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Philosophieren ist das Handwerk des Lebens

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Philosophie verstehe ich als den Versuch, die Arbeit des Lebens durch Nachdenken zu einem Handwerk zu machen. (Der Ausdruck »Das Handwerk des Lebens« stammt von Cesare Pavese, aber er meint damit nicht die Philosophie.) Wer jetzt an Tischler und Schuster und ihre Handwerke denkt, hat den Sinn dieser Wortwahl schon erfasst. Denn nur wenn das Nachdenken der Philosophie praktisch in unser Leben übersetzt, also ausgeübt werden kann, ist es letztlich der Mühe wert. Philosophieren heißt, bewusst daran arbeiten, der Mensch zu werden, der wir für uns selbst und andere sein wollen.

Zu diesem Handwerk gehört es, gezielt solche Erfahrungen zu suchen, von denen wir uns Fortschritte auf diesem Weg erhoffen. Will ich eine glaubwürdige Führungspersönlichkeit sein, die mit vielen unterschiedlichen Menschen gut harmoniert, so werde ich mich möglichst schwierigen, vielleicht überfordernden Führungsaufgaben aussetzen wollen. Diese Tätigkeiten werden mir Erlebnisse und Einsichten verschaffen, die mich umsichtiger und klüger für meinen ganz bestimmten Lebensweg machen. So erlange ich die Lebensweisheit, nach der mein Leben verlangt. So erlerne ich das Handwerk meines Lebens.

Die denkerische und praktische Bemühung um ein gelingendes Leben ist Philosophie; eine stete Anstrengung, mein Leben selbst zu führen. Ein nicht durchdachtes Leben ist einfach nur ein Dasein in der Zeit – es gelingt oder scheitert nicht, weil es keine Ansprüche an den Fortgang der Dinge stellt. Ein Leben, das meiner Regel und meinem Vorsatz folgt, legt sich dagegen fest und erreicht oder verpasst seine Erfüllung und Zufriedenheit. Das meint Platon, wenn er Sokrates sagen lässt, ein nicht durchdachtes Leben sei nicht lebenswert. Die uns gestellte Frage ist: Wie muss ich nachdenken und handeln, um bei der einzigen Gelegenheit richtig zu leben?

Habe ich dieses Handwerk meines Lebens, meine Philosophie, gefunden? Und wenn ja, habe ich sie praktisch gemeistert oder rede ich bloß so daher? Die theoretischen Untiefen der akademischen Philosophie, ihre für den Alltagsverstand der »Uneingeweihten« lachhaft wirkenden begrifflichen Verrenkungen und aufwändigen Vergewisserungen über anscheinend sehr einfache Dinge – all dies ist nicht Zweck, sondern Mittel der Philosophie, uns leben zu helfen. Theorie ist nicht das Ziel der Philosophie, wie sie nicht das Ziel des Lebens ist, sondern die Erkundung des Weges zum Ziel; am Ende meines Weges zu meinem Ziel.

Sich dem Handwerk seines Lebens, seiner Philosophie, offen zu verschreiben hat seine Kosten. Philosophieren äußert sich in einer generellen Zurückhaltung beim Mitziehen mit Anderen, die als Mangel an Geselligkeit und Anteilnahme erscheinen kann. Wer sich selbst befragt, muss letztlich auch selbst antworten, ist deshalb allein und muss es oft sein. Und die Selbstbefragung eines Philosophen wird an ihm von den Anderen wahrgenommen – besonders, aber nicht nur dann, wenn er spricht. Nachdenklichkeit vermittelt sich auch über Gesten, Blicke, bewusst gesetzte Stille und die sichtbaren Grade von Interesse und Ablenkung.

Direkt bedrohlich ist Nachdenklichkeit für Leute, die der Richtigkeit ihrer Ansichten versichert und gerade nicht verunsichert werden wollen. Die größten intuitiven Gegner der Philosophie sind Menschen, die an ihrem Leben leiden, aber doch gerade diese Gestaltung ihres Lebens mit größtem Einsatz herbeigeführt haben. Im konventionellen Sinne besonders erfolgreiche Menschen ersticken oft jede Nachdenklichkeit im Keim, in ihrer Freizeitgestaltung und im Gespräch, damit (um einen Ausdruck Nietzsches zu gebrauchen) der Bogen ihres bisherigen Lebens nicht breche.

Diese letzten Sätze beschwören vielleicht das typische Bild des Philosophen als eines verschrobenen, weltfremden Einzelgängers herauf, der zudem die Anderen hochmütig beurteilt – ein beliebtes Klischee, das für alle Beteiligten komfortabel ist. Denn es entlastet den Philosophen von seiner stillen Angst, ja seinem Trauma, der »realen Welt« oder »dem wirklichen Leben« in sinnvoller Weise verbunden sein zu sollen und dies vielleicht nicht zu vermögen; ebenso entlastet es die Mitmenschen davon, das Philosophieren ernst zu nehmen, da seine Vertreter ja offenkundig weltfremde Spinner sind.

Die Phantasie von der weltfremden Philosophie ist zweckmäßig und wirksam, um dem Nachdenken über sich selbst zu entkommen. Diese Einbildung führt aber in die Irre. Philosophieren ist kein abseitiger Sonderzustand des Lebens, auch keine nur zu durchlaufende Entwicklungsstufe. Philosophieren ist die geistige Tätigkeit, durch die das bloße Dasein in der auf- und niederwabernden Erfahrung zum Leben eines bestimmten Einzelnen wird. Unser Philosophieren ist deshalb untrennbar mit unserer Moralität verbunden, die ohne philosophisches Nachdenken überhaupt nicht bewusst in unserem Leben zum Tragen kommen kann.

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