Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 8
Susan
ОглавлениеUnzählige Taschentücher lagen auf dem Boden um das Sofa verstreut, auf dem Susan schon geraume Zeit saß und mit verheulten Augen auf die Papiere blickte, die auf dem Tisch ausgebreitet waren.
In der Akte Thompson stand neutral und vollkommen emotionslos, was ein Unbekannter der jungen Frau vor fast vier Jahren angetan hatte. Annabell Thompson war, wie die Polizei vermutete, von einem Drogensüchtigen überfallen, brutalst zusammengeschlagen und dann in einer Seitengasse liegengelassen worden. Ihr Bruder hatte sie kurz nach dem Überfall gefunden, und ihr damit vorerst das Leben gerettet. Ein Schädelhirntrauma mit Schwellung des Gehirns, Prellungen, mehrere Knochenbrüche und ein enormer Blutverlust hatten wochenlang unklar gemacht, ob die junge Frau tatsächlich überleben würde.
Seither lag sie im Koma und bekam das volle Programm, wie Susan und ihre Kolleginnen es nannten, wenn sie sich im Aufenthaltsraum über die Patienten unterhielten. Doch das Schicksal von Annabell ließ Susan keinesfalls so kalt, wie es von Berufs wegen sein müsste, denn im Gegensatz zu den meisten Patienten, die sie zu betreuen hatte, war Annabell für sie keine Fremde. Sie war die Schwester des Mannes, der ihr vor Jahren das Herz gebrochen hatte.
Zwei Ärmchen schlangen sich um Susans Hals, und ein fröhlich gekrähtes »Guten Morgen, Mommy!« ließ sie kurzzeitig vergessen, warum sie die halbe Nacht hier gesessen und viele, viele Tränen vergossen hatte. Schnell verscheuchte sie die trüben Gedanken, die in ihrem Kopf vorherrschten, seitdem sie den Namen auf der Akte gelesen hatte. Lächelnd zog sie ihre fast vierjährige Tochter Cassy in die Arme. »Guten Morgen, mein Engel. Hast du gut geschlafen?« Das kleine Mädchen nickte eifrig, und kletterte auf ihren Schoß. Große Kinderaugen strahlten sie an, und Susans Herz quoll über vor Liebe zu diesem Kind.
Just da tauchte ein weiteres Augenpaar in ihren Gedanken auf. Grüne Augen, welche liebestrunken auf sie herabsahen. Kurze schwarze Haare, in denen noch die letzten Reste Schweiß glänzten vom vorangegangenen Liebesspiel. Ein Geflüstertes: »Wenn ich jetzt sterben müsste, dann wäre es als glücklicher Mann« und starke Arme, die sie umfingen wie ein Kokon aus Geborgenheit. Dann wechselte die Szenerie, und sie blickte auf ein vor Hass verzerrtes Gesicht. »Ich will dich niemals wiedersehen! Verschwinde einfach aus meinem Leben!«, brüllte dieses Gesicht ihr entgegen, und sie zuckte zusammen.
Susan blinzelte zweimal, ehe sie energisch den Kopf schüttelte und mitsamt Cassy aufstand. »Was hältst du von Pancakes, bevor es gleich zum Sonntagsspaziergang in den Park geht, mein Schatz?« Lautes Jubeln war ihr Antwort genug, und ihre Tochter lachend durch die Luft wirbelnd machte sie sich auf den Weg in die Küche.
***
»Das kann unmöglich dein Ernst sein, Susan Andrea Weatherbee!«, die Stimme von Meredith Weatherbee überschlug sich förmlich, während sie die Hände in die Hüften stemmte und sie empört ansah. Nachdem sie vom Spaziergang mit Cassy wiedergekommen und diese während dem Spielen erschöpft auf dem Wohnzimmerteppich eingeschlafen war, hatte Susan ihrer Mutter von Phils Angebot erzählt und das sie darüber nachdachte, den Job abzulehnen. Susan seufzte und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
Müde ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen. Ihre Mutter goss Kaffee in zwei Tassen, fügte Milch und Süßstoff hinzu und setzte sich dann zu ihr an den Tisch. »Mom. Es geht nicht. Ich werde Phil später anrufen, und ihm sagen, dass ich es nicht mache. Ich werde Annabell Thompson nicht pflegen!«
Meredith stellte die Kaffeebecher heftiger als nötig ab und sah sie kopfschüttelnd an. »Ich verstehe dich nicht, Susan. Ihr Bruder ist einer der reichsten Männer New Yorks, und er bietet ein wirklich großzügiges Gehalt bei fantastischen Arbeitszeiten. Du musst dieses Angebot einfach annehmen. Denk an die Zeit, die du mehr mit Cassy verbringen könntest.«
Susan starrte schweigend aus dem Fenster. Sie knetete ihre Finger, biss sich auf die Lippe, immer und immer wieder. Als ob ihr nicht selbst klar wäre, was es bedeutete, den Job abzulehnen. Sie würde weiter 12 bis 14 Stunden am Tag arbeiten müssen, inklusive Nacht- und Wochenenddiensten, von der vergleichsweise miserablen Bezahlung ganz zu schweigen. Meredith erhob sich und trat zu ihr. Vorsichtig löste sie die ineinander verknoteten Finger ihrer Tochter, kniete sich vor ihr nieder. Dann fuhr sie mit ihrer Hand unter Susans Kinn und zwang diese mit sanftem Druck, ihr ins Gesicht zu schauen. »Susan, wenn du diesen Job wirklich nicht annehmen willst, dann beantworte mir nur eine einzige Frage. Welcher Grund könnte gravierend genug sein, dass er es wert wäre, deiner Tochter die Zeit mit dir zu stehlen?«
»Michael Thompson ist Cassys Vater.«