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1. Das Rätsel unserer Normalität
ОглавлениеWarum geschieht in der Welt so vieles, das die einzelnen Menschen je für sich verabscheuen und bedauern? Diese Frage sprang mich als Jugendlicher aus den Büchern und aus den Nachrichten an; seitdem blieb sie immer bei mir. Als ich dann ins Berufsleben eintrat und Familienvater wurde, stellte sich immer bestimmter eine gewisse Ahnung ein: Irgendwie muss die richtige Antwort auf meine Frage nach dem Rätsel unserer Normalität damit zu tun haben, was unsere Arbeitswelt mit uns anstellt. Ich beschloss also mir klarzumachen, was im Arbeitsleben genau mit uns passiert. Das Ergebnis ist ein Buch für jeden, der Arbeiten geht. Es begann als ein längerer Tagebucheintrag; es wurde eine Philosophie für die Arbeitswelt.
Am Anfang steht Verwunderung über mich selbst und über uns. In der industrialisierten Welt führen wir heute ein Alltagsleben, das auf der Entrechtung und körperlichen Ausbeutung von Menschen (als »Human Resources«) und auf der planmäßigen Zerstörung des Ökosystems beruht. Wir zahlen Spottpreise für die Spielzeuge unseres Konsumzeitvertreibs und für die Kellner- und Laufburschenstaffage unserer Pauschalurlaube an den Küsten der Ozeane und an den Trögen der Frühstücksbuffets. Die Rechnung für unsere immense »Kaufkraft« wird an den verlängerten Werkbänken der westlichen Staaten, im »Globalen Süden« der Ausgebeuteten, für uns beglichen – nicht in Geld, sondern in menschlichem Leid, in Perspektivlosigkeit und Verzweiflung.
Eine parteilich-koloniale Handels- und Subventionspolitik der reichen Länder stellt diese Verhältnisse auf Dauer, wann immer nötig mit der Gewalt des Militärs und des Finanzsystems. In den Routinen unseres Arbeitslebens bespielen wir das so bereitete Feld und freuen uns kollektiv in den Abendnachrichten, wenn der Gesamtumsatz dieser »Weltwirtschaft« Jahr um Jahr wächst. Es ist nicht so, dass die menschengemachte Maschine der Industriegesellschaft unsere Mitmenschlichkeit überwältigt hätte. Aber wir werden sehen, dass sie die Ansprache unserer mitmenschlichen Solidarität stark erschwert hat.
Wir sind erstaunliche Kulturwesen; die Besatzung eines beliebigen U-Bahnabteils in unseren Städten bringt jeden Tag die unterschiedlichsten Dinge unter den einen Hut unserer Zivilisation. In der Summe vieler kleiner Handlungen exekutieren wir in der industrialisierten Welt jeden Tag einen gewissenlosen Betrieb, der menschliches Leid und die sich entfaltende ökologische Katastrophe routiniert ignoriert. Was hat nicht alles in der Normalität unserer Industriegesellschaften Platz?
Blicken wir uns um. Wir verbreiten irreführende Propaganda zum Schutz von Profiten etwa in der Tabak-, Öl- oder Zuckerindustrie; wir verwenden generell einen großen Prozentsatz unserer gesamten Wirtschaftstätigkeit auf systematisches Aufbauschen und Irreführen (Marketing) und überfluten dabei z. B. Kleinkinder mit Werbung für gesundheitsschädliche »Lebensmittel«, die sie umsatzsteigernd früh chronisch krank machen; wir produzieren Personenminen, die dann weniger Soldaten töten als spielende Kinder verstümmeln; wir erfinden Papiere, mit denen wir auf den Wertverfall genau der Papiere spekulieren, die wir unseren eigenen Bankkunden gestern noch als Geldanlage verkauft haben, und vernichten dabei deren Ersparnisse; jüngst in den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und der Türkei (und früher auch in Deutschland) fälschen wir »Beweise« zur Rechtfertigung von Angriffskriegen, die hunderttausende Unschuldige töten, vertreiben und sie Folter und Vergewaltigung aussetzen, um den Zugang zu Rohstoffquellen zu sichern und die heimische Militäroligarchie zu pflegen; wir fahren als einzelne Personen in tonnenschweren Blechkonstruktionen mit Verbrennungsmotoren durch die Gegend; wir nutzen nie verrottende Wegwerfprodukte für alltägliche Mahlzeiten und geben das Plastik damit den Fischen der Meere zu fressen; wir subventionieren unsere Agrarprodukte so, dass Bauern in ärmeren Erdteilen konkurrenzunfähig werden, und lassen die oft vor diesem Elend Flüchtenden in unseren Grenzmeeren ertrinken, während wir die Überlebenden mit Grenzzäunen aus Rasierklingen willkommen heißen; wir machen mancherorts Gesundheitsvorsorge zu einem Geschäft und lassen deshalb unzureichend reiche Menschen einfach bankrottgehen und verrecken, wenn sie krank werden usw.
Das ständige »wir« in diesen Ausführungen kann beleidigend wirken, aber halten wir das für den Moment einmal aus: Viele Ergebnisse unserer Zivilisation sind eben grauenvoll. Manche Phänomene können wir vielleicht abnorm grausamen Einzelnen, verbrecherischen Politikern und der Imperialpolitik der gerade herrschenden Großmächte zuschreiben. Aber die meisten dieser Missstände bringen wir selbst durch unsere Arbeit und durch unser Konsumverhalten mit zustande. Und wir autorisieren unsere Repräsentanten dazu, sie fortzuschreiben – sei es im Einzelfall auch nur aus Lethargie, Desinteresse und Ignoranz. Alle oben genannten Praktiken sind in unserer Gesellschaft als unterschiedliche Ebenen der Politik- und Erwerbsarbeit etabliert oder stellen legales Freizeitverhalten dar.
Deshalb entsprechen den aufgeführten Tatbeständen auch an jeder Stelle Berufsbezeichnungen, die in den westlichen Gesellschaften vollkommen »seriösen« Status haben: Public Relations Berater, Marketingexperte oder Vertriebsstratege, Wehrtechnikingenieur und Rüstungsmanager, Anlageberater oder Investmentbanker, President of the United States, Sicherheitsdienstleister, Autoingenieur, Bauernverbandsvertreter, Innen- oder Heimatminister, Reisekaufmann usw. Diese Berufe werden fast nie von Verbrechern ausgeübt, und doch erzielen sie im Zusammenspiel ihrer unterschiedlichen »Arbeitswelten« mit bürokratischer Zuverlässigkeit beschämende Ergebnisse.
Aber wie? Wie erreicht die Industriegesellschaft unseren Konformismus – unser praktisch vorbehaltloses Tun zu allen nur möglichen Zwecken? Denn wir üben die gerade aufgeführten Berufe aus. Wir betreiben die Industriegesellschaft, die diese katastrophalen Ergebnisse hervorbringt, in der vagen und behaglichen Einbildung, für das Elend der Welt selbst unzuständig zu sein. Dabei sind wir offenkundig allein dafür zuständig; es gibt außer dem Menschen kein moralisches Wesen auf der Erde, das Verantwortung tragen kann. Wie verbergen wir unser tatsächliches Tun also vor uns selbst und voreinander? Wie machen wir einander das, was wir über uns selbst und unser Tun doch wissen, alltäglich unbewusst, so als lebten wir in einer moralischen Anästhesie? Dies ist das Rätsel unserer Normalität.
Und diese Normalität ist nicht kürzlich entstanden, sie ist eine langsam gewachsene geschichtliche Gemengelage. Auf den jüngeren Etappen dieser Entwicklung im 20. und 21. Jahrhundert stechen Kriege, Völkermorde und Vertreibungen nur als Inseln besonders intensiver Vernichtung hervor. Die Antwort auf die Frage, wie unser heutiger, individueller Konformismus des Alltags möglich ist, muss deshalb auch ein neues Licht auf diese Geschichte werfen. Sie verschafft uns einen neuen Zugang auch zu Fragen wie diesen: Wie waren die gnadenlosen, zynisch kalkulierten Vernichtungsfeldzüge gegen unschuldige Menschen möglich, auf deren furchtbare Serie unser Schulunterricht bloß einige wenige Schlaglichter wirft? Wie konnte eine Wirtschaftsordnung über die Welt verbreitet werden, die auf schnellstmöglichem Verbrauch von Rohstoffen basiert – und die damit rational kalkuliert die Umwelt zerstört und radikale Ungleichheit produziert?
Mit dieser knappen Skizze unserer rätselhaften Normalität haben wir einen gewaltigen Erklärungsbedarf in den Raum gestellt. Wer so drastisch »A« sagt, der muss nun auch »B« sagen. Wir müssen herausfinden, wie diese Lage des Großen und Ganzen entstehen konnte, die sich für uns westliche Wohlstandsmenschen dabei so unverschämt annehmlich anfühlt – und wir müssen verstehen, was diese Lage für unser persönliches Leben bedeutet. Ein naheliegender Ansatzpunkt dieser Klärung wäre, die Überlegungen historisch anzulegen. Der Geschichtsforscher will zum Beispiel wissen, wie genau bestimmte Verbrechen begangen worden sind und welche speziellen Umstände sie jeweils erlaubt oder befördert haben. Irgendwann einmal sozial akzeptierte Verbrechen – genau wie die, die heute Teil unserer globalen Normalität sind – werden in einen weiteren Zusammenhang gestellt und so mehr oder minder nachvollziehbar gemacht.
Dieses Buch will dagegen philosophisch an das Rätsel herangehen und es aufklären. Wir werden hier und da zwar historische Geschehnisse ansprechen, aber unsere leitende Frage lautet nicht, wie genau etwas historisch geschehen ist. Die uns interessierende philosophische Frage ist, ob die typischen Muster des Geschehens eine eigene Logik zu erkennen geben. Wir suchen das Prinzip unserer rätselhaften Normalität, ihre treibenden Motive, Denk- und Verhaltensmuster – und deren Ursprung. Auf Grundlage welcher bekannten Kräfte und ihres Zusammenwirkens sind die dramatischen Missstände unserer Normalität zu erwarten? Inwiefern haben die unmenschlichen Aspekte der Industriegesellschaft ebenso System wie mancherorts die pünktliche Auszahlung ihrer Sozialleistungen? Wie sind wir in dieses System einbezogen, wie können wir uns vor seiner Gewissenlosigkeit bewahren, und wie können wir es verändern?
Eine philosophische Nachforschung entwickelt sich bei mir immer aus einigen mehr oder minder verknüpften Anfangsvermutungen, gepaart noch mit einer bohrenden Neugierde oder Empörung – in jedem Fall gibt es eine Art Klärungswut, die mich antreibt. Die konkrete Mischung von Annahmen, Ahnungen und Absichten, die dieses Buch motivieren, ergibt sich aus den »Erfahrungszutaten« meines Lebens. Ich will sie kurz erwähnen, weil sie etwas Licht auf den Stil und die inhaltlichen Schwerpunkte dieses Textes werfen. Ich stecke als Manager in einem typischen Berufsleben und habe dabei den untypischen Studienhintergrund von Philosophie und Geschichte. Deshalb kenne ich die gnaden- und ausweglose Langeweile sinnloser Abstimmrunden unter Kollegen ebenso wie die nicht minder drückende Langeweile verquaster Seminare zu Platon und Hegel; ich kenne aber auch den Spaß an guter Zusammenarbeit in gelingenden Projekten der Wirtschaft und die Faszination einer Seminardiskussion, in der die Studenten tatsächlich etwas von Bedeutung einsehen.
Mein Alltag ist geprägt von rationaler Arbeit im Betrieb mit meist klaren Zielvorgaben, aber meine Ausbildung ist vernünftiges Nachdenken abseits aller Zielvorgaben (Philosophie). Ich habe mich deshalb an der intellektuellen Aufarbeitung von weit gefassten Fragen ebenso versuchen können wie an der pragmatischen Auflösung wirtschaftlicher Probleme. So habe ich aus eigener Anschauung etwas über die Strukturen und Kräfte gelernt, die dabei in unseren Institutionen jeweils im Spiel sind. Die begriffliche Gymnastik des Philosophiestudiums, die ich einmal eifrig absolviert habe, prägt mein Nachdenken genauso wie meine Erfahrungen als Führungskraft. Meine Hoffnung ist es, dass sich auf dieser Grundlage ohne Fachjargon und Fremdworthagel ein neues Licht auf unsere Welt aus Arbeitswelten werfen lässt. Versuchen wir es also.
Dazu treten wir zunächst einen Schritt zurück von den einleitenden Bemerkungen; wir nehmen den nötigen Anlauf und machen eine Folge von Gedankenschritten, die zusammengenommen ein geschärftes Verständnis unserer Gegenwart ergeben. Es ist nicht so, dass wir »den Faden« der Anfangsdiagnose nun »fallenlassen«, um ihn dann einige Kapitel später »wieder aufzunehmen«. Im Gegenteil: Wir sehen uns nun die Fasern an, aus denen dieser Faden gesponnen ist, dessen Gewebe unsere Wirklichkeit wurde.
Die begrifflichen Mittel, mit denen wir die Machart und das Muster dieses Gewebes klarer erkennen können, erarbeiten wir uns schrittweise. Dabei spielen unterschiedliche Aspekte der Anfangsbetrachtung zum Rätsel unserer Normalität laufend eine Rolle; es geht aber gerade am Anfang dieses gedanklichen Wegs auch um die Einführung einiger philosophischer Grundüberlegungen. Mit ihnen im Rücken können wir die gesuchte Logik unserer verhängnisvollen Normalität dann Zug um Zug herausarbeiten.
Kapitel 2 und 3 bilden eine kurze Einführung in die lebenspraktische Bedeutung der Philosophie für jeden, der in Gesellschaft lebt. Besonders wichtig ist mir dabei der Nachweis, dass Philosophieren keine abgehobene Expertentätigkeit ist, sondern eine natürliche Tätigkeit jedes Menschen. Der vierte Abschnitt zeigt historisch, wie die Logik von Ansehen und Status entstanden ist, die den Alltag in unseren Industriegesellschaften bestimmt und unser Verhalten strukturiert. Dann geht es in vier Kapiteln um unterschiedliche Aspekte unseres Lebens in Arbeitswelten: Um die eigentümliche Art von Erlösung, die das rationale Streben nach Erfolg uns zu verschaffen scheint (»Erlösung im Erfolg?«); um die Distanz zur Wirklichkeit, in die wir dabei geraten (»Arbeitswelt und Wirklichkeit«); um das Wechselspiel von Professionalität und Führungshandeln, das den charakteristisch limitierten menschlichen Umgang in unseren Institutionen prägt (»Professionalität und Führung des ›Humankapitals‹«) – und schließlich um den Ehrgeiz, der die Karrieren antreibt und der sich bei näherer Analyse als eine bestimmte Art von Wahnsinn erweisen wird (»Ehrgeiz und Erstarrung«).
Der schrittweise Aufbau der Überlegung ist nicht einfach nur nützlich zur Auflösung des Rätsels unserer Normalität. Er entspricht auch der lebensphilosophischen Aufgabe, vor der jeder einzeln steht. Ob man zu einem zufriedenen Eigensinn seiner Lebensführung gelangen kann oder nicht, hängt stark davon ab, wie man sich seine Lebensumstände vorstellt. Und die Gegenwart, in der ein Mensch sich findet, ist immer komplizierter, als er verstehen kann.
Erlittene Schmerzen und durchfieberte Euphorie, der fadenscheinige Flickenteppich unserer Erinnerung, das Eintauchen in unsere (papiernen oder digitalen) Filterblasen Gleichgesinnter, schließlich noch die halb verdauten, halb vergessenen Wissensbrocken unserer Schulzeit – all das macht uns zwar zu dieser oder jener bestimmten Person. Es führt uns aber sicherlich nicht auf einen objektiven, d. h. den Dingen und Menschen gerechten Standpunkt der Betrachtung und Beurteilung. Dazu kommt, dass es die Gegenwart und ihre großen und kleinen Machthaber sind, die Posten und Sicherheiten zu verteilen haben. Wir haben deshalb einen starken Anreiz, die gegenwärtigen Verhältnisse als »die Lösung« oder »das Richtige« zu akzeptieren – da wollen wir nicht in erster Linie fragen, mäkeln, unser Verständnis schärfen. Wir wollen mitmachen dürfen.
Es ist deshalb unrealistisch zu meinen, dass wir unsere eigene Gegenwart einfach so verstehen und sie realistisch betrachten. Trotzdem müssen wir uns selbst im Zusammenhang unserer Gegenwart begreifen. Denn wer sich auf den Weg machen will, muss erstmal herausfinden, wo er eigentlich gerade ist. Um sich seine Umgebung richtig vorzustellen, ist ein Ausgriff in die Vergangenheit und ein gezielter Umweg über das Nachdenken nötig; man muss sich bewusst ein Bild machen, um eingeschliffene »Kurzschlüsse« und Vorurteile hinter sich zu lassen. Im Verlauf des Buchs greifen wir deshalb immer wieder gewohnte Begriffe und Denkweisen auf, durchleuchten sie und verwenden sie in etwas anderem Sinne weiter. Das macht ein wenig Arbeit, aber Aufklärung ist eben Arbeit – wie ja auch ein gelingendes Leben in Arbeit besteht; in der Arbeit an sich selbst im Lichte der Erfahrung.