Читать книгу Milly Darrell - Мэри Брэддон, Мэри Элизабет Брэддон - Страница 3
Erster Band. I. Kapitel.
Ich beginne das Leben.
ОглавлениеIch zählte gerade neunzehn Jahre, als ich meine Laufbahn als Schülerin und Lehrerin zugleich bei Miß Bagshots von Albury Lodge, Yorkshire, begann. Mein Vater war ein Landpfarrer mit einer schmächtigen Frau und vier Kindern, von denen ich das älteste war. Ich hatte von Kindheit an gewußt, daß der Tag kommen werde, wo ich meinen Lebensunterhalt in dem Berufe, der fast allein der Tochter eines armen Gentleman offen steht, erringen müßte. Ich hatte eine gute Erziehung genossen, und die erste Gelegenheit, die sich darbot, mich in der Welt unterzubringen, wurde von meinem armen Vater mit Freude ergriffen. Er verstand sich gerne dazu, die mäßige Entschädigung zu bezahlen, welche Miß Bagshots verlangte, damit ich in den Pflichten einer Gouvernante unterrichtet wurde und meine Lehrfähigkeit an den jüngeren Zöglingen im Erziehungsinstitute zu Albury Lodge erproben könnte.
Wie gut erinnere ich mich noch des Abends, wo ich daselbst anlangt. Es war ein düsterer unfreundlicher Tag zu Ende des Monats Januar, und ein feiner Regen, der, seit ich mein kleines nettes, väterliches Haus in Briarwood verlassen hatte, ohne Unterbrechung andauerte, hatte denselben nach unfreundlicher gemacht. Meine Reise, auf der ich dreimal die Züge wechseln mußte, war ebenso ermüdend als langweilig; aber des ohngeachtet gewährte mir das Bewußtsein, daß ich meiner Bestimmung näher sei, kein Gefühl der Befriedigung. Ich glaube, ich hätte vielmehr gewünscht, daß diese traurige Reise sich ins Unendliche verlängern möchte, wenn ich nur dadurch dem Beginn meines neuen Lebens hätte entgehen können.
Ein rumpelnder alter Omnibus brachte mich von der Eisenbahnstation nach Albury Lodge, nachdem er eine ältliche Dame mit saurem Gesicht an einem Hause vor dem Städtchen und einen kleinen Mann, den ich für einen Geschäftsreisenden hielt, an einem Wirthshause auf dem Markt abgesetzt hatte. Der kleine Ort bot selbst an diesem regnerischen Winterabend ein freundliches und behagliches Aussehen dar, und es fielen mir unter andern zwei schöne alte Kirchen und ein großes modernes Gebäude, das ich für das Rathhaus hielt, angenehm auf.
Wir kehrten der Stadt wieder den Rücken, ehe wir zu Albury Lodge gelangten. Es war ein großes, viereckiges, aus rothen Ziegelsteinen erbautes Haus an der Landstraße, von der es durch hohe Mauern abgesperrt wurde. Das große gußeiserne Thor auf der Vorderseite war mit Brettern verschlagen und als Eingang diente eine kleine Nebenpforte, durch die man auf einen gepflasterten Weg gelangte, der zu einer kleinen Thüre an der Seite des Hauses führte. Der Omnibuskutscher setzte mich an dieser Pforte mit allen meinen weltlichen Habseligkeiten ab, welche zu dieser Zeit meines Lebens aus zwei sehr kleinen Koffern und einem lackierten Toilettenkästchen bestand, das alle meine theuersten Schätze enthielt.
Ich wurde von einer sehr übellaunig aussehenden Hausmagd mit einer puritanischen Haube und einer fleckenlosen weißen Schürze eingelassen. Ich bildete mir ein, daß sie etwas verächtlich auf meine Koffer blickte, die wahrscheinlich für ihre eigene Garderobe zu klein gewesen wären.
»O, Sie sind wahrscheinlich die Gouvernante-Schülerin?« sagte sie. »Sie sind schon zeitig diesen Nachmittag erwartet worden. Miß Bagshot und Miß Susan sind ausgegangen zum Thee; aber ich kann Ihnen ihre Schlafstelle zeigen, wenn Sie mit mir gehen wollen. Glauben Sie, daß Sie einen Ihrer Koffer tragen können, wenn ich den andern nehme?
Ich glaubte ich könnte es und so schleppten die Hausmagd und ich dieselben nach der kleinen Thüre an der Seite des Wohngebäudes und von dort eine Hintertreppe hinauf bis in das oberste Stockwerk, wo mich die Dienerin in ein langes kahles Gemach mit zehn kleinen Betten führte. Das öde Aussehen der Schlafsäle in den gewöhnlichen Erziehungsinstituten war mir nichts Neues, aber dieser kam mir ganz besonders traurig vor.
Eine Gasflamme brannte an dem einen Ende des Gemachs in der Nähe einer Thüre, die zu einem Waschzimmer führte, das indeß so klein war, daß es nur für einen einzigen Waschtisch Raum hatte, in dem aber zehn junge Mädchen ihre täglichen Waschungen vornehmen mußten. Hier wusch ich mein Gesicht und meine Hände in eisig kaltem Wasser und ordnete mein Haar, so gut ich es ohne die Hilfe eines Spiegels, eines Luxusgegenstands, für den in Albury Lodge keine Vorsorge getroffen war, zu thun vermochte. Während ich auf diese Weise meine kurze Toilette machte, sah mir die Dienerin zu, indem sie darauf wartete, mich nach dem Schulzimmer zu führen. Vor Frost zitternd folgte ich ihr in ein großes leeres Gemach im ersten Stock. Die Ferien waren noch nicht ganz vorüber und von den Zöglingen war noch keine zurückgekehrt. Eine fast peinliche Sauberkeit und Nacktheit herrschte überall in diesem Gemach und ich konnte mich des Gedankens nicht enthalten, daß ein Saal in einem Arbeitshause mindestens ebenso freundlich aussehen würde. Selbst das Feuer in dem hochvergitterten Kamin schien anders zu brennen als andere Feuer dieser Art. Es wurde dies, wie ich später erfuhr, durch reichliche Beimischung von Coks bewirkt. Ein langsamer Rauch stieg aus der trägen Masse auf, die nur selten durch eine schwache gelbliche Flamme belebt wurde. Ein einziges Gaslicht erhellte spärlich dieses lange düstere Gemach, in dem sich außer mir und meiner Führerin kein menschliches Wesen befand.
»Ich werde-Ihnen gleich etwas zum Abendessen bringen, Miß,« sagte die Hausmagd und entfernte sich, ehe ich um jenes weibliche Lieblingsgetränk, um eine Tasse Thee, eine schüchterne Bitte vorbringen konnte.
Ich hatte nicht erwartet, am ersten Abend meiner Ankunft mich ganz allein zu finden und ein Gefühl hoffnungsloser Verlassenheit überkam mich, als ich mich an dem einen Ende eines langen grünen Wachstuch überzogenen Tisches niedersetzte und den Kopf auf meine übereinander gefaltete Arme legte. Dies war allerdings sehr schwach und töricht von mir, ein schlimmer Anfang meines neuen Lebens; aber ich bin ganz unfähig, gegen dieses Gefühl äußersten Elends anzukämpfen. Ich dachte an Alle, die ich zu Hause zurückgelassen hatte. Ich dachte, wie mein Leben beschaffen sein würde, wenn mein Vater ein wenig besser daran wäre und dann brach ich in Weinen aus, als ob mir das Herz brechen wollte.
Plötzlich fühlte ich mitten in diesem törichten Ausbruch eine leichte Hand auf meiner Schulter und, als ich aufblickte, sah ich ein Gesicht über mich gebeugt, ein Gesicht voll von Theilnahme und Mitleid.
O Milly Darrell, meine herzensgeliebte Freundin, auf welche Weise soll ich beschreiben, wie Du an diesem Abend vor meinen Augen erschienen bist? Wie wenig vermögen meine Worte Deine jungfräuliche Schönheit zu schildern, wie Du in diesem schwach erleuchteten Schulzimmer mit himmlischer Theilnahme in deinen dunkeln beredten Augen zu mir niederblicktest!
Gerade in diesem Augenblicke war ich so elend und so geneigt, in meinem Elend mürrisch zu sein, daß selbst der Anblick dieses freundlichen Gesichts mir wenig Vergnügen machte. Ich stieß die sanfte Hand verdrießlich zurück und erhob mich rasch von meinem Sitze.
»Bitte, weinen Sie nicht mehr,« sagte die junge Dame, »ich kann Sie nicht so weinen hören.«
»Ich werde nicht mehr weinen,« antwortete ich, in rascher heftiger Weise meine Augen trocknend.
»Es war sehr thöricht von mir, überhaupt zu weinen; aber dieser Platz hatte ein so freudloses trauriges Aussehen und ich dachte an Vater und Mutter und an Alles, was ich zu Hause verlassen habe.«
»Es war ganz natürlich, daß Sie an dieselben dachten. Alles kommt uns am ersten Abend so kalt und düster vor; aber Sie sind doch sehr glücklich, daß Sie so viele Lieben zu Hause haben. Ich habe nur meinen Papa.«
»So!« sagte ich, kein besonderes Interesse für ihre Angelegenheiten hegend.
Ich blickte sie an, wie sie ein wenig an den Tisch gelehnt dastand und nachlässig mit den an ihrer goldenen Kette hängenden Kleinodien spielte. Sie war wirklich sehr schön, eine Brunette, mit einer kleinen graden Nase, mit braunen Augen und dunkelbraunen Haaren. Ihr Mund war der schönste, den ich in meinem Leben gesehen hatte und gab ihrem Gesichte einen unaussprechlichen Reiz. Ihr Kleid bestand aus violetter Seide mit reichem weißen Spitzenbesatz am Hals und an den Aermeln.
»Sie werden die Dinge viel angenehmer finden, wenn die Mädchen zurückkommen. Natürlich ist die Schule im Vergleiche zum elterlichen Hause immer ein wenig langweilig. Man ist ja darauf vorbereitet, aber ich zweifle nicht daran, daß Sie sich hier ebenfalls auch glücklich fühlen werden und ich hoffe, daß wir sehr gute Freundinnen sein werden. Ich glaube, Sie müssen die Miß Crofton sein, von der ich in der letzten Zeit sprechen hörte?«
»Im mein Name ist Crofton — Mary Crofton.«
»Und der meinige ist Emily Darrell. Zu Hause und von Allen, die mich lieben, werde ich Milly genannt. Ich bin eine Pensionärin mit eigenem Zimmer und kann nach Gefallen im Hause herumgehen. Ich bin, wie Sie sehen, zu alt für die Schule, aber ich werde zu Ende dieses Jahres nach Hause zurückkehren. Ich wurde daheim von einer Gouvernante erzogen; aber dann setzte sich Papa in den Kopf, ich würde unter Mädchen von meinem eigenen Alter glücklicher sein und schickte mich in das Institut. Er ist seit dieser Zeit auf Reisen und so bin ich während der Weihnachtsferien nicht zu Hause gewesen. Sie können sich denken, wie unangenehm dies war.«
Ich versuchte theilnehmend auszusehen und, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, fragte ich, ob Miß Darrells Vater in der Nachbarschaft wohne.
»O nein,« antwortete sie, »er wohnt über hundert Meilen entfernt in einem sehr wilden Theile von Yorkshire, nicht weit von der See. Aber Thornleigh — das ist der Name unseres Hauses — ist ein so theurer alter Platz und ich liebe unser wildes Land mehr als den lieblichsten Ort in der Welt. Ich bin dort geboren und alle meine glücklichen Erinnerungen an meine Kindheit und meine Mutter sind mit diesem theuren alten Hause verknüpft.«
»Ist es schon lange her, seit Sie Ihre Mutter verloren haben?«
»Zehn Jahre Ich liebte sie so sehr. Es giebt Gegenstände, über die man nicht zu reden wagt. Ich traue mir nicht oft zu, über sie zu sprechen.«
Nach dieser Aeußerung fühlte ich mich etwas mehr zu ihr hingezogen. Zuerst war es mir vorgekommen, als ob sie durch ihre Schönheit und ihren hübschen Anzug eine gewisse Ueberlegenheit mir gegenüber ausübe; ich hatte das Gefühl, als ob sie ein Wesen anderer Art -— ein frohes glückliches Wesen sei, das von den gewöhnlichen Leiden des Lebens nicht berührt werde. Aber jetzt, wo sie von ihrem eigenen Kummer gesprochen hatte, fühlte ich mich auf gleichem Standpunkt mit ihr und ich stahl meine Hand schüchtern in die ihrigen und murmelte eine Entschuldigung über meine frühere Unhöflichkeit.
»Sie waren nicht unhöflich. Ich wußte, daß ich Ihnen sehr zudringlich erscheinen mußte, als ich Sie störte, aber ich konnte es nicht ertragen, Sie so weinen zu hören. Und nun sagen Sie mir, wo Sie schlafen.«
Ich beschrieb das Gemach so gut ich konnte.
»Ich weiß, welches Sie meinen,« sagte sie, »es befindet sich neben meinem Zimmer. Ich genieße das Vorrecht, ein solches für mich zu besitzen und habe an halben Ferientagen ein Feuer dort, während ich meine Briefe schreibe oder male, und Sie müssen zu mir kommen und diese Nachmittage bei mir zubringen und wir können miteinander so glücklich als möglich sein, indem wir plaudern und arbeiten. Malen Sie auch?«
»Ein wenig — so nach Schulmädchen Art.«
»Ganz so wie ich,« sagte Miß Darrell, fröhlich lachend; »nur sind Sie bescheidener. O, hier kommt Ihr Abendessen; darf ich mich zu Ihnen setzen, während Sie es verzehren?«
»Es wird mich freuen, wenn Sie mir Ihre Gesellschaft schenken wollen.«
»Ich hoffe, Sie haben für Miß Crofton ein gutes Abendessen gebracht, Sarah,« fuhr sie in derselben leichten Weise fort. »Sie müssen wissen, Miß Crofton, daß Sarah ein sehr gutes Wesen ist, obschon sie Fremden gegenüber ein wenig mürrisch erscheint. Es ist dies nur eine angenommene Gewohnheit von ihr. Ich versichere Ihnen, sie kann auch lächeln, obschon Sie es kaum glauben werden.«
Sarahs harter Mund verzog sich darauf zu einer Art von Grinsen.
»Es ist nicht mit Ihnen auszukommen, Miß Darrell,« sagte sie, »Sie haben eine so eigene Art und Weise. Ich habe für Miß Crofton etwas kaltes Rindfleisch gebracht; wenn sie aber ein bisschen eingemachtes Obst dazu wünscht, so will ich gerne die Köchin darum ersuchen. Kaltes Fleisch ißt sich ohne Zuspeise ein wenig trocken.«
Dieses »Bisschen Eingemachtes« war offenbar ein Zugeständniß, das man mir, Emily Darrell zu gefallen, gemacht hatte. Ich dankte Sarah und sagte, ich wolle sie nicht bemühen, nochmals in die Küche zu gehen. Ich war von meiner Reise ermüdet und hatte seit Morgens nichts gegessen; aber das köstlichste Mahl würde mich diesen Abend gleichgültig gelassen haben. So setzte ich mich schweigend zu meinem Abendessen von Brod und Fleisch nieder und hörte, während ich aß, dem Geplauder von Milly Darrell zu.
Natürlich sagte sie mir Alles in Bezug auf die Schule, über Miß Bagshot und Miß Susan Bagshot.
Für die ältere der beiden Damen hegte sie eine besondere Zuneigung. Miß Susan war in der entfernten Zeit ihrer Jugend das Opfer irgend einer unglücklichen Liebesgeschichte gewesen, was ihren Charakter so versauert hatte, daß sie auf die Vergnügungen und Thorheiten der Jugend mit scheelem Auge blickte. Es war leicht, Miß Bagshot, die Aeltere, welche ein angenehmes matronenartiges Wesen an sich hatte und eine wahre Zuneigung zu ihren Zöglingen hegte, zufriedenzustellen, aber fast unmöglich, mit Miß Susan auszukommen.
»Und ich sage es mit Bedauern, daß Sie sehr viel mit ihr in Berührung kommen werden,« bemerkte Miß Darrell kopfschüttelnd, »denn Sie werden die zweite englische Klasse unter ihr erhalten — ich hörte sie dies heute beim Mittagessen sagen — und ich fürchte, sie wird Ihnen das Leben sauer genug machen; aber Sie müssen versuchen, nicht ärgerlich darüber zu werden und die Dinge so ruhig als möglich hinzunehmen und Sie werden sich dann gewiß auch mit ihr auf guten Fuß stellen.«
»Ich hoffe es wenigstens,« sagte sich traurig und dann fragte mich Miß Darrell, wie lange ich zu Albury Lodge zu bleiben gedenke.
»Drei Jahre,« sagte ich ihr, »und dann wird mich Miß Bagshot irgendwo als Gouvernante unterbringen.«
»Sie werden also stets eine Gouvernante bleiben?«
»Ich vermuthe es.« Das Wort »stets« verursachte mir einen kleinen scharfen Schmerz, fast wie eine Wunde. Ja, ich glaubte es selbst, daß ich es stets bleiben würde. Ich war weder hübsch, noch sonst anziehend. Konnte ich demnach etwas Anderes erwarten?
»Ich bin genöthigt, etwas für meinen Unterhalt zu thun,« sagte ich, »mein Vater ist sehr arm. Ich hoffe, später im Stande zu sein, ihm ein wenig beizustehen.«
»Und mein Vater ist so lächerlich reich. Er ist ein großer Eisenwerkbesitzer und hat Werften und Waarenhäuser und Gott weiß was sonst noch zu North Shields. Wie hart erscheint es!«
»Was erscheint hart?« fragte ich zerstreut.
»Daß das Geld so ungleich vertheilt ist. Ich glaube, ich würde mir nichts daraus machen, eine Gouvernante zu werden. Man würde auf diese Weise das Leben kennen lernen. Man muß allerlei Abenteuer erleben, wenn man so unter Fremde kommt.«
Ich betrachtete sie, wie sie mich anlächelte, mit einem Lächeln, das ihrem Gesichte einen unbeschreiblichen Reiz verlieh und ich dachte mir, daß es für sie in der That keine so dunkle Lebensstellung gäbe, wo ihr nicht irgend ein Triumph, irgend ein Erfolg zu Theil werden würde. Sie schien ein Wesen, dazu geboren, den gewöhnlichsten Dingen einen Reiz zu verleihen, ein Wesen, das überall nur Bewunderung und Zuneigung ernten sollte.
»Sie eine Gouvernante!« sagte ich ein wenig verächtlich. »Sie sind nicht von dem Thone, aus dem man Gouvernanten macht«
»Warum nicht?«
»Sie sind viel zu schön und zu bezaubernd.«
»O Mary Crofton, Mary Crofton — darf ich Sie Mary nennen? da wir doch Freundinnen sein werden — wenn Sie damit beginnen, mir auf diese Weise zu schmeicheln, wie soll ich Ihnen vertrauen und mich auf Sie stützen? Ich bedarf Jemand mit einem stärkeren Geist, als mein eigener ist, um mich auf den rechten Weg zu leiten, denn ich bin, wie ich glaube, das schwächste und eitelste Geschöpf in der Welt. Papa hat mich so verzogen.«
»Wenn Sie stets so sind, wie diesen Abend, so hat das Verziehen keinen großen Schaden angerichtet,« sagte ich.
»Ich bin immer freundlich genug, so lange ich meinen eigenen Willen habe. Und nun erzählen Sie mir Alles über Ihre Heimat.«
Ich gab ihr einen treuen Bericht über meine Brüder und meine Schwester und machte ihr eine kurze Beschreibung von unserm kleinen altmodischen Hause mit seinen weißen gestrichenen Wänden, seinen vielen Giebeln und seltsamen Gitterfenstern. Ich erzählte ihr, wie glücklich und zufrieden wir stets zu Hause mit einander gewesen waren und wie schwer mir die Trennung von denjenigen, die ich liebte, geworden war und Milly Darrell hörte mir mit unverstellter Theilnahme zu.
Schon am nächsten Morgen begann mein neues Leben mit vollem Ernste. Miß Susan Bagshot gestattete mir nicht, meine Zeit bis zur Ankunft meiner Zöglinge müßig hinzubringen. Sie gab mir einen Stoß von Aufgaben zur Durchsicht und trug mir die Vollendung einer schwierigen Nadelarbeit auf. Ich fand in der That, daß ich an dieser, in der Liebe schiffbrüchigen Dame eine scharfe Zuchtmeisterin besaß.
»Mädchen Ihres Alters sind so unverbesserlich träge,« sagte sie, »daß Sie in Albury Lodge keine Zeit zum Müßiggang haben werden. Um dreiviertel auf Sechs läutet die Glocke zum ersten mal und um Viertel auf Sieben erwarte ich Sie im Schulzimmer zu sehen. Sie werden von da an bis um acht Uhr, wo wir frühstücken, die Clavierübungen der jüngeren Zöglinge überwachen. Von neun bis zwölf Uhr werden Sie in der zweiten Abtheilung der zweiten Klasse den Unterricht im Englischen übernehmen. Nach dem Mittagessen bis vier Uhr werden Sie diesen Unterricht fortsetzen, und von vier bis fünf die Klasse für Nadelarbeit beaufsichtigen. Ihre Abende werden — mit Ausnahme der sorgfältigen Durchsicht und Verbesserung aller schriftlichen Aufgaben des Tags — Ihnen angehöre. Ich hoffe, daß Sie eine aufrichtige Neigung für Ihren Beruf haben, Miß Crofton.«
Ich sagte, ich hoffe meine Beschäftigung mehr und mehr lieb zu gewinnen, je mehr ich damit vertraut würde.
Miß Susan schüttelte bedenklich den Kopf.
»Wenn Sie keine wahre Neigung für Ihren Beruf haben, so werden Sie niemals etwas Tüchtiges darin leisten.« sagte sie feierlich.
Ich gestehe offen, daß ich diese Neigung, von der sie sprach, niemals in mir fühlte. Ich bestrebte mich, meine Pflicht zu thun und unterzog mich der schweren Aufgabe, wie ich hoffe, mit Geduld und Heiterkeit. Aber die trockene Einförmigkeit dieses Berufs hatte nichts Angenehmes für mich und ich konnte nicht begreifen, wie Miß Susan — wie es offenbar der Fall war — in der Ausübung ihrer Autorität über diese unglücklichen Schülerinnen ein Vergnügen finden konnte.