Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 9
Michael
ОглавлениеDie Sitzung mit dem Aufsichtsrat hatte sich fast über den ganzen Tag hingezogen. Immer und immer wieder waren sie den Bericht durchgegangen, hatten ihn auf das Absinken in den Bereichen des europäischen Marktes hingewiesen und darauf, dass auch Asien nicht mehr das hergab, was vor einigen Jahren noch der Fall gewesen war.
Er kannte die Zahlen und Fakten und wusste, dass er in den letzten Jahren nicht alles für die Firma gegeben hatte. Trotzdem konnte er sich zu der Reise nach Europa nicht durchringen, auch wenn der Vorstand den Druck auf ihn vergrößerte.
Die verdammten Aasgeier warteten doch nur darauf, dass er auf dem Boden lag und sie seine Firma übernehmen konnten. Denen würde er es noch zeigen und ihnen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen.
Als er sein Vorzimmer betrat, saß Mrs. Davis immer noch hinter ihrem Schreibtisch und ihre Finger flogen über die Tastatur des Laptops.
»Ann, Sie sollten schon längst zuhause bei ihrer Familie sein«, mahnte Michael sie.
Er sah, wie sie ihm einen ungläubigen Blick zuwarf. War er die letzten Jahre so abweisend gewesen? Es schien, als ob er einiges ändern musste.
»Ich habe noch auf Sie gewartet, Mr. Thompson. Jonathan hat angerufen und mitgeteilt, dass die Firma ab Montag eine neue Pflegekraft schicken wird. Außerdem hat ihre Schwester heute einen guten Tag, daher wäre es schön, wenn Sie sie besuchen würden.«
»Danke, aber ob ich meine Schwester besuche oder nicht ist immer noch meine Sache. Auf Wiedersehen, Ann.« Mit schnellen Schritten steuerte er seine Bürotür an. Er war gerade vom Arsch des Tages zum Arsch der Woche aufgestiegen.
»Da mögen Sie Recht haben, Mr. Thompson, aber manchmal gehören Sie zu Ihrem Glück gezwungen«, rief sie ihm noch hinterher, bevor die Tür lautstark ins Schloss fiel.
Sein Vorsatz, etwas zu ändern, geriet gehörig ins Wanken. Michael warf die Unterlagen achtlos auf seinen Schreibtisch, packte sich sein Jackett und fuhr mit dem Aufzug direkt in die Tiefgarage.
Neben dem Lift standen mehrere Wagen, die alle ihm gehörten. Limousinen aufgereiht neben schnittigen Sportflitzern. Zielsicher ging er zu seinem schwarzen Chevrolet Camaro ZL 1 und ließ den satten Sound hören. Die 430 PS schnurrten unter der Motorhaube und Michael genoss das Gefühl, nachdem er den Wagen aus der Tiefgarage gelenkt hatte und endlich beschleunigen konnte.
Normalerweise wurde er zu seinen Terminen gefahren und konnte so immer noch etwas am Laptop arbeiten. Heute würde er aber nicht mehr arbeiten, sondern doch heim nach West Bay fahren. Die 1 ½ Stunden Fahrt schaltete er ab und dachte weder an die Arbeit, noch an Francoise und schon gar nicht an die zierliche kleine Person, die sich in den letzten Wochen mehr und mehr in seine Gedanken schlich.
Das durch einen Sender mit seinem Auto gekoppelte gusseiserne Tor schwang lautlos auseinander, als er in Reichweite kam. Es war schon einige Zeit her, dass er hier gewesen war. Bestimmt waren seit seinem letzten Besuch schon drei oder vier Wochen vergangen.
Früher, als Annabell noch an seiner Seite gewesen war, hatte er das Anwesen geliebt. Eben weil sie es so wundervoll gefunden hatte und sich gerne dort aufhielt. Dabei hatte sie einst eine kleine Wohnung in New York besessen, die er nach ihrem Überfall irgendwann aufgelöst hatte. Der Schritt war ihm schwergefallen, denn die kleine Maisonettewohnung war ihre Art gewesen, sich von ihm, dem großen Bruder, abzunabeln.
Seitdem ihre Eltern bei einem Anschlag ums Leben gekommen waren, hatte er die Vaterrolle für sie übernommen. Mit seinen damals 24 Jahren hatte er nicht nur die Firma übernommen, sondern auch die Verantwortung für seine 17-jährige Schwester.
Gerade ein Jahr hatte sie die Wohnung in New York bewohnt, als das Schicksal wieder zugeschlagen hatte. Wenn er damals nur rechtzeitig da gewesen wäre …
Er schob die Gedanken beiseite und stellte den Wagen vor dem imposanten Gebäude ab. Seine Eltern hatten schon immer einen Hang zum Dramatischen besessen und so war ihr Anwesen der Plantage Zwölf Eichen aus dem Film Vom Winde verweht nachempfunden. Seine Mutter hatte diesen Film geliebt und da sein Vater Michaels Mutter über alles liebte, hatte er ihr dieses Haus bauen lassen.
Früher einmal fand er es sehr romantisch und für diese eine Frau hätte er sicher auch alles getan. Er hätte ihr die Welt zu Füßen gelegt. Heute würde er ihr noch nicht einmal eine Reißzwecke vor die Füße werfen, so stark war die Wut in ihm verankert.
Er ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. Noch bevor er diese erreichte, wurde sie ihm schon von seiner Haushälterin Mrs. Mitchell geöffnet. »Michael, wie wundervoll, Sie auch wieder mal hier zu haben. Kommen Sie herein.«
Emma Mitchell war mittlerweile fast 65 Jahre alt und schon bei seinen Eltern angestellt gewesen. Nach dem tragischen Vorfall war sie wie selbstverständlich an seiner Seite geblieben und hatte viel für ihn und seine Schwester getan. Es hatte sie schwer getroffen, als Annabell angegriffen und ins Koma gefallen war.
Und doch ließ sie sich nicht unterkriegen und half Jonathan Briggs zur Zeit bei der Pflege von Michaels Schwester.
»Emma, Sie sehen wie immer fantastisch aus.« Er schloss die ältere Frau in die Arme. Sie war die Einzige, die er an sich ranließ.
Obwohl sie schon so viele Jahre zusammenlebten, waren sie immer beim förmlichen Sie geblieben und dennoch gab es keine engere Beziehung, die er im Moment führte, als mit ihr.
»Ihre Schwester wird sich freuen, Sie zu hören.«
»Dann werde ich gleich nach ihr schauen.«
Mrs. Mitchell war fest davon überzeugt, dass Annabell sie hörte und alles mitbekam, was um sie herum passierte.
Sie nahm ihm das Jackett ab und er begab sich in das Obergeschoss, wo neben seinen Räumlichkeiten auch das Zimmer von Annabell lag.
Der Abend war hereingebrochen und die Wandlampen spendeten spärliches Licht. Der Winter kam mittlerweile mit großen Schritten und die Reise nach Europa, bei der er unter anderem auch Frankreich, Italien und Spanien einen Besuch abstatten musste, wurde immer reizvoller.
Annabell hatte den Winter geliebt. Wenn der Schnee das Land einnahm und im Central Park die große Eisbahn eröffnet wurde, hatte man sie dort an den Wochenenden immer angetroffen.
Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Jonathan hatte damals darauf bestanden, sie nicht abzuschotten, sie sollte die alltäglichen Geräusche unbedingt mitbekommen. Egal ob es klingelte, das Hausmädchen saugte, oder Michael Besuch empfing, alles sollte Annabell hören. Wobei Letzteres aufgehört hatte, als er sich immer mehr in die Räumlichkeiten seiner Firma zurückzog.
Die Lampe auf dem Nachttisch tauchte Annabells Gesicht in ein warmes Licht. Die Jahre waren trotzdem nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Auch wenn er sich alles an Pflege leisten konnte, blieb es nicht aus, dass Annabell immer mehr abbaute und die Haare stumpf waren. Ihr Gesicht, welches sonst sehr eingefallen war, wirkte heute aber rosiger und glatter.
Er setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm die zerbrechlich wirkende Hand in seine.
»Hallo Annabell, du siehst heute wirklich gut aus. Es tut mir leid, dass ich mich in letzter Zeit so rargemacht habe. Ich habe die Firma schleifen lassen und muss nun Schadensbegrenzung betreiben.«
Ihre blasse, dünne Hand bildete einen starken Kontrast zu seiner großen und gebräunten.
»Guten Abend, Michael.« Jonathan war an ihn herangetreten. »Heute geht es Annabell besser. Man sieht es ihr sogar an.«
»Das ist mir auch sofort aufgefallen, Jonathan. Trotzdem wirkt sie zerbrechlich, als würde sie zerfallen«, brachte er mit erstickter Stimme hervor.
»Michael, sie wird aufwachen, du darfst den Mut nicht verlieren.«
Jonathan war von Anfang an Annabells Pfleger gewesen, schon als er sie aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatte.
»Ich habe vorhin von Mr. Donaldson von der Health Help International eine positive Antwort erhalten. Montag kommt eine neue Pflegerin, die sich tagsüber um Annabell kümmern wird.«
»Hoffentlich hat er darauf geachtet, dass sie für den Job auch geeignet ist.« Michael war wieder zu seinem eisigen Tonfall zurückgekehrt. Die letzte Schwester, Samantha Gomez, war drei Monate angestellt gewesen, dann war sie schwanger geworden. Die davor hatte ein ständig krankes Kind gehabt und die davor, war dem Arbeitsaufkommen nicht gewachsen gewesen – so ihre Aussage. An die anderen konnte sich Michael nicht mehr erinnern. Zu viele waren gekommen und gegangen, bis auf Jonathan. Dieser war immer an der Seite seiner Schwester gewesen und das rechnete er ihm hoch an.
»Am besten wäre ein Pfleger. Der kann nicht schwanger werden, seine Kinder haben eine Mutter, die sie betreuen kann und von der Belastbarkeit wollen wir gar nicht erst anfangen.« Er lief wieder zur Höchstform auf, es fehlte nicht mehr viel und er würde seinen Arsch-Titel auf das ganze Jahr ausweiten.
»Pfleger sind in dem Bereich sehr rar. Aber bisher haben wir uns auch noch nicht an die Health Help International gewandt. Das Personal soll hervorragend sein.«
»Danke Jonathan. Wie ich sehe, hast du alles im Griff. Ich muss dann eine Europareise planen, der Vorstand sitzt mir im Nacken. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«
Jonathan nickte ihm zu und Michaels Entschluss, die Geschäftsreise nicht mehr aufzuschieben, war gefallen. Er würde für den übermorgigen Sonntag einen Flug buchen und den Herren zeigen, dass er immer noch in der Lage war, sein Imperium zu führen.