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Erzählweise:39 Brevitas

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In der Sprachreinheit selbst zeigte sich noch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Gracchus und Cicero. Anders steht es hinsichtlich der brevitas40; die Analyse des Cicero-Textes wird indirekt zeigen, wie knapp Gracchus schreibt.

In Fragment 48 reiht Gracchus asyndetisch die Fakten. Relief schafft der Tempuswechsel bei der Reaktion der Gattin: uxor renuntiat; das historische Präsens sticht von den umgebenden Perfekta absichtlich ab.41 Die Satzverbindung durch idcirco leitet das Aufstellen des Schandpfahles ein und hebt stark die Geringfügigkeit des Grundes hervor. In einem sonst asyndetischen Stil gewinnt ein solches Adverb strukturelle Bedeutung. In der ganzen Erzählung herrscht Zweigliedrigkeit, die durch gleichartige Satzanfänge unterstrichen wird: Satz 1 und Satz 3 beginnen mit uxor; vgl. später die Eigennamen CaleniFerentini und im Schlusssatz alteralter. Ähnliche Funktion hat die Alliteration: vestimentavirgis. Der Gesamtaufbau ist dreigliedrig: Vorgeschichte (2 mal 2 Sätze); Ereignis (2 mal 2 kurze Sätze); Folgen (2 längere Sätze).

Man beachte das Fehlen jeglichen emotionalen Kommentars.

Am Anfang der Cicero-Stelle herrscht wie bei Gracchus asyndetische Satzverbindung. Neu ist das physiognomische Portraitieren des Seelischen: toto ex ore crudelitas eminebat. Viel zu blass wäre eine Übersetzung wie „Grausamkeit stand ihm auf der Stirn geschrieben“. Das Seelische spiegeln affektische Adjektive und Partizipien (inflammatus scelere et furore; illius miseri; o nomen dulce; o ius eximium; o graviter desiderata… tribunicia potestas; acerba imploratio et vox miserabilis; fletu gemituque maximo) sowie psychologische Abstrakta (scelere et furore; crudelitas). Während Gracchus sich damit begnügt, nur eigentliche Bezeichnungen zu gebrauchen, wie es dem Stil des Berichtes entspricht, verwendet Cicero ausdrucksvollere Verben:42

Gracchus Cicero
Adductus …Marius proripi
vestimenta detracta sunt nudari.

Gehen wir nun zum Gesamtaufbau über! Während Gracchus einfach berichtet, versteht es Cicero, die Ereignisse durch weitere Aufgliederung in Teilvorgänge, die stufenweise aufeinander folgen, den Zuhörern szenisch vor Augen zu führen.43 Eines der wichtigsten Mittel ist dabei das Imperfekt44 und der umschriebene coni. fut.: expectabant omnes, quo tandem progressurus aut quidnam acturus esset. Durch diese Verbalformen wird eine erwartungsvolle Spannung geschaffen, die sich in dem folgenden cum repente blitzartig löst.

Bei Gracchus ist die Handlung, kaum dass sie begann, schon zu Ende; Cicero schafft hingegen zum Beispiel durch das Bereitstellen der Ruten eine wirkungsvolle Retardierung. Während Gracchus sich durch das nüchterne Perfekt caesus est die Möglichkeit intensiver Vergegenwärtigung nimmt, gebraucht Cicero – noch dazu in expressiver Anfangsstellung45 – das Imperfekt caedebatur. Durch diutina repraesentatio, wie Gellius es nennt, kann Cicero eine Szene aufbauen: allgemeines Schweigen, Knallen der Peitschenschläge … und vor diesem Hintergrund erklingen aus dem Munde des Gequälten die Worte: „Ich bin römischer Bürger.“ So lässt Cicero das Empörende des Vorgangs dramatisch im Geschehen selbst hörbar werden, während Gracchus sich mit der bloßen Feststellung begnügt, dass es sich um den vornehmsten Mann seiner Stadt handelt.

Das phantasiebetonte Imperfekt erscheint nochmals bei der Zurüstung des Kreuzes, begleitet von einer ausdrucksstarken Gemination: crux, crux, inquam … comparabatur.46 Überhaupt haben die Wortwiederholungen in dem Cicero-Text intensivierende Wirkung, so das thematisch wiederkehrende civis Romanus beziehungsweise civitas und populus Romanus, ebenso das Polysyndeton mit neque und das anaphorische o.

Cicero lässt also den Affekt nicht nur unterschwellig mitschwingen, sondern im Wort in Erscheinung treten (dies zeigt der Gebrauch affektischer Adjektive und psychologischer Abstrakta und überhaupt die ausführliche, sich an die Erzählung anschließende commiseratio).47

Er stellt dem Zuhörer das Geschehen dramatisch vor Augen (diesem Ziel dient die Wahl expressiver Verben, betonter Anfangsstellung, die Schaffung eines spannungsoder erwartungsvollen Hintergrundes durch die Verwendung des – hier bei Gracchus völlig fehlenden – Imperfekts und die Kunst der Retardierung durch die Auffächerung eines Gesamtvorgangs in Einzelphasen, die in ihrer Abfolge einen dramatischen Stufengang ergeben).48

Die Versuchung ist groß – und in der Tat sind ihr die meisten Deuter erlegen –, Cicero gegen Gracchus auszuspielen, sei es als absolute stilistische Norm oder als die historisch reifere Erscheinung. Diese Ansichten sind im Prinzip ebenso einseitig wie es der eigensinnige Versuch mancher Archaisten war, Gracchus über Cicero zu stellen.49

Wie gefährlich zum Beispiel die Vorstellung ist, Gracchus habe diese oder jene Mittel „noch nicht“ zur Verfügung gehabt, zeigt folgender Cato-Text, der eine reiche Palette der Affekte aufweist und doch aus der Zeit vor Gracchus stammt:50

Dixit a decemviris parum bene sibi cibaria curata esse. Iussit vestimenta detrahi atque flagro caedi. Decemviros Bruttiani51 verberavere, videre multi mortales. Quis hanc contumeliam, quis hoc imperium, quis hanc servitutem ferre potest? Nemo hoc rex ausus est facere: eane fieri bonis, bono genere gnatis, boni consultis? Ubi societas? Ubi fides maiorum? Insignitas iniurias, plagas, verbera, vibices, eos dolores atque carnificinas per dedecus atque maximam contumeliam, inspectantibus popularibus suis atque multis mortalibus, te facere ausum esse? Set quantum luctum, quantum gemitum, quid lacrimarum, quantum fletum factum audivi! Servi iniurias nimis aegre ferunt: quid illos, bono genere gnatos, magna virtute praeditos, opinamini animi habuisse atque habituros, dum vivent?52

Er sagte, er sei von den Zehnmännern nicht gehörig mit Lebensmitteln versorgt worden. Er befahl, ihnen die Kleider auszuziehen und sie auszupeitschen. Zehnmänner von Bütteln geprügelt! Viele Menschen haben es gesehen. Wer kann diesen Schimpf, wer diesen Missbrauch des Oberbefehls, wer diese Knechtschaft ertragen? Kein König hat dies zu tun gewagt: Darf wohlangesehenen Leuten aus guter Familie mit guter Gesinnung dies widerfahren? Wo bleibt das Bündnis? Wo das Wort, das die Vorfahren gegeben haben? Schreiende Ungerechtigkeiten, Streiche, Schläge, Striemen, Schmerzen und Schindereien in Schmach und höchstem Schimpf vor den Augen ihrer Landsleute und vieler Menschen hast du dir erlaubt! Aber wie groß war die Trauer, wie groß der Jammer, welche Fülle von Tränen, wie gewaltig das Schluchzen, wie ich vernommen habe! Schon Sklaven nehmen ungerechte Behandlung gewaltig übel: Wie, meint ihr, muss jenen Leuten aus guter Familie, sehr verdienten Männern, zumute gewesen sein, und wie wird ihnen noch zumute sein, solange sie leben?53

Im Vergleich mit Gracchus ist die Wortfolge bei Cato freier; er kennt – wie später Cicero – auch die expressive Anfangsstellung des Verbs:54 videre multi mortales.55

Der Text zeigt, dass der Censor nicht um jeden Preis nach Kürze strebt, sondern dass auch er die ubertas liebt. Die ciceronische miseratio mit Anaphern, affektischen Substantiven und Adjektiven ist vorweggenommen, nur haben die Sätze bei Cato kürzeren Atem, und es fehlt die dramatische Steigerungstechnik.56

Der Vergleich mit Cicero und Cato ermöglicht somit zwei negative Aussagen über Gracchus:

1) Er erzählt nicht eigentlich anschaulich und dramatisch, er baut keine effektvolle Steigerung auf wie Cicero.

2) Er setzt hier die miseratio nicht ein, obwohl schon Cato sie kennt.

Zumindest bei dem zweiten Punkt muss man also von Absicht sprechen.57 Damit wäre aber die Auffassung, die bei Gracchus nur Primitivität sehen will, überwunden. Wir sind also berechtigt, auch positiv nach den Kunstprinzipien des Gracchus in der vorliegenden Erzählung zu fragen.

Meister römischer Prosa

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