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Wertvorstellungen

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»Zu sich selbst kommen« – das klingt so, als wäre das Selbst schon da, wie ein besonders kostbarer Gegenstand in unserem Seelenhaushalt, und man müsste sich ihm nur zuwenden, nachdem man den Unfug gewisser Ablenkungen einmal eingesehen hat. So ist es aber nicht. Mein Selbst ist nicht schon da, und es ist deshalb verkehrt zu meinen, man könne sich einfach etwas mehr darauf konzentrieren, um auf den »rechten Weg« zu kommen. Wir sagen zwar alle »Ich«, aber kein Ich ist ohne weiteres auch gleich ein Selbst.

Erst das von sich selbst erzählende Ich macht das Selbst; mein Selbst ist die Geschichte davon, wer ich bin. Nur in diesem Sinne ist es »schon da«: Ich kann es mir wie einen Schattenriss aus meiner Erinnerung wieder und wieder zeichnen, jedes Mal ein wenig anders. Diese Erzählung bedeutet alles. Sie zeigt meine Vorstellung davon, was meine Mühe lohnt, auf welchem Weg mein Leben mir gelingt und wie es mir entgleiten könnte. Meine Geschichte ist nur im stillen Gespräch des Nachdenkens und im vertrauensvollen Austausch mit anderen lebendig; sie ist Ausdruck meiner Wertvorstellungen und hat keinen Maßstab, kein Richtmaß außer diesen. Auf die Wertvorstellungen einer Person kommt für ihr Leben alles an, denn sie leiten ihre Bestrebungen, sie begründen ihre Ängste und bestimmen ihre Ambitionen.

Ich stelle mir dabei das Wertvolle, auf das es uns im Leben ankommt, als abwesend oder zumindest undeutlich vor – deshalb spreche ich von Wertvorstellungen anstatt einfach von Werten. Diese spezielle Wortwahl zeigt an, dass ich den Wert gewisser Dinge, gewisser Verhaltensweisen und Einstellungen, nicht direkt und sicher erkenne. Ich stelle mir nur vor, sie hätten einen Wert. (Eine Ausnahme bildet allein, was ich liebe; dazu mehr ganz am Ende des Buchs.) Diese Schwierigkeit mit Wertvorstellungen ist nicht nur mein persönliches Problem; dass ich so zu reden und zu denken gewohnt bin, bringt vielmehr ein bestimmtes Wissen unserer Kultur zum Ausdruck.

Betrachte ich nur mich selbst, so meine ich zu wissen, welchen Dingen ich Wert beimesse und warum. Aber vom Standpunkt eines anderen Menschen aus betrachtet kann diese, kann meine Überzeugung nüchtern nur als Wertvorstellung betrachtet werden. Denn es fällt tatsächlich unterschiedlich aus, was unterschiedliche Menschen als Wert erkannt zu haben meinen. Wir leben also mit der Schwierigkeit, dass unsere subjektiven Einsichten in das Wertvolle ständig durch die Werturteile anderer Leute in Frage gestellt werden. Diese Anderen urteilen dabei in gleicher Weise wie wir selbst aufgrund ihrer speziellen Lebenserfahrung. Wir können diese Unterschiede erkennen, sofern wir in derselben geistigen Wohnung, in derselben Sprache beheimatet sind wie die Anderen; aber es bleiben echte, substantielle Unterschiede.

Aus dieser Wirklichkeit lernen wir, von unseren Wertvorstellungen zu reden und sie damit schon, jeder möglichen Diskussion vorauseilend, zu relativieren. Wir sprechen von unseren Werten, also davon, worauf es uns im Leben ankommt, und wir stellen sie zugleich in Frage. Keinem anderen bedeutenden Begriff, mit dem wir uns in der Welt orientieren, tun wir dies an; wir sprechen z. B. nicht mit der gleichen Geläufigkeit von unserer »Freiheitsvorstellung« oder unserer »Rechtsvorstellung« – wir sprechen einfach von Freiheit und Recht. Aber wir sprechen von Wertvorstellungen.

Diese zögerliche, problematisierende Haltung in Hinsicht auf unsere persönlichen Werte hat ihre Stimmigkeit und Berechtigung. Anders als z. B. bei Feststellungen über die uns gemeinsame Welt der materiellen Dinge – der Tische, Stühle und Aschenbecher – trauen wir unserer Gesellschaft in Wertfragen keinen naturwüchsigen Konsens der Auffassungen zu. Deshalb trauen wir auch uns selbst nicht ohne weiteres klares Wissen in Wertfragen zu und lernen in unserer Gesellschaft auch nicht, in erster Linie solches Wissen zu wünschen und zu suchen. Das aber steht in Spannung zu der früheren Feststellung, dass es für unser Leben als Person entscheidend auf unsere Wertvorstellungen ankommt.

Wie oft haben wir jemanden fragen hören: »Was ist in dieser Situation das Richtige? Was soll ich tun?« So oft wir solche Fragen auch immer gehört und diskutiert haben mögen – diese Erlebnisse verblassen sicherlich angesichts der unendlichen Verhandlungen der Frage »Was will ich (wirklich)?«, die wir mit uns selbst und anderen erlebt haben. Berichten wir vom Verlauf unseres Lebens mit seinen Wendungen, so sprechen wir oftmals davon, was uns zu welchem Zeitpunkt gefallen hat – was uns angenehm war, was uns angenehm wurde oder was aufhörte, uns zu behagen. Daraus erklären wir, was wir in der Folge taten oder bleiben ließen.

Ich spreche hier von einer Mentalität, von einer angewöhnten Geisteshaltung, die sich an uns beobachten lässt – nicht von einem »Fehler«, den wir begehen. Denn diese Geisteshaltung ist nicht abwegig. Wir fahren in der Wertfrage »auf Sicht«. Im Laufe unseres Lebens zeigen uns erst konkrete Erlebnisse den speziellen, unersetzlichen Reichtum, den eine bestimmte Haltung, ein bestimmtes Verhältnis zu anderen oder ein bestimmtes Gut uns verschafft. Man hat Erfahrung, nachdem man sie gebraucht hätte. Z. B. ist es nicht vorab zu verstehen, dass eigene Kinder alles verändern – und dass deshalb die Frage, ob es mit oder ohne Kinder »besser« sei, eine unsinnige Frage ist.

Die Geisteshaltung, in der man das eigene Leben am ehesten als die Geschichte sich wandelnder Vorlieben und Abneigungen erzählt, ist verständlich; sie ist aber völlig im Zeitgeist befangen: Wenn wir bloß erklären, was uns gefällt, so erklären wir in Wahrheit nur, was man uns an Wertvorstellungen beigebracht hat – oder wir offenbaren, was wir einfach unbewusst übernommen haben. Wir rezitieren sozusagen den Zeitgeist (so wie wir ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagen würden) und lassen uns von ihm im Laufe unserer sich wandelnden Erfahrungen an diesen oder jenen Ort führen. Die Frage, wohin es sich zu gehen lohnt – die Frage nach dem Wertvollen also, das ich verfolgen will –, stellen wir so noch nicht. Deshalb erlernen wir auf diese Weise nicht das Handwerk, als ein Selbst, als wir selbst zu leben.

In manchen Zeiträumen unserer europäischen Geschichte mag ein solches Handwerk, sich selbst zu erfinden, gar nicht notwendig gewesen sein. Vielleicht konnte in früheren Epochen eine starke und dicht verwobene Gemeinschaft dem Einzelnen die Frage nach dem Wertvollen glaubhaft beantworten, bevor er sie stellen musste. In jedem Fall müssen wir aber begreifen, was das Handwerk des Lebens heute und für uns ist. Dazu müssen wir vor allem über unsere eigenartige Entfremdung vom Wertvollen nachdenken, von der wir gerade schon sprachen. Sie hängt damit zusammen, wie der Einzelne den Wert der Dinge für sich erfahren kann.

Eine engräumige Stammes- oder Ständegesellschaft vermittelt den lebenspraktischen Sinn bestimmter Anforderungen an den Einzelnen direkt; die Rechtfertigung dieser Anforderungen liegt auf der Hand und stiftet damit die Vorstellung, etwas sei von Wert. Respekt und Gehorsam gegenüber Vater und Mutter z. B. sind nicht strittig, wenn nur sie uns ernähren können und wenn die einzige Religion, die uns je bekannt wird, diesen Gehorsam befiehlt. Verlässlichkeit bei der Befolgung seiner Pflichten verschafft dem Mitglied einer solchen Gesellschaft die Akzeptanz derer, mit denen es auf lange Zeit, wenn nicht sein ganzes Leben lang, verbunden sein wird.

Demgegenüber sind wertstiftende Erfahrungen in der europäischen Neuzeit in der Regel nicht mehr in dieser Weise kleinräumig, unmittelbar und direkt überzeugend. Vor allem sind sie nicht so regelmäßig mit konkreten Menschen verknüpft, die für unser Wohlergehen dauerhaft von Bedeutung sind. Die Menschen, die heute ein Stück unseres Weges bei uns bleiben – etwa Schulkameraden, Vereinskollegen, Nachbarn –, sind wie Fahrgäste in einer Straßenbahn, die unerwartet zu- und wieder aussteigen, die uns in der Zwischenzeit vielleicht nahe sind, die aber in aller Regel nicht unseren dauerhaften Lebenskreis bilden werden. Selbst zwischen Eltern und ihre Kinder hat der Rechtsstaat Gesetze eingefügt, die bestimmte Ansprüche unabhängig von der Qualität persönlicher Beziehungen garantieren sollen.

Die gesellschaftliche Arbeit ist in oft eng gefasste Expertenbereiche aufgeteilt; alle konkreten Gegenstände und Tätigkeiten werden durch ihre Bewertung und Verhandlung in Geld abstrakt; selbst das bescheidenste moderne Leben hat einen gewaltigen räumlichen Aktionsradius. Damit geht, ob eingestanden oder nicht, eine gewisse Freundlosigkeit unseres Lebensvollzugs einher. Wir scheinen keine natürliche, intime Heimatsphäre mehr zu haben, wenn wir sie uns nicht selbst zu schaffen verstehen. Noch dazu gibt es eine Vielfalt sehr unterschiedlicher und gleichwohl oft auch je für sich vernünftiger Betrachtungsweisen dieser Gemengelage. All dies sind die Kennzeichen einer Lebenssituation, in der wir miteinander in aller Regel von Wertvorstellungen sprechen und nicht einfach und direkt von Werten.

So zu reden bedeutet noch nicht zu behaupten, es gäbe keine tatsächlichen (und nicht bloß vorgestellten) Werte, also auch keine wahre Moral. Diese Frage unseres zweifelnden, mit unüberschaubarer Vielfalt konfrontierten Zeitalters müssen wir in der hier entwickelten Philosophie nicht beantworten. Die Rede von Wertvorstellungen zeigt ein Arrangement auf, das wir angesichts der Uneinigkeit über letzte Wahrheiten entwickelt haben, um den Frieden wahren zu können. Nur auf diese Einsicht kommt es für uns an.

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