Читать книгу Klippenfall - Meike Messal - Страница 3

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Die Nachricht erwischte sie mitten beim Kartoffelschälen. Stirnrunzelnd betrachtete Sylke ihr Handy und las die SMS ihrer Tochter erneut. Hoffte, die Buchstaben würden dadurch einen anderen Sinn ergeben. Komm schnell. Jemand ist hinter mir her.

Emilie war schon den ganzen Tag am Strand, dem Ort, an den es sie immer zog. Sie liebte die Steilküste am Katharinenhof und hielt sich oft stundenlang dort auf.

Sylkes Finger schwebte über der Anruftaste, bereit, den grünen Button zu drücken. Doch dann hielt sie inne. Was, wenn Emilie den Klingelton auf laut hatte? Und sie ihm so verriet, wo ihre Tochter langlief?

Abermals stockten ihre Gedanken. Ihm? Verdammt, wurde Emmi von einem Mann verfolgt? Ja, natürlich. Wer sonst sollte hinter einem hübschen 12-jährigen Mädchen herrennen? »Hör auf zu spinnen«, beruhigte sie sich. »Wahrscheinlich bildet sie sich das bloß ein. Es ist sicherlich nur ein Camper, der zufällig denselben Weg läuft, und sie denkt gleich wieder sonst was.« Doch die Besorgnis ließ sich nicht wegreden, ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie.

»Wo genau bist du?«, schrieb sie zurück. Sie ließ die Kartoffeln stehen und eilte zur Tür, schlüpfte in ihre Turnschuhe. Bis zum Strandabschnitt, an dem Emilie sich fast immer aufhielt, war es nicht weit, nur die Zufahrtsstraße zum Campingplatz entlang und dann an der Schranke hinunter zum Wasser. Weiter würde sie mit dem Auto ohnehin nicht kommen, da konnte sie gleich dorthin joggen. Sie lief täglich und war fit, doch heute waren ihre Schritte größer und ausholender als sonst. Kaum auf den Weg achtend hielt sie das Handy vor sich. Emilie antwortete nicht.

Sie versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, spurtete. »Es ist nichts. Sie ist fast jeden Tag dort. Noch nie ist etwas passiert.« Doch was, wenn genau dies das Problem war? Tägliche Routine? Vielleicht hatte jemand sie schon Tage oder gar Wochen beobachtet und auf den einen günstigen Moment gelauert?

»Quatsch!« Sylke rief das Wort laut und schüttelte unwillig den Kopf. Was war bloß los mit ihr? Sie hatte sich noch nie besonders große Sorgen um ihre Tochter gemacht. Emilie war reif für ihr Alter und gewohnt, allein klarzukommen. Sylke arbeitete fast rund um die Uhr, um für sie beide den Lebensunterhalt zu verdienen.

Alte Lindenbäume säumten die Straße, sie raste daran entlang, vorbei an friedlich grasenden Pferden und dem verwaist daliegenden Basketballspielfeld. An der Abzweigung zum Waldpavillon biss sie sich auf die schweißnassen Lippen. Emilie liebte es, auf der Terrasse des Café-Restaurants zu sitzen, direkt am Meer. Doch meistens hatte Sylke abgewunken, zu viel zu tun im Geschäft. Sie schwor sich, noch an diesem Abend einen Tisch zu reservieren und Emmi so viel Eis essen zu lassen, wie sie wollte. Aber zuerst musste sie ihre Tochter finden!

In dem Moment blinkte ihr Handy auf. Der Text sprang ihr entgegen. Hab mich versteckt. Komm schnell. Er sucht mich.

Nun hielt sie doch an. WO BIST DU?, hämmerte sie auf die Tasten und legte ihre Hand kurz auf ihr rasendes Herz. Dann rannte sie weiter, an der griechischen Taverne vorbei über das Gelände des Campingplatzes, mit knirschenden Schritten Richtung Strand. Rechts von ihr ragten die hohen, dunklen Bäume des kleinen Stiftungswaldes stumm in den Himmel. War Emilie dort irgendwo im Dunkeln oder noch unten am Wasser? Einen Moment zögerte Sylke, dann folgte sie dem Pfad zum Meer ein kurzes Stück, bis sie den Strand überblicken konnte. Schwer atmend blieb sie stehen, ihre Augen bewegten sich suchend hin und her durch die wilde Schönheit, die sich hier auftat. Doch heute hatte sie keinen Blick für die türkis schimmernden Wellen, die großen Steine in der Brandung. Wo zur Hölle war Emmi?

Obwohl es auf zwanzig Uhr zuging, war es noch warm, das T-Shirt klebte an Sylkes Körper. Doch nur eine Frau sah sie weit weg barfuß durch die Wellen gehen. Wahrscheinlich saßen die Familien inzwischen vor ihren Zelten und Wohnwagen und grillten. Sylke starrte erneut auf ihr Handy, als könnte sie es damit beschwören. »Ich bin jetzt da«, tippte sie schnell, »am Pfad zum Wasser.«

Ein Knirschen ließ sie zusammenzucken. Vor ihr tauchte ein Mann mit verschwitzten Haaren auf. Unwillkürlich trat Sylke einen Schritt zurück. Wo war der denn so plötzlich hergekommen? Konnte das Emilies Verfolger sein? Er war klein und schmal gebaut, schlaksige Arme lugten aus den Ärmeln seines weißen T-Shirts hervor. Würde der Typ Emmi derartige Angst einjagen können? Wohl kaum. Außerdem kam er Sylke bekannt vor. Die kantigen, scharfen Gesichtszüge, das frisch rasierte Gesicht, das ihn jünger aussehen ließ, als er vermutlich war. Vielleicht ein Tourist, der bei ihr im Laden eingekauft hatte? Er kam nun direkt auf sie zu.

Sie wandte den Blick von ihm auf ihr Handy, das soeben aufblinkte. Bin im Stiftungswald. Erleichtert drehte sich Sylke um. Emmi war ganz in ihrer Nähe.

»Hallo!« Die Stimme direkt neben ihr ließ sie zusammenzucken. Der Mann war schneller, als sie gedacht hatte. Und leiser. Er lächelte sie an. Die schmalen Lippen passend zu seiner knochigen Erscheinung, eher weiß als rot, irgendwie blutleer. Ja, er kam ihr definitiv bekannt vor. Doch woher bloß?

»Sie sehen gestresst aus«, sprach er weiter. »Ist alles in Ordnung?«

»Äh ja, danke.«

Sie nickte ihm kurz zu und lief dann weiter bergan bis zu dem kleinen zugewachsenen Pfad in den Wald hinein. Sylke scherte sich nicht um die Äste, die ihren Körper peitschten, nicht um das Wasser, das in ihren Schuh drang, als sie über einen umgestürzten Baum und direkt in eine Pfütze sprang. Ihr Kopf drehte sich von links nach rechts. Dickicht. Von Emilie keine Spur.

Ein lautes Frauenlachen von fern. Ein Glück, der Mann war verschwunden und auch sonst schien sie hier vollkommen allein zu sein.

»Emmi?« Sylke wusste selbst nicht, warum sie flüsterte. Sie lauschte. Hörte nichts als die Wellen, den schlagenden Puls des Meeres, der träge durch die dicken Äste der Bäume drang. »Emmi, wo bist du?« Ihre Stimme wurde lauter, eindringlicher.

Erneut hörte sie ein Knacken und für einen Moment befürchtete sie, der Mann würde abermals auftauchen. Doch es war Emmi, sie kroch aus einem Gebüsch. In ihren langen blonden Haaren hingen Blätter, aus einem frischen Kratzer unter ihrem rechten Auge quoll ein wenig Blut. Ihr Blick war voller Erleichterung, als sie sich aufrichtete und ihrer Mutter um den Hals fiel. »Ein Glück!«, wisperte sie in Sylkes Schulter, »ich hatte solche Angst!«

»Ach Emmilein!« Sylke schob ihre Tochter ein wenig von sich und schaute sie an. Plötzlich kam ihr die Furcht, die sie eben noch verspürt hatte, lächerlich vor. »Du hast dir das bestimmt eingebildet.« Sie musterte die Wunde. »Das sieht nicht gut aus. Komm, wir gehen nach Hause und versorgen es. Und all die Blätter müssen wir auch aus deinem Haar pflücken.«

Emilie nickte, doch ihre Augenlider zuckten. »Das war keine Einbildung«, sagte sie. »Dieser Mann hat mich beobachtet. Ich habe es genau gemerkt. Und als ich gehen wollte, kam er hinter mir her.« Sie fasste Sylkes Hand. »Da bin ich losgerannt. Und plötzlich lief er auch.« Ihr Griff wurde fester. »Ein Glück, dass dies mein Ort ist, niemand kennt ihn so gut wie ich. Ich habe ein paar Haken geschlagen und mich dann hier verkrochen. Das hat er gar nicht mitbekommen und mich unten am Strand gesucht.«

Am Wasser? Plötzlich sah Sylke den Mann mit den verschwitzten Haaren wieder vor sich. »Wie sah der Typ denn aus?«, fragte sie, während sie Emmi mit sich zog. Der Schweiß an ihrem Körper wurde unter dem Schatten der Bäume mit einem Mal kalt und sie fröstelte.

»Er war klein und dünn.« Emilie ging nun genauso zügig wie ihre Mutter. »Deshalb hatte ich auch erst keine Angst vor ihm. Ich dachte, den hau ich mit meiner Faust k. o., falls er mir zu nahe kommt.« Sie blieb stehen. Ihre Stimme wurde wieder leise, und sie umklammerte Sylkes Hand so stark, dass es ihr wehtat. »Aber dann hab ich seinen Blick gesehen. Er hat mich angestarrt. Mit ganz komischen Augen.«

»Was meinst du damit?« Sylke runzelte die Stirn. Emmis Worte hallten noch in ihrem Kopf. Klein und dünn.

Emilie zuckte mit den Schultern. »Sie waren blau wie das Meer. Aber es war keine Lebendigkeit in ihnen. Sie blickten tot. So, als hätte er schon mit dem Leben abgeschlossen.«

Mit einem Mal bekam Sylke Kopfschmerzen. »Woher hast du denn nur solche Ideen?«, rief sie. »Tote Augen! So ein Unsinn. Du hast ihn noch nicht einmal richtig angesehen!« Aber in ihren Gedanken beschwor sie wieder das Gesicht des Mannes herauf. Versuchte, sich seine Augen vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sie hatte nach Emmi gesucht, ihr Blick hatte ihn nur flüchtig gestreift, war an seinem Mund haften geblieben. Der hatte gelächelt. Oder war es ein Grinsen gewesen, ein boshaftes Verzerren der Lippen?

Sie war in ihre Gedanken versunken, merkte nicht, dass Emilie stehen geblieben war. Erst der Ruck an ihrer Hand holte sie zurück. Ungeduldig wandte sie sich um. »Was ist denn?«

Doch ihre Tochter antwortete nicht. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, bleich war sie. Die blonden Haare mit den Blättern darin fielen ihr in die Stirn und über die Wunde. Sie schaute Sylke nicht an, sondern auf einen Punkt vor ihnen. Erstarrt wie eine Maus, die die Katze vor sich zu spät entdeckt hatte.

Langsam löste sich Sylke von dem Anblick ihrer Tochter und drehte sich herum. Wir sind zu zweit, schoss es ihr durch den Kopf, den machen wir ...

Es gelang ihr nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Ein schrecklicher Schmerz durchfuhr sie, explodierte erst in ihrer Brust und dann in ihrem Kopf. Die Bäume rasten auf sie zu, kippten, fielen. Riesen waren sie, groß und schwarz und begruben sie unter sich.

Klippenfall

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