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Rationalität: Acutum
ОглавлениеDer Aufbau der gracchischen Erzählung ist, wie wir feststellten, streng rational; es dominiert Zweigliedrigkeit, mehrfach durch Parallelismus unterstrichen. Die Durchschaubarkeit der Struktur, verbunden mit der harten Sprache der Tatsachen, gibt dem Ton etwas Schneidendes, Entlarvendes. In solcher Rationalität liegt das Charisma, das Gracchus als „Intellektuellen“ auszeichnet.
Der brevitas steht das acutum58 nahe, dem die Vorstellung einer kurzen, scharfen Stoßwaffe zugrunde liegt. Inhaltlich wird der Sinn auf engstem Raume zusammengedrängt,59 ethisch zeugt der Ausdruck von ernster und würdevoller Haltung (gravitas), formal kommt er häufig der Sentenz nahe oder erscheint sonstwie pointiert.60
Nicht zufällig ist daher die Antithese die am häufigsten in den Fragmenten erscheinende Figur.61 Einige Beispiele: pessimi Tiberium fratrem meum optimum interfecerunt.62 Wie treffend die Umkehrung des für den Mörder Nasica als erblich beanspruchten Titels vir optimus63 unter Verwendung der Schlagwörter boni und mali cives! Mit der nah verwandten Gegenüberstellung von boni und improbi64 spielt Gracchus in folgendem Fragment: abesse non potest, quin eiusdem hominis sit probos improbare, qui improbos probet.65 Wir verdanken das Zitat Cicero, der jedoch einen Verbesserungsvorschlag macht: qui improbos probet probos improbare.66 Dies ergibt eine noch schärfere Pointierung und vor allem eine Klausel. Die Wortstellung ist in der ciceronischen Fassung verschränkter, etwas künstlicher, als es bei Gracchus erwartet werden kann.67 Hellenistische Schulung spricht aus folgendem Satz: quae vos cupide per hosce annos adpetistis atque voluistis, ea si temere repudiaritis, abesse non potest quin aut olim cupide adpetisse aut nunc cupide repudiasse dicamini.68
Die Periodisierung ist sorgfältig: Der Vordersatz umfasst 32 Silben, der Nachsatz 31; wir beobachten darin je zwei mit aut beginnende Stücke von jeweils zehn Silben.69 An Gorgias und Isokrates erinnert angesichts dieser Periode E. Norden.70 Allerdings ist er ausnahmsweise weniger kritisch als ein antiker Kenner,71 der hier eine Tautologie entdeckt: In der Tat leidet die Pointe darunter, dass die entscheidenden Adverbien schon in der ersten Satzhälfte erscheinen. Eine Übersetzung macht die Schwäche sichtbar: „Wenn ihr, was ihr diese Jahre hindurch begierig erstrebt und gewollt habt, jetzt blindlings verschmäht, so kann es nicht ausbleiben, dass man von euch entweder sagt, ihr hättet es einst in blinder Gier begehrt oder jetzt blindlings verschmäht.“ In der Übertragung verliert der Satz seinen strengen Aufbau und damit seine Wirkung. Um der Architektonik willen hat Gracchus hier eine Tautologie in Kauf genommen. In jeder Beziehung geglückt ist jedoch folgende Steigerung: pueritia tua adulescentiae inhonestamentum fuit, adulescentia senectuti dedecoramentum, senectus rei publicae flagitium.72 Dieser Satz ging unter die Schulbeispiele für eine gute Klimax ein, und diesem Umstand verdanken wir seine Erhaltung.73
Von der entlarvenden Erzählung ist nur ein Schritt zur schonungslosen Offenheit und Konsequenz des Fragments 44. Hier sein Gedankengang: Alle wollen etwas von euch; keiner von uns arbeitet umsonst; auch ich nicht: Ich will Ehre von euch; wer gegen das zur Debatte stehende Gesetz spricht, will nicht Ehre von euch, sondern Geld von Nikomedes; wer für das Gesetz spricht, will auch nicht Ehre von euch, sondern Geld von Mithridates; wer schweigt, ist der schlimmste: er ließ sich von beiden bestechen.
Wir versuchten, das acutum im Stil des Gracchus inhaltlich und formal als Symptom seiner ausgeprägten Rationalität zu begreifen. Derselbe Zug spiegelt sich auch, wie wir beiläufig feststellen konnten, in der Anwendung griechischer Technik;74 in beidem liegt jedoch für Gracchus nichts Fremdartiges. Einerseits bedeutet das Streben nach pointierten Formulierungen die Sublimierung einer genuin italischen Anlage, andererseits gewinnt gerade im rhythmischen Aufbau des Satzes nicht griechische Lehre allein, sondern auch die „architektonische“ Tendenz der lateinischen Sprache Gestalt. Der Reinheit des sprachlichen Substrats entspricht die Luzidität gracchischer Diktion, die dem acutum einen anderen Charakter verleiht, als es bei Cato der Fall ist.75