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Sich selbst erzählen

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In unserer geistigen Lebenssituation kommen wir nur durch Nachdenken zu einer persönlichen Vermutung darüber, was für unser Leben wesentlich sein sollte. Genau dies bedeutet es für den Einzelnen, in der Neuzeit zu leben: Die meisten von uns ererben kein solides Wissen um das Wertvolle, dessen Beachtung wir dann in Gemeinschaft mit anderen einüben könnten. Die Gemeinschaften, die solches Wissen zu haben glauben, die es vermitteln und kultivieren, sind seit Jahrhunderten auf dem Rückzug. Deshalb müssen wir unser Wissen um das Wertvolle selbst für uns stiften; wir müssen es uns erleben, so wie wir uns vielleicht eine fremde Stadt erlaufen.

So zu leben erfordert ein besonderes Handwerk des Selbstumgangs. Wir benötigen eine Routine, uns eigenständig Wertvorstellungen zu machen, sie an der Erfahrung zu bewähren und uns selbst in diesem Zuge als Persönlichkeit zur Welt zu bringen. Der moderne Mensch ist nicht einfach da, er ist er selbst. Als ein Selbst Ich zu sein erfordert die Fähigkeit, sich selbst zu erzählen. Anders gesagt: Ich werde ich selbst, indem ich meine Geschichte erzähle. Die Bedeutung der Philosophie für jeden Menschen hängt eng mit dieser Tatsache zusammen, wie wir bald sehen werden.

Die Geschichte davon, wer ich bin – mich selbst also –, kann ich niemals wieder genau so erzählen, wie ich es heute tun würde. Eben das bedeutet es, dass ich lebe und noch nicht erstarrt bin: dass ich geformt werde und mich selbst forme; dass ich mir wohlbekannt bin und doch beim Erzählen meiner Geschichte stetig ein etwas Anderer werde. Ich reagiere auf meine Erfahrung im stillen Gespräch mit mir, indem ich meinen Begegnungen mit Dingen, Kräften und Menschen nachdenke – also hinter ihnen her und gleichsam tastend um sie herum denke und ihre Zusammenhänge und Abstände untersuche. Dabei begegnet das Fremde, das meine Erfahrung mir zeigt, meiner Geschichte und verwebt sich mit ihr.

Das Fremde in meiner Erfahrung wird so mein Eigenes; entweder auf die Weise, dass ich mich gegen das Neue verteidige, oder in der Weise, dass ich etwas davon in meine Selbsterzählung aufnehme. Dieses stetige »Einbauen« meiner Erfahrung in meine Geschichte bedeutet, dass ich auf mich selbst Einfluss nehme, weil ich und während ich neue Einflüsse erfahre. Meine Gegenwart ist der Ort, an dem meine Selbsterzählung mich absetzt, ein Zwischenstopp, dessen Aussicht die weitere Reise eingrenzt und ausrichtet, nie aber völlig festlegt. Das lateinische Sprichwort mutatis mutamur ist unvollständig; nicht »Als solche, die verändert wurden, verändern wir« – sondern »Als solche, die verändert wurden, verändern wir uns selbst«, und erst damit auch Anderes und Andere, die uns begegnen.

Mein Leben steht zu jeder Zeit unter tausend Bedingungen; ich stelle mir selbst und Anderen aber auch meine Bedingungen. Das ist die Arbeit des Lebens: das Dulden der Dinge und der Anderen und das Hervorbringen und Erhalten meiner selbst mit ihnen und auch gegen sie. All dies geschieht im Angesicht meines sicheren Endes und deshalb mit dem Ernst eines einmaligen Tuns. Die dabei gesammelte Erinnerung ist unsere Lebenserfahrung; der dabei aufgespannte gedankliche und emotionale Horizont ist unsere Lebensweisheit. Unsere Mitmenschlichkeit aber ist nicht allein von unserer Lebenserfahrung und Lebensweisheit bestimmt. Mitmenschlichkeit ist Miterleben mit dem Willen, Anteil zu nehmen; mit dem Entschluss, die Gemeinsamkeiten unserer Schicksale solidarisch und deshalb auch tätig anzuerkennen. Humanität ist immer persönlich, konkret und momentan; sie zeigt sich in den Augenblicken, in denen wir das Leben anderer Menschen wahrnehmen und mittragen wollen, so wie wir unseres tragen.

Erfolgsleere

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