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Nicht nur ihre Schönheit hatte er bemerkt. Seit einigen Wochen beobachtete er sie nun schon. Jede Pause. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass sie zwei Jahrgänge über ihm war. Er bewunderte nicht nur ihre langen Haare, die ihn an hellglitzerndes, goldenes Meer im Sonnenschein erinnerten, nicht nur ihre kleinen Brüste, auf die er, selbst wenn er es nicht wollte, immer wieder schauen musste. Aber da waren auch ihre langen, schmalen Beine, die aussahen, als sei sie ein Reh, jederzeit bereit, davonzulaufen und im Dickicht zu verschwinden. Ihre blauen Augen, die er noch nie lachend gesehen hatte. Sie schauten nachdenklich, manchmal traurig. Ihre Haltung. Sie stand ein wenig vornübergebeugt, als wollte sie sich an etwas anlehnen, Halt suchen.

Und sie war allein. Genau wie er. In der Pause ging sie immer in eine bestimmte Ecke, sogar, wenn es regnete und die anderen die Regenpause im Schulgebäude genossen. Sie hingegen ging hinaus, egal ob ein Sturm peitschte oder die Sonne vom Himmel stach. Wie unbeteiligt stand sie am selben Fleck.

Aber je länger er sie beobachtete, desto mehr merkte er, dass sie nicht so teilnahmslos war, wie sie wirkte. Sie sah alles. Inzwischen glaubte er, dass sie auch ihn bemerkt hatte. Seitdem hoffte er inständig auf ein Zeichen. Schließlich ging es ihnen doch beiden gleich – die anderen mieden sie, machten einen Bogen um sie, als wären sie Aussätzige. Sie allerdings sah nie in seine Richtung.

Er versuchte herauszubekommen, warum sie so allein war. Bei ihm, ja, das konnte er verstehen, klein und unscheinbar wie er war. Alle verehrten seinen großen Bruder, jedenfalls die Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen allerdings konnten ihn nicht leiden, doch wen interessierten schon die Alten.

Aber sie? Sie war schön, und klug war sie bestimmt auch. Warum nur hatte sie keine Freundinnen? Je mehr Tage ins Land gingen, desto mehr reifte in ihm eine Einsicht: Es musste so sein, weil sie es wollte. Sie hatte sich entschieden, allein zu sein. Sein Respekt vor ihr wuchs. Im Gegensatz zu ihm, der gesehen werden wollte, der sich nichts sehnlicher als einen Freund – noch besser, eine Freundin – an seiner Seite wünschte, hatte sie sich bewusst dagegen entschlossen.

Seitdem sah er sie mit anderen Augen. Das war keine Trauer in ihrem Blick, sondern Desinteresse an der Welt. Bestimmt suchte sie niemanden zum Anlehnen, sondern war nach vorne gelehnt, weil sie bereit war, zu kämpfen. Ein Boxer im Ring unter Hochspannung.

Er versuchte, so zu werden wie sie. Beherrscht und unnahbar. Wer sagte schon, dass man zum Glück mehr als sich selbst brauchte? Ihm gelang es nicht, noch nicht? Aber sie schien zufrieden zu sein, glaubte er.

Bis zu jenem Tag kurz vor den Sommerferien. Der Tag, an dem er begriff, dass sie noch viel schlimmer dran war als er. Viel, viel schlimmer.

Klippenfall

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