Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 6
Susan
ОглавлениеMüde zog sie das Gummiband aus den Haaren, welches ihre Haare zusammenhielt. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr und sie freute sich auf den wohlverdienten Feierabend.
»Susan? Der Chef möchte dich sehen!«, zerstörte da die Stimme ihrer Kollegin Melinda all ihre Hoffnungen. Stirnrunzelnd wandte sie sich zu ihr um. »Hey, ich bin nur der Überbringer der schlechten Nachrichten«, zwinkerte diese ihr mit erhobenen Händen zu.
»Ich kann keine Überstunden machen, Mel.« Susan fuhr sich mit der Hand über die müden Augen. »Ich kann Cassy nicht schon wieder zu einer Tagesmutter geben. Ich arbeite sowieso schon fast nur, um diese bezahlen zu können!«
Die Kollegin lächelte bedauernd, zuckte dann mit den Schultern und sah zu, dass sie die Station verließ, bevor auch sie noch ein Opfer der Launen ihres Chefs werden konnte. Seufzend schob Susan das Haarband über ihren linken Arm, ehe sie sich schweren Herzens auf den Weg zum Zimmer ihres Vorgesetzten machte. Sie klopfte energischer, als ihr zumute war.
»Herraaahaaain!«, ertönte es und Susan beeilte sich, das Zimmer zu betreten. »Susan Schätzchen, kommen Sie rein, kommen Sie rein!«
Susan verkniff sich ein Augenrollen. Phil Donaldson, ihr Chef, wog schätzungsweise 130 Kilogramm, schnaufte wie ein Walross, war so gut wie immer hervorragend gelaunt und stockschwul. Er lebte bereits seit über 20 Jahren mit ein und demselben Mann in einer festen Partnerschaft, und nur allzu offensichtlich schien er der weibliche Part in der Beziehung zu sein, denn man sah ihn selten anders als singend und trällernd über den Flur laufen. Fehlte nur noch, dass er ein rosa Handtäschchen mit sich führte und damit herum wedelte.
Doch der Schein trog, denn Phil konnte knallhart sein, wenn er es denn wollte. Susans Hände schwitzten schon, noch bevor sie auf dem Stuhl Platz genommen hatte, auf den er deutete. »Susan, Schätzchen, wie schön, dass Sie noch Zeit für mich gefunden haben«, trällerte Phil, und erneut gelang es Susan nur knapp, nicht bissig zu antworten. Sie arbeitete nun seit fast zehn Jahren für den schwergewichtigen Mann und wusste, was sie sagen konnte und was nicht.
»Was kann ich für Sie tun, Phil?«, fragte sie daher und lächelte angestrengt.
»Susan, was würden Sie von einem Acht-Stunden-Tag mit festen Arbeitszeiten, einem übertariflichen Gehalt und viel Freizeit für sich und Ihre kleine Tochter halten?« Phil lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück, der protestierend knarrte. Susan blinzelte. Sollte das eine Falle sein? Sie schnupperte vorsichtig, hatte Phil etwa getrunken?
»Geht's Ihnen gut, Chef?«, fragte sie vorsichtig, worauf sich dieser noch weiter in seinem Sessel zurücklehnte und schallend lachte. Offensichtlich hatte sie ihre Irritation nicht gut genug verborgen, denn Phil beugte sich jetzt nach vorne, löste die verschränkten Arme und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Es geht mir hervorragend, Schätzelchen. Ich habe heute Mittag einen wirklich lukrativen Auftrag hereinbekommen, und in meiner grenzenlosen Güte waren Sie die Erste, an die ich gedacht habe. Wenn Sie allerdings nicht interessiert sind ...«, er wuchtete seinen Körper aus dem Sessel und griff den Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Nein, nein!«, beeilte sich Susan, zu sagen. »Ich war nur überrascht, Phil. Gerade Sie müssen doch zugeben, das Worte wie übertarifliches Gehalt und geregelte Arbeitszeiten nicht gerade alltäglich bei uns sind.«
Grunzend ratterte Phil die Eckdaten runter, während er mit der Akte vor Susans Nase herum wedelte. »750$ die Woche, Sechs-Tage-Woche, acht Stunden am Tag, sonntags frei, Pflege einer Koma-Patientin. Schwerreicher Bruder, Haus in West Bay, Long Island. Sie liegt seit gut vier Jahren im Koma, keine Veränderung des Zustands. Im Haus lebt ein Pfleger, der die Patientin schon lange betreut und Ihnen alle wichtigen Informationen geben kann. Wollen Sie den Job, oder wollen Sie ihn nicht?«
Hastig griff Susan nach der Akte und presste sie an sich. »Natürlich!«
»Gut, Schätzelein. Das habe ich mir doch fast gedacht. Der Pfleger, ein gewisser Jonathan Briggs, wird Sie am Montag um acht Uhr erwarten. Alles andere steht in der Akte. Viel Erfolg und schönes Wochenende!« Mit diesen Worten verließ Phil sein Büro und ließ die noch immer verdatterte Susan dort allein. Mit zittrigen Händen betrachtete sie den Ordner, der einiges an Gewicht hatte. Dann wurde sie blass.
»Akte Annabell Thompson«, stand in ordentlichen Buchstaben darauf.