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2. Handwerk des Lebens Der Zeitgeist

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Nähern wir uns der Philosophie von der Sprache, also von ihrem Werkzeug und Medium her. Unsere Sprache ist die Wohnung unserer Gedanken und Gefühle. Die Zimmer, Flure und Erker dieser Wohnung sind uns vertraut. Wir haben sie aber nicht selbst entworfen und gebaut, sondern uns einfach in ihnen eingelebt. Manche Aussichten und Einblicke macht der Grundriss unserer Sprache uns leicht. Andere Erkenntnisse aber sind uns wie durch Mauern verstellt, weil unsere Sprache uns keine Begriffe und Bilder anbietet, mit denen wir diese Einsichten zu fassen bekommen könnten.

In ihrer Gesamtheit betrachtet enthält unsere Sprache ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit. Zum Beispiel zeigt uns eine Erkundung unseres Gebrauchs großer Worte wie »Freiheit« oder »Recht«, was wir uns unter Freiheit und Recht eigentlich konkret vorstellen. Aber es sind ebenso sehr Analysen »kleinerer« Sprachgewohnheiten, die unser gewohntes Weltbild und seine kleinen Absurditäten aufdecken können. Zum Beispiel nennen wir uns selbst »Arbeitnehmer« und die Institution, die uns beschäftigt, »Arbeitgeber«. Dabei ist es genau umgekehrt, wie Friedrich Engels einmal anmerkt: Wir geben gegen Geld unsere Arbeitskraft einer Institution, die Institution nimmt unsere Arbeit entgegen. Wir sind die Arbeitgeber; Unternehmen, Verwaltungen und viele andere Einrichtungen sind die Arbeitnehmer. Diese Einsicht verstellt uns die gewohnte Sprache.

Jeder unserer Sätze baut auf die ganze Wirklichkeit, die unsere Sprache als Ganze betrachtet darstellt; jeder Satz führt uns an einen festen Punkt in den Grenzen dieser Weltsicht. Wie wir unsere Worte zu setzen gelernt haben zeigt, in welcher geistigen Wohnung unser Denken, Fühlen und Tun sich eingerichtet hat. Der Grundriss unserer Sprache zeigt deshalb den Zeitgeist unserer Gegenwart. Der Zeitgeist sagt uns, wer wir sind, wie wir in die Welt und unter andere Menschen passen und was wir zu erwarten haben. Er regiert die Welt durch unser Denken, Sprechen und Tun. Zum Beispiel macht der Zeitgeist uns glauben, wir seien (zum Dank verpflichtete?) Arbeitnehmer und andere die (großzügigen?) Arbeitgeber. »Ein Wort an die Stelle eines anderen setzen heißt, die Sicht der sozialen Welt zu verändern und dadurch zu deren Veränderung beizutragen« (Pierre Bourdieu).

Nachdenken heißt, gegen den Zeitgeist Einspruch einlegen. Eine Frage stellen bedeutet eigentlich, den Aufstand gegen unsere Sätze proben: gegen den Anspruch ihrer vorgeblichen Tatsachen auf unseren Glauben und unsere Gefolgschaft. Fragen ist das Innehalten im Sprechen und Denken, die Unterbrechung des normalen Gangs der Dinge am Geländer des Zeitgeistes zugunsten des Nachdenkens. Viele Fragen stellen heißt, den Aufstand gegen die ganze Weltsicht unseres Zeitgeistes proben.

Mit diesem Nachdenken erst fangen wir an, als Personen zu existieren und nicht bloß als Resultat unserer Lebensumstände. Nachdenken ist die Selbstbehauptung des Geistes gegen die Gewohnheit, die uns in ihrer Gewalt hat. Anders gesagt: Erst Fragen und Nachdenken macht dieses empfindende Ich, in dem alle möglichen Wahrnehmungen aufkommen, sich regen und wieder schwinden, zu mir selbst. »Persönlichkeit (…) ist das einfache, beinahe automatische Ergebnis von Nachdenklichkeit« (Hannah Arendt).

Um selbst zu leben – d. h. nach eigener Regel und nicht einfach als menschgewordener Ausdruck unserer Zeit –, müssen wir der Regierung des Zeitgeistes unseren persönlichen Freiraum abringen. Viele schaffen dies ohne besondere Anstrengungen und Grübelei, einfach durch eine gute Fügung ihrer Erfahrungen und Begegnungen: Sie erleben in der Familie, dass sie gewollt und geliebt sind, und so entwickeln sie ein sicheres Gefühl dafür, wer sie als Erwachsene werden wollen, und gehen ihren Weg mit Kraft, Sicherheit und Ruhe. Es zeigt sich ihnen mit der Zeit, wofür es sich zu arbeiten lohnt; was andere sagen und wollen, ist für sie zwar interessant, aber nicht entscheidend. Viele aber haben dieses Glück nicht – etwas stört ihre Kreise oder fehlt in ihren Kreisen, das ihnen diese ruhige Selbstbestimmung geben könnte. Ein leitendes Gefühl für Sinn und Richtung ihres Lebens stellt sich nicht ein, sondern es stellt sich vielmehr eine Frage: Was ist mit mir, dass ich so bin und nicht zufrieden mit mir selbst werde?

Um dieser Frage beizukommen, um zu uns selbst zu kommen, brauchen wir eine Erklärung unseres Zeitgeistes – eine Philosophie unserer Gegenwart, die uns sagt, wie wir gelernt haben zu denken, zu sprechen und zu leben, wie wir es jetzt tun. Erst auf dieser Grundlage können wir dann selbst fragen, nachdenken und handeln, um unserer Gesellschaft einen eigenen Lebensweg und auch, zusammen mit anderen, eine eigene Politik abzutrotzen. Haben wir keine Philosophie unserer Gegenwart, so spricht aus uns allein der Zeitgeist. Wir leben dann als Marionetten der Vergangenheit und vielleicht, wenn wir ehrgeizig sind, als die Puppenspieler der Gegenwart, ohne aber dabei zu uns selbst zu kommen. Beginnen wir deshalb unsere Überlegungen am Ziel des philosophischen Nachdenkens, bei uns selbst.

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