Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 10
Susan
ОглавлениеFünf Minuten vor acht Uhr hielt das Yellow Cab Montagmorgens vor dem riesigen Anwesen von Michael Thompson. Der kaugummikauende Fahrer warf einen Blick auf das weitläufige Grundstück und das Gebäude, dann beäugte er mit kritischem Blick Susan.
Diese trug die weiße Arbeitskleidung und ihre Hände umklammerten ängstlich eine Handtasche. Fahrig beugte sie sich nach vorne, um das Taxameter in Augenschein zu nehmen. 64,70 $ leuchteten ihr entgegen. »Ich bin von Hicksville nach West Bay gefahren, ich wollte das Taxi nicht kaufen«, murmelte sie leise und kramte in ihrer Tasche nach Geld.
»Na Na, Lady ... sie werden sicher heute genug verdienen, damit sie sich auch die Rückfahrt locker leisten können!« Der Fahrer grinste sie breit an. »Viel Spaß beim Pflegen, Miss!«, lachte er und packte das Wort Pflegen mit den Fingern in Anführungszeichen.
Susan blinzelte den Mann verwirrt an. Dann begriff sie schlagartig, was er da andeutete. Der Typ dachte, sie wäre eine Nutte! Entrüstet drückte sie dem Kerl 65 $ in die Hand und fauchte: »Stimmt so!«
Unter dem lauten Lachen des Taxifahrers kletterte sie aus dem Wagen und schlug die Tür unsanft zu. Dann wandte sie sich um und nahm das riesige gusseiserne Tor in Augenschein.
Noch ehe das Taxi abgefahren war, glitt das Tor lautlos auseinander, und Susan vergaß den Ärger über den unverschämten Fahrer. Ihr Herz begann zu rasen, und mit unsicheren Schritten ging sie den Weg entlang.
Eine imposante Allee aus Bäumen säumte die breite Auffahrt zum Haus und begünstigte den Ehrfurcht einflößenden Eindruck, den das Anwesen erweckte. So groß hatte Susan das alles nicht in Erinnerung gehabt. Gut, es war immer schon dunkel gewesen, und sie hatte weiß Gott andere Dinge im Kopf gehabt, als auf die Umgebung zu achten, wenn sie an Michaels Seite hierhergefahren war.
Noch bevor sie die Chance hatte zu klingeln, wurde die Türe geöffnet und eine ältere Frau in einem buntgemusterten Kleid und vorgebundener blütenweißer Schürze, trat ihr entgegen. »Sie müssen Mrs. Weatherbee sein, ich heiße sie auf Thompsons Retreat herzlich willkommen.«
Zufluchtsort! Michaels Anwesen hieß Zufluchtsort! Susan musste an sich halten, um nicht frustriert aufzulachen, senkte hastig den Kopf und biss sich auf die Lippe.
»Susan, Sie sind doch Susan, oder?«, drang da die fragende Stimme an ihr Ohr.
Susan nickte. »Ja, mein Name ist Susan Weatherbee. Ich komme von der Health Help International, und ich habe einen Termin mit Jonathan Briggs.«
»Nein, nein, das meine ich nicht. Sie sind das T-Shirt-Mädchen!«
Susan erstarrte und hob den Blick an. Jetzt erst nahm sie die ältere Frau genauer in Augenschein, ihre Augen weiteten sich und die Handtasche landete mit einem Knall auf dem Boden. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf.
Sie selbst, nur mit einem Shirt bekleidet, barfuß über den Flur tapsend. Eine wundervolle Nacht hatte hinter ihr gelegen, und nun forderte die Natur ihren Tribut. Schlaftrunken hatte sie die Tür zum Badezimmer geöffnet und der Haushälterin gegenübergestanden. Doch statt sie mit hochgezogenen Augenbrauen geringschätzig zu behandeln, lächelte die Frau sie freundlich an und sagte: »Ah, das T-Shirt-Mädchen. Ihnen habe ich die gute Laune also zu verdanken!«
Susans Gedanken überschlugen sich, Tränen stiegen ihr in die Augen. Hastig bückte sie sich nach ihrer Tasche, raffte sie von den Stufen auf. »Mrs. Mitchell, verzeihen Sie. Es war eine schrecklich dumme Idee von mir, hierherzukommen. Ich gehe besser wieder. Sagen sie Mr. Briggs, dass er sich um eine andere Pflegekraft für Annabell kümmern muss.«
Bevor Susan jedoch die Flucht ergreifen konnte, hatte die Haushälterin sie schon untergehakt. »Den nicht einmal vorhandenen Schwanz einzuziehen kommt überhaupt nicht in Frage, Susan! Sie kommen jetzt erst einmal mit hinein, und ich mache Ihnen einen schönen Tee.« Energisch nahm Mrs. Mitchell ihr die Handtasche ab, und zog Susan ins Innere.
»Jonathan?«, rief die resolute Frau gleich im Hausflur in Richtung der geschwungenen Wendeltreppe nach oben. »Ich habe Annabells neue Pflegekraft hier, aber ich werde das arme Kind jetzt erst mal mit meinem Spezial-Tee versorgen!« Sprach's und zog Susan weiter in die geräumige Küche. Dort drückte sie Susan auf einen Stuhl, stellte die Handtasche zur Seite, und während der ganzen Aktion zeugte die entschlossene Miene der Haushälterin davon, dass sie keine Widerrede dulden würde.
Mit flinken Handgriffen bereitete Mrs. Mitchell einen angenehm duftenden Tee vor, den sie dann mit fröhlichem Lächeln vor ihr auf dem Tisch abstellte. Susan hingegen sah immer wieder nervös zur Tür. »Keine Bange, Kindchen, er ist in Europa«, schien die Haushälterin ihre Gedanken zu erraten und Susan kam nicht umhin, erleichtert aufzuseufzen. Dies nahm Mrs. Mitchell mit einem Schmunzeln zur Kenntnis, dann jedoch wurde ihr Gesicht ernst. »Kindchen, es muss Ihnen nicht leichtgefallen sein, hierher zu kommen, obwohl sie doch wussten, was und vor allem wer auf sie warten könnte.«
Susan nickte nur, zu Worten war sie gerade nicht fähig. Ihre Hände umklammerten die heiße Tasse, deren Wärme ihr wohltuend in die Finger fuhr.
»Die Health Help International versprach uns, ihre beste Kraft zu schicken, und wenn Sie nun hier sind, dann wird es seine Richtigkeit haben. Gleich, was zwischen Michael und Ihnen vorgefallen ist, das wird auch er akzeptieren müssen. Für Annabell wird er es, verdammt noch mal, tun.« Bei den wohlwollenden Worten der Haushälterin schossen Susan erneut Tränen in die Augen.
»Nein, Emma, sie verstehen nicht«, entgegnete sie, und es war ihr nicht einmal bewusst, dass sie sogleich wieder die vertraute Anrede benutzte, die ihr die Haushälterin damals angeboten hatte. »Er wird vollkommen außer sich sein, seine Worte waren mehr als deutlich. Ich ...« Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
In diesem Moment betrat ein hochgewachsener Mann die Küche. Er trug, wie Susan selbst, die typisch weiße Bekleidung und seine langen Haare waren zu einem Zopf gebunden. Sollte er überrascht vom Anblick sein, der sich ihm bot, so gelang es ihm ausgezeichnet, dies zu verbergen. »Mrs. Weatherbee, nehme ich an?«, lächelte er und ließ sich den beiden gegenüber auf einem Stuhl nieder.
Susan nickte, und wischte sich hastig die Tränen von der Wange. »Richtig. Es tut mir leid, Mr. Briggs, ich werde ...«
»Sie wird Ihnen in fünf Minuten Rede und Antwort stehen, Jonathan. Jetzt wird Susan zunächst ihren Tee austrinken, damit ihr die Kälte unseres fiesen Oktobers draußen nicht in die Glieder steigt und sie gleich krank wird! Ich habe Susan bereits darüber informiert, das Michael erst in etwa drei Wochen wieder im Land sein wird«, unterbrach Emma sie, griff nach ihrer Hand und drückte diese sanft mit beschwörender Miene. Susan seufzte ergeben, erwiderte den neugierig musternden Blick Jonathans und lächelte angespannt.
»Rede und Antwort wird nicht nötig sein, Susan«, ging der Pfleger sogleich auf die Worte der Haushälterin ein. »Ihr Chef Mr. Donaldson hat in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen und das ist alles, was ich wissen muss. Trinken Sie bitte, wie Emma es schon vorgeschlagen hat, in Ruhe Ihren Tee, und dann kommen Sie nach oben, damit ich Sie mit Ihren Aufgaben kurz vertraut machen kann.« Er zwinkerte ihr freundlich zu und Susan nickte.
»Kindchen, da fällt mir ein, sind Sie da eben mit einem Taxi vorgefahren?«, Mrs. Mitchell ließ ihre Hand los und erhob sich.
»Ja, das bin ich. Ich besitze leider kein eigenes Auto, und da meine Mutter ihres selbst braucht ... Ich werde mich allerdings bald mit dem Gedanken anfreunden müssen, mir einen kleinen Wagen zuzulegen, da ich auch bei dem großzügigen Gehalt, das Mich ... Mr. Thompson zahlt, sonst bald pleite sein werde«, Susan lächelte verlegen.
»Och, dem Problem können wir auch anders beikommen!«, Emma wuselte aus der Küche.
»Sie können doch Auto fahren, oder Kindchen?«, rief sie dann und kehrte alsbald mit einem Autoschlüssel in der Hand zurück. »Mr. Thompson ist neulich mit dem Camaro nach Hause gefahren, und da er in Europa weilt, wird er ihn wohl kaum vermissen!«, erklärte sie und legte den Bund vor Susan auf den Tisch.
Diese starrte Emma mit großen Augen an. »Ich kann doch nicht ... mit dem Camaro!«, stammelte sie und neben sich hörte sie Jonathan überrascht aufkeuchen.
»Ach was!«, winkte die Haushälterin ab. »Das Ding ist schon uralt, und gefahren werden muss er so oder so!«
»Emma!«, Jonathans Stimme war nicht viel mehr als ein Röcheln. »Von diesem Wagen wurden nur 69 Stück gebaut, ich glaube nicht, dass Michael ...«
»Papperlapapp, seien Sie still, Sie Spielverderber! Er wird die Unmengen an Autos, die in seiner Garage herumstehen, in diesem Leben sowieso nicht mehr alle fahren können, da wird es auf ein Auto mehr oder weniger nun auch nicht ankommen!«, fiel ihm Emma resolut ins Wort.
Jonathan runzelte zwar die Stirn, wagte aber ganz offensichtlich nicht, der Haushälterin ein weiteres Mal zu widersprechen. »Was mit Annabell geschehen ist, wissen Sie vermutlich?«, erkundigte er sich dann, wandte sich Susan zu und für einen Moment huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht.
»Schädelhirntrauma mit Schwellung des Gehirns, Prellungen, mehrere Knochenbrüche und ein enormer Blutverlust vor fast vier Jahren mit anschließendem Dauerkoma. Annabell benötigt Vollzeitpflege. Bewegungstherapie, Magensondenernährung, Medikamente. Ich denke, meine Aufgabe wird sein, Annabell zu drehen, damit sie nicht wundliegt, Urinbeutel wechseln, Dinge wie Fingernägel schneiden, Haare kämmen und so weiter. Vor allem aber werde ich mit Annabell sprechen, ihr Musik vorspielen und ihre Gesellschafterin sein«, ratterte Susan ihre Aufgaben herunter. Instinktiv hatte sie gespürt, dass sie Jonathan mit dem nüchternen Auflisten der zu leistenden Dinge aus seiner kurzzeitigen Melancholie würde holen können, und genau so war es. Der junge Pfleger sah sie eine Weile schweigend, aber aufmerksam an und dann glitt ein offenes und ehrliches Lächeln über sein Gesicht. »Ich bin davon überzeugt, dass wir hervorragend miteinander auskommen werden, Susan!«
***
Einige Stunden später wäre es Susan nicht einmal im Ansatz eingefallen, das Haus überstürzt verlassen zu wollen. Jonathan Briggs hatte ihr die medizinischen Geräte gezeigt, wo die Medikamente samt Dosierungsanweisungen standen, den Therapieplan und alle weiteren Dinge, die sie im Laufe eines Tages mit Annabell zu beachten hatte.
Jonathan selbst kümmerte sich nachmittags und bei Bedarf auch nachts um Annabell - er hatte ein Zimmer im Haus und konnte, wenn es nötig war, sofort vor Ort sein. Michael hatte ihm eine Zusatzausbildung finanziert, die ihn dazu befähigte, die Bewegungstherapie mit Annabell durchzuführen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass Susan alle Anweisungen verstanden hatte, zog sich Jonathan auf sein Zimmer zurück, nicht jedoch ohne Annabell vorher noch einmal aufgesucht zu haben.
Leise Musik erfüllte das Zimmer und Susan saß in einem äußerst bequemen Sessel neben dem Bett der jungen Frau. Langsam klappte sie das Buch zu, aus dem sie Annabell ein paar Seiten vorgelesen hatte. Die Vorstellung, dass auch Michael in den letzten Jahren sicherlich mehr als einmal hier gesessen hatte, verursachte ein seltsames Gefühl in Susans Innerem. Bis heute wusste sie nicht, wie sich seine offensichtliche Zuneigung ihr gegenüber in diesen grenzenlosen Hass hatte wandeln können.
Nach einer von vielen gemeinsamen Nächten in dieser Zeit hatte sie ihn einige Tage nicht gesehen, was aber keinesfalls etwas Außergewöhnliches war, da die Firma ihm viel abverlangte. Als die Zeitspanne aber die normale überschritten hatte, war Susan auf einen Abstecher zu ihm in die Firma gefahren, um ihn zu überraschen. Gerade hatte sie seine Sekretärin Mrs. Davis bitten wollen, sie zu anzumelden, da war auch schon die schwere Tür zu seinem Büro aufgegangen und Michael hinausgetreten.
Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen, sein sonst so gepflegter Drei-Tage-Bart war schon einige Tage länger nicht mehr gestutzt worden, und er hatte sie angestarrt, als ob sie der Teufel persönlich sei. Dann hatte sich sein markantes Gesicht verzerrt und er wandte sich an Mrs. Davis. »Ann, diese Frau hat ab sofort Hausverbot in meiner Firma. Ich möchte nicht, dass sie nochmal nur einen Fuß in dieses Gebäude setzt.« Ehe die Sekretärin auch nur die Chance hatte, etwas zu entgegnen, hatte er in unmissverständlichem Ton gezischt: »Habe ich mich klar ausgedrückt, Mrs. Davis?«, und diese hatte fassungslos genickt. Dann war sein hasserfüllter Blick zu Susan zurückgekehrt und mit jedem Wort, das er ihr entgegen spie, war seine Stimme lauter geworden.
»Ich will Dich niemals wiedersehen! Verschwinde einfach aus meinem Leben!«