Читать книгу Meister römischer Prosa - Michael Albrecht - Страница 40
Vortrag
ОглавлениеWenn Gellius das Fehlen emotionaler Appelle beanstandet, achtet er vielleicht zu wenig auf die feinen Nuancen der Wortstellung, die innerhalb jener schlichten Sprache doch Akzente setzen. Affekt, Hass und Ironie – so meint er – kommen hier nicht genügend zum Ausdruck.82 Konnte der Redner sie aber nicht in den Ton des Vortrags legen? Was schon die Wortfolge nahelegt, bestätigt die Überlieferung. Gracchus war ein Meister des Vortrags und griff sogar zu starken außerliterarischen Mitteln, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Plutarch schildert sein lebhaftes Agieren im Gegensatz zu dem gesetzten Wesen des Bruders.83 Cicero stellt C. Gracchus als Vortragskünstler in eine Reihe mit Demosthenes.84 Man darf bei Gaius von einer Kunst des „Registrierens“ sprechen, hatte er doch, was uns Moderne bei einem Redner überrascht, stets einen Mann neben sich, der, sooft sein Herr zu tief oder zu heftig sprach, mit einer Stimmpfeife den Ton angab.85
Eine der pathetischsten Stellen des Gracchus hat nach dem Zeugnis Ciceros auf das Publikum offenbar noch mehr durch die Kunst des Vortrags als durch ihren bloßen Wortlaut gewirkt:86 „Quo me miser conferam? Quo vertam? In Capitoliumne? At fratris sanguine madet.87 An domum? Matremne ut miseram lamentantem videam et abiectam?“88
Man hat seit langem bemerkt, dass es zu dieser Stelle in der vorausgehenden und späteren Literatur Parallelen gibt.89 Dabei ist die Berührung mit Euripides enger als mit Ennius: Wie Euripides setzt Gracchus hinter jede Frage sogleich den Einwand und gewinnt dadurch eine lebendige, abwechslungsreiche und doch sehr klare Gliederung. Da E. Norden den Gedanken einer direkten Benutzung des Demosthenes zurückgewiesen hat90 – denn es ist unwahrscheinlich, dass Gracchus aus der demosthenischen Trivialisierung dies gewaltige Pathos entwickelt haben sollte91 –, bleibt es die beste Erklärung, dass Gracchus aus griechischer Schultradition schöpft. Die frappierende Ähnlichkeit mit Euripides erklärt sich meines Erachtens am einfachsten daraus, dass die griechischen Rhetoren ihre Lehren aus mnemotechnischen Gründen gern mit Dichterzitaten exemplifizierten.
Fragt man sich, warum die Stelle bei Gracchus ergreifend wirkt, so drängen sich bezeichnenderweise zunächst nicht stilistische Erwägungen auf, sondern einmal die beklemmende Situation, in der die Worte gesprochen wurden, zum andern die durch Cicero bezeugte Meisterschaft des Vortrags, die sogar die Feinde in ihren Bann schlug.92
Die stilistische Eigenart wird klar am Vergleich mit späteren Parallelen, aus denen wir nur Cicero pro Murena 41, 88f.93 herausgreifen.
Si, quod Iuppiter omen avertat, hunc vestris sententiis adflixeritis, quo se miser vertet? Domumne? Ut eam imaginem clarissimi viri, parentis sui, quam paucis ante diebus laureatam in sua gratulatione conspexit, eandem deformatam ignominia lugentemque videat? An ad matrem, quae misera modo consulem osculata filium suum nunc cruciatur et sollicita est, ne eundem paulo post spoliatum omni dignitate conspiciat? Sed quid ego94 matrem aut domum appello, quem nova poena legis et domo et parente et omnium suorum consuetudine conspectuque privat? Ibit igitur in exsilium miser? Quo? Ad Orientisne partis, in quibus annos multos legatus fuit, exercitus duxit, res maximas gessit? At habet magnum dolorem, unde cum honore decesseris, eodem cum ignominia reverti. An se in contrariam partem terrarum abdet, ut Gallia Transalpina, quem nuper summo cum imperio libentissime viderit, eundem lugentem, maerentem, exsulem videat? In ea porro provincia quo animo C. Murenam, fratrem suum, aspiciet?
Wenn ihr – was Jupiter verhüten möge – diesen Mann [Murena] durch euer Urteil niederschmettert, wohin wird der Unglückliche sich dann wenden? Nach Hause, um anschauen zu müssen, wie das Bild seines ruhmreichen Vaters, das er noch vor wenigen Tagen, als man ihn beglückwünschte, mit Lorbeer bekränzt sah, jetzt schmachvoll entehrt ist und trauert? Oder zu seiner Mutter, der armen, die ihren Sohn eben noch als Consul küsste und die nun von der Sorge gemartert wird, ihn bald aller Wurde entblößt zu sehen? Aber was erwähne ich seine Mutter, sein Haus, da doch die neue Strafe des Gesetzes ihm Haus und Mutter, Anblick und Umgang aller seiner Angehörigen raubt? Wird der Arme also in die Verbannung gehen? Wohin? In den Orient, wo er viele Jahre Legat war, Heere geführt und Großes vollbracht hat? Aber es ist ein tiefer Schmerz, dorthin, von wo man mit Ehren geschieden ist, mit Schande zurückzukehren. Oder wird er sich am andern Ende der Welt verstecken, damit das transalpine Gallien, das ihn kürzlich als obersten Befehlshaber so gerne bei sich hatte, ihn jetzt als Trauernden, Gramgebeugten, Heimatlosen wiedersieht? Mit welchen Empfindungen wird er ferner in dieser Provinz seinem Bruder C. Murena in die Augen schauen?
Im Einzelnen sehe man, wie Cicero viermal (bei Vaterbild, Mutter, Orient und Okzident) den Kontrast zwischen einst und jetzt herausarbeitet. Für das Ganze ist bestimmend, dass sich an das erste Dilemma sogleich ein zweites schließt, das das vorhergehende überbietet. Die miseratio beschränkt sich nicht auf Vaterhaus und Mutter, sondern bezieht auf einer weiteren Stufe den gesamten Erdkreis – Orient und Okzident – mit ein. Schon in der vorhin betrachteten Erzählung von der Misshandlung des römischen Bürgers konnten wir eine ähnliche Technik beobachten. Hier wie dort ergibt die Kunst des Zerlegens in Einzelmomente und eine Disposition, die jeweils das Bedeutendere aus dem weniger Bedeutenden hervorwachsen lässt, eine Steigerung und starke Reliefwirkung.95
Gegenpol ist die Ennius-Stelle, die dem Sachverhalt nicht durch Aufgliederung, sondern durch gedrängtes Nebeneinanderstellen der Gegensätze Glanz verleiht. In der Mitte zwischen der epigrammatisch andeutenden Reduktion bei Ennius und der steigernden Entfaltung bei Cicero steht die ausgewogene und dennoch knappe Formulierung bei Gracchus. Sieht man von den außerliterarischen Komponenten – der Situation und der Vortragsweise – ab, so beruht auch hier die stilistische Wirkung hauptsächlich auf der sparsamen Anwendung der Mittel: reine Latinität, klare Antithesen, Breite nur, soweit es das Verständnis, und Farbigkeit, soweit es die Wirkung auf die Zuhörer verlangt. Selbst an dieser Stelle, die zu den pathetischsten des Gracchus gehört, waltet in der Klarheit der Disposition und in der Ökonomie96 der Mittel eine ausgeprägte Rationalität.97