch die große Terrassentür ins Innere. Das Wohnzimmer war mit einer offenen Küche verbunden. Nichts rührte sich. Levke holte ihr Handy aus der Tasche, wählte Sylkes Nummer, sie stand gleich ganz oben. Niemand ging ran. Auch ein Anruf im Laden blieb unbeantwortet. Komisch.

Levke dachte an den gestrigen Abend. Daran, dass Sylke weder Kai angerufen noch auf die SMS reagiert hatte. Wenn sie nähte, vergaß sie manchmal alles um sich herum. Aber Emmi? Sie musste doch langsam Hunger bekommen.

Seufzend beschloss Levke, zu warten. Sie machte es sich auf der Terrasse im Gartenstuhl gemütlich. Von Katharinenhof nach Burg zu fahren, um im Laden nachzusehen, das würde zu lange dauern. Bestimmt kamen die beiden jeden Augenblick zurück.

Levke fuhr sich durch das Gesicht. Inzwischen war sie gar nicht mehr so wild darauf, Sylke von dem Typen zu erzählen. Gestern Abend auf Kais Feier hatte sie ihn sympathisch gefunden. Ein wenig zu klein und zu dünn für ihren Geschmack, aber irgendwie faszinierend. Er flirtete mit ihr völlig anders, als sie es gewohnt war. Subtil, doch umso beharrlicher, so als wäre sie das einzige weibliche Wesen auf der Feier. Sie hatte eindeutig ein paar Gläser zu viel intus und wäre bereit gewesen, mit ihm zu knutschen. Als ihre Lippen jedoch vor seinen schwebten, hatte er mit einem Mal einen Rückzieher gemacht, Ausflüchte gesucht und sich stattdessen für heute mit ihr verabredet. Dann war er spurlos verschwunden, sie hatte ihn den ganzen Abend nicht mehr gesehen.

Und die Verabredung heute? Bang! Er war nicht aufgetaucht. Levke hatte auf ihn am Rathaus gewartet und je mehr Zeit verstrichen war, desto dümmer war sie sich vorgekommen. Sie hatte sich mehrfach gefragt, warum sie überhaupt dort stand. Betrunken an einem Abend war das eine, aber nüchtern bei hellem Tageslicht ... verrückt. Sie war doch alt genug, um zu wissen, dass man sich auf so was besser nicht einließ. Bestimmt hatte zu Hause seine Frau auf ihn gewartet und das schlechte Gewissen hatte ihn geplagt. Hatte er eigentlich einen Ring getragen? Levke konzentrierte sich, aber sie konnte sich kaum noch sein Gesicht in Erinnerung rufen, geschweige denn seine Hände. Sie war gestern so beschwipst gewesen, sie hatte ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Über den Typen würde sie jetzt nicht mehr nachdenken. Seufzend schüttelte Levke den Kopf.

Oh Mann. Sie brauchte jetzt definitiv eine Tiefkühlpizza – etwas anderes würde es wohl doch nicht geben – und vor allem ein kühles Bier. Als ihr Sylkes Lieblingsspruch einfiel, musste sie plötzlich grinsen. Wie oft hatte sie den schon von ihrer Freundin gehört, wenn sie mal wieder geknickt nach einem misslungenen Date mit ihr darüber quatschte: Du weißt doch, der größte Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt in dem Satz: Was für ein Arsch!

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