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Die Entstehung unserer Lage

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Es gibt also gute Gründe, das Leben als Arbeit an uns selbst im Lichte der Erfahrung zu verstehen – und die Philosophie als die Suche nach dem richtigen Weg dieser Selbstarbeit, als Suche nach dem Handwerk unseres Lebens. Das Leben ist aber historisch auch anders erfahren und vorgestellt worden, weniger als Arbeit des Einzelnen an sich selbst und mehr als ein Sich Einfinden in die Dinge und unter den Anderen. José Ortega y Gasset spricht davon, dass bis an die Wende zur Neuzeit das Dasein der Menschen »in einer Anpassung ans Universum« bestanden habe, als dessen Teil der einzelne sich begriff. Der vormoderne Mensch begann seinen Lebensweg demnach »mit einem Gefühl des Zutrauens gegenüber der Welt« (meine Übersetzungen).

Aber die großen Erzählungen von Gott, Welt und Mensch, die uns diesen Komfort einer festen »Beamtenstelle« in der Weltordnung gewährten, fügen sich nicht mehr; sie haben sich historisch als zunehmend machtlos zur Ordnung des Zusammenlebens erwiesen. Als Grundlage menschlicher Gemeinschaft haben sie sich deshalb überlebt. Wir glauben den meisten Predigern des Paradieses nur ihre ganz persönliche Gewinnabsicht; und selbst wenn wir Gläubige dieser oder jener Religion sind, versuchen wir nicht, unsere Ansprüche an Andere mit unserer Rechtgläubigkeit zu rechtfertigen.

Es gibt nicht mehr die klare Auskunft über das Leben, die uns einmal gegeben wird und mit der wir dann wirklich ein- für allemal auskommen könnten; und es ist eine Idealisierung zu glauben, dass es sie früher einmal wirklich, völlig gab. Unsere Eltern und Lehrer zeigen uns nicht, was wir sind und wozu wir uns zu entwickeln bestimmt sind. Sie lehren und zeigen uns schlicht, dass vieles Menschen möglich ist. Wir werden nicht in unser Leben eingeführt, sondern ins Freie gestellt, um uns dann darin zu orientieren. »Du möchtest dir ein Stichwort borgen // Allein, bei wem?« (Gottfried Benn).

Wie sind wir in diese Lage geraten? Warum müssen wir als Einzelne unser Selbst erkunden, bilden und leiten? Warum können wir das Handwerk des Lebens nicht durch ruhiges Zusehen von anderen, uns behütenden und führenden Menschen erlernen? Die Kulturgeschichte, die uns in diese Lebenssituation gebracht hat, kann aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt werden. Die wesentliche Entwicklung ist aber einfach, und es lohnt sich, sie herauszuarbeiten: Die Funktionen der Menschen füreinander, die ihnen bestimmte Befugnisse übereinander gaben, wurden im ausgehenden Mittelalter in Europa strittig.

Dies gab im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation den Anlass zu ausgedehnten und verheerenden Kriegen. Eine »Neuzeit« musste erfunden werden, weil die alte, weltanschaulich fundierte Ordnung nicht mehr regelungsmächtig war und deshalb keinen stabilen Frieden begründen konnte. Im Friedensvertrag von Münster und Osnabrück, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, einigte man sich deshalb darauf, dass Fragen religiöser Wahrheit nicht Gegenstand der Verhandlung sein würden. Man wusste, dass man nicht zusammenkommen würde, wenn jede Partei sich auf »die Wahrheit« beruft.

Der Ideenhistoriker Hans Blumenberg sagt vom Übergang zur Neuzeit: »Das Mittelalter ging zu Ende, als es innerhalb seines geistigen Systems dem Menschen die Schöpfung als ›Vorsehung‹ nicht mehr glaubhaft erhalten konnte und ihm damit die Last seiner Selbstbehauptung auferlegte.« Diese Entwicklung bahnte sich an im Entstehen der nominalistischen Philosophie des Spätmittelalters – in einem Denken, das die Sprache als rein menschlich-konventionell versteht: Unsere Begriffe sind einfach Namen (nomina), also Benennungen der Dinge. Darin liegt die damals revolutionäre Vorstellung, dass vom Menschen gewählte Bezeichnungen die begriffliche Ordnung unseres Denkens stiften – und nicht Gottes Schöpfungsakt am Anfang der Welt.

Der existenzielle Haltverlust des spätmittelalterlichen Menschen zeigt sich nach dieser Überlegung darin, dass der Sprache als Brücke zwischen Denken und Welt nicht mehr unbesorgt (naiv) getraut wird. Unsere Begriffe dessen, was im Bewusstsein erscheint, gehorchen keinem natürlichen Gesetz, sondern bloß menschlicher Willkür; aller Anschein von Autorität und Dauer in unserem Sprechen und Denken ist demnach allein dem Gewicht der Tradition, dem einfachen Wiederholen bestimmter sprachlicher Konventionen durch viele in vielen Generationen geschuldet. Wir stiften nun die Ordnung, die wir in der Welt sehen.

Alasdair MacIntyre schildert denselben Haltverlust in anderer Perspektive als Abhandenkommen des Tugendbegriffs. Tugenden sind historisch erprobte und bewährte Zugangswege zu menschlich bedeutsamen Gütern: Ehrlichkeit z. B. ist eine Tugend, weil sie Vertrauen stiftet und Verlässlichkeit in unsere Beziehungen bringt. Damit kann praktizierte Ehrlichkeit uns Stabilität, Ruhe und Gelassenheit einbringen. Tugenden waren nach MacIntyres Erzählung bis zum Ende des Mittelalters in Gemeinschaft durch Nachahmung und Austausch erlernbar; ein weitgehender Konsens über die Bedeutung und Erfordernisse einzelner Tugenden konnte das Handeln in der Gemeinschaft tatsächlich wirksam regeln. Denn in einer räumlich eng gedrängten, im Glauben weitgehend einigen Gemeinschaft herrscht eine Lebenspraxis, die alle Mitglieder teilen. Diese Praxis bringt Wertmaßstäbe hervor und stabilisiert sie über Generationen hinweg.

Dies ist aus heutiger Sicht ein moralisches Idyll (jedenfalls sofern man die Gegenwart als sozial zersplittert, komplex und vielleicht sogar unheimlich erfährt). Denn dieser Betrachtung nach wächst eine zuverlässige Lebensorientierung in jedem Mitglied der Gemeinschaft langsam heran. In seiner Gemeinschaft entwickeln sich Werte und Ansprüche an seine Person zwar weiter fort, aber niemals in sprunghafter oder bedrohlicher Weise. Dieses Idyll kam spätestens mit der konfessionellen Spaltung des Christentums abhanden. Es wird durch das für MacIntyre unselige, zum Scheitern verurteilte Projekt ersetzt, die Moral durch philosophische Argumentation zu rechtfertigen – anstatt sie durch lebendige Beispiele und Gespräche in überschaubaren Gemeinschaften direkt zur Wirkung zu bringen. Das neuzeitliche Bedürfnis nach intellektueller Rechtfertigung unserer Lebenspraxis und Moral zeigt, dass es für uns »Neuzeitler« keine gemeinsame, einfach als natürlich und unstrittig verstandene Lebenswirklichkeit gibt.

Blumenberg und MacIntyre denken auf unterschiedlichen Wegen über denselben Vorgang nach: der menschliche Wille übernimmt die Festlegung des Werts aller Dinge. Der Mensch wird Maßstab aller Dinge, Souverän der Welt und des Lebens darin. Die großen Züge der Welt, in der wir aufgewachsen sind und heute leben, gehen ungebrochen auf dieses Anfangsmoment zurück. »Sünde kann nicht mehr als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz eines Anderen bestimmt werden, sondern im Gegenteil als Weigerung, meine Rolle als Gesetzgeber der Welt zu spielen« (Hannah Arendt über die Philosophie Kants).

Die Aufklärung hat diesen fundamentalen Bezug auf menschliches Wollen zur Idee einer Herrschaft der Vernunft weitergedacht und versucht, in allen Bereichen menschlichen Interesses Vernunft zur Vorherrschaft zu bringen; die wissenschaftlich-industrielle Revolution hat unsere Welt dann im Zusammenspiel mit dem modernen Staat in rationale, also auf je einen bestimmten Zweck hin organisierte Institutionen aufgegliedert. Das geistige Zentrum der Entwicklung aber war und ist der auf sich gestellte Wille des Menschen.

Auf diesem Wege sind wir von Kindern Gottes und Mitgliedern seiner Gemeinschaft auf Erden zu den Erzählern unserer Geschichte, unseres Selbst geworden; auf diese Weise wandelte sich die Philosophie, einstmals verstanden als die Verwalterin ewiger Wahrheiten, zur Suche des Nachdenkens nach dem Handwerk unseres Lebens. Innerhalb dieser Koordinaten gehen wir nun auf die Suche nach der Gestalt und der eigenartigen inneren Stimmigkeit unserer Gegenwart. Sie wird sich als ein Zeitalter der Karriere und einer speziellen Form der moralischen Erstarrung erweisen, die ich mit dem Begriff des Ehrgeizes verbinde. Der nächste Schritt auf diesem Weg ist, die grundsätzliche Spannung von Moralität und sozialer Anpassung zu begreifen.

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