Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 5
Michael
ОглавлениеEin leises Summen ertönte aus der Telefonanlage und er nahm den Hörer ab.
»Mr. Thompson, ich werde jetzt Feierabend machen«, meldete sich seine Sekretärin Mrs. Davis.
»In Ordnung, bis morgen.«
Schon lange wünschte er ihr keinen schönen Feierabend mehr oder einen ruhigen Abend. Nicht seit dem Vorfall vor vier Jahren.
Es war schon nach 18 Uhr und wieder einmal war Mrs. Davis länger geblieben. Sie war die gute Seele seiner Firma und er wusste, dass sie oft genug zwischen ihm und seinen Abteilungsleitern vermittelte.
Er stand von seinem Stuhl auf und trat an die große Glasfront. Früher hatte er den Ausblick, der sich ihm hier oben bot, wirklich genossen. Er konnte fast den ganzen Central Park überblicken und wusste, dass die Lage seines Bürogebäudes exquisit war. All das hatte ihn früher mit Stolz erfüllt - damals, als seine Schwester noch an seiner Seite gewesen war.
Mit der Faust schlug er gegen das Fenster. Vier beschissene Jahre war es jetzt her und doch überkam ihn jedes Mal, wenn es dunkel wurde, diese Wut. Die gleiche Wut, die er damals gefühlt hatte, als er sie dort auf dem Boden gefunden hatte. Blutig geschlagen, und nicht mehr bei Bewusstsein.
Wenn er doch nicht zu spät gekommen wäre. Wenn er sich doch nicht länger mit ihr beschäftigt hätte. Dann … ja, dann, würde seine Schwester hier neben ihm stehen, ihn anlächeln und daran erinnern, dass er dringend den Jahresabschluss durcharbeiten musste.
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare. Alles Grübeln brachte nichts. Er konnte es nicht mehr ändern. Er hasste sich, er hasste sie. Aber noch mehr hasste er den Junkie, der seine Schwester ausgeraubt hatte und nie gefasst worden war.
Scheiße, er musste sich zusammenreißen. Seine Angestellten zählten auf ihn, zählten darauf, dass sie ihren Arbeitsplatz behielten und das ging nur, wenn er die Firma auch weiter am Laufen hielt.
Der Vorstand saß ihm im Nacken. Sie wollten, dass er einige seiner Tätigkeiten mehr auf sie abwälzte und ihnen die Möglichkeit gab, Dinge selbständiger anzugehen. Aber bisher sträubte er sich vehement dagegen.
Wieder schaute er raus in den trüben Oktober. Langsam kroch die Dunkelheit hervor und die ersten Laternen warfen diffuses Licht auf den Central Park. Dort unten lief irgendwo der Scheißkerl herum, der seine Schwester ins Koma geprügelt hatte.
Vor vier Jahren war sie überfallen worden und seither nicht wieder aufgewacht. Die Ärzte sagten ihm ständig, es könne jeden Tag soweit sein. Seither wartete er darauf. Jeden verdammten Tag.
Seufzend wandte er sich vom tristen Anblick des Parks ab und begab sich wieder an seinen Schreibtisch. Auf dem Laptop war der Jahresbericht geöffnet und dieser musste bis Morgen fertig sein. 284 Seiten warteten darauf, durchgearbeitet und auf ihre Richtigkeit überprüft zu werden.
Bevor er sich an die Arbeit machte, holte er sich einen starken Kaffee, den Mrs. Davis ihm vorhin noch hingestellt hatte. Dann machte er sich daran, dem Vorstand zu zeigen, dass er es noch draufhatte.
***
Es war weit nach vier Uhr, als er den Laptop zuklappte und sich müde über die Augen rieb. Der Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es sich nicht lohnte, noch nach Hause zu fahren.
Er stand auf und streckte sich. Durch das Fenster sah er, dass das Wetter umgeschlagen hatte und nun kleine Flocken zu Boden segelten.
Die Zeit, die ihm bis zum Treffen mit dem Vorstand blieb, würde er nun für sich nutzen.
Von seinem Büro aus führte nicht nur eine Tür in das vordere Sekretariat, sondern auch eine zweite in einen angrenzenden Ruheraum mit Badezimmer. Früher hatte er die Räumlichkeiten kaum genutzt, heute dagegen übernachtete er oft hier.
Neben Anzügen und Hemden waren auch legere und bequeme Anziehsachen sowie Jogging-Klamotten in seinem Kleiderschrank vorhanden.
In genau diese schlüpfte er, als er sich aus seinem Anzug geschält hatte und wählte dann den Weg zu den Aufzügen.
Der Highspeed-Aufzug brachte ihn innerhalb einer Minute die 60 Stockwerke nach unten. Diese Geschwindigkeit würde er jetzt beim Joggen nicht erreichen, aber er hatte vor, sich den Frust in hohem Tempo abzulaufen.
Die kalte und klare Luft empfing ihn und nachdem er sich warm gemacht hatte, fiel er in einen schnellen und harten Rhythmus.