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Was ist Moralität?

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Hier wird es nun scheinbar sehr schwierig, weil die Moral oft als eine unendlich komplizierte und zugleich vage Angelegenheit verhandelt wird. Man stellt sich beim Thema »Moral« vielleicht in Zigarettenqualm gehüllte Grübler vor, die mit eindringlichem Blick tiefsinnige Dinge verkünden, die man schon aus Respekt sich nicht gleich zu verstehen traut. Oder man denkt an pathetische Moralpredigten, die Politiker oder Geistliche vornehmlich am Sonntag dort halten, wo man sie gut sehen kann. Ignorieren wir aber diese Tradition der Mystifizierung und pathetischen Aufladung des Themas, so wird es klar und einfach.

Ein moralisches Wesen zu sein bedeutet, ein stilles Gespräch, also ein Selbstgespräch führen zu können. Wer ein Selbstgespräch führt, stellt sich selbst Fragen und antwortet sich selbst, macht sich Anmerkungen, baut sich Brücken von einem Standpunkt zu einem anderen, gesteht sich alte Irrtümer ein und neue Einsichten zu, kurz: Wer ein Selbstgespräch führt, bewahrt sich einen Vorbehalt gegenüber dem, was ihm gerade durch Kopf und Glieder geht. Denn was mich gerade beschäftigt und treibt, könnte Unsinn oder ungerecht sein, und das weitere Gespräch mit mir selbst und mit nachdenklichen Anderen könnte mich das lehren. Wer mit sich selbst spricht, will wissen, was er wirklich Grund hat zu denken und zu tun. In diesem Sinne sagt Andrej Platonow: »Sich mit sich selbst zu unterhalten ist eine Kunst, sich mit anderen Menschen zu unterhalten Zerstreuung.«

Im Selbstgespräch kritisieren wir nicht nur unser eigenes Denken; wir machen darin auch einen Vorbehalt gegen unser gewohntes Tun und gegen das Verhalten unserer Umgebung geltend. Was wir eben gerade denken, wird vom Selbstgespräch in Frage gestellt, und deshalb tun wir auch nicht einfach, was unser aktuelles Denken uns nahelegt, und wir akzeptieren das auch bei den Anderen nicht. Wir zögern und schauen noch einmal. Moralisch sein heißt, mit sich selbst sprechen und sich damit das letzte Wort vorbehalten, das wir als Mensch über unsere Verhältnisse ja auch tatsächlich haben. Moralisches Nachdenken wird zu moralischem Handeln, wenn wir dieses letzte Wort dann auch aussprechen und die Konsequenzen tragen.

Unsere moralische Fähigkeit liegt im Nachdenken und im Handeln. Im Nachdenken bewahren wir einen Vorbehalt gegen das, was wir vorfinden; im Handeln erheben wir Einspruch gegen das Geschehen um uns und setzen uns für das ein, was wir für besser befinden. Unsere Moralität ist der Einspruch, den wir gegen unseren eigenen augenblicklichen Willen, gegen das Tun der Anderen, besonders aber gegen den Sog der Verführung geltend machen, in den Chor der anderen einzustimmen. Das philosophische Fachwort für diese aktive, stets suchende Form der Selbstbestimmung ist Autonomie: Autonom, also »selbstgesetzgebend«, ist ein Wesen, das seine eigenen Bewertungsmaßstäbe und Verhaltensmuster überdenken und verändern kann.

So betrachtet ist das Philosophieren die eigentliche, die charakteristische Tätigkeit eines moralischen Wesens. Denn indem wir die Ziele unseres Lebens und das Handwerk ihrer Verfolgung bestimmen, setzen wir Werte in die Welt. Dies ist unser Vorbehalt gegen den etablierten Lauf der Dinge, unser erstes wirklich eigenes Wort und zugleich das letzte Wort, auf dem wir da beharren werden, wo es bestritten wird. Hier liegt die Hoffnung, über die Bedrückungen unseres bisherigen Lebens und die grausamen Missstände unserer ererbten Welt hinauskommen zu können zu etwas Besserem. Hier, in unserer Autonomie, liegt unsere einsame Würde.

Es ist deshalb ein vollkommenes Missverständnis, das Nachdenken über Prinzipienfragen, das gute Leben und die gerechte Gesellschaft als Angelegenheit einer irgendwie spezialisierten Elite zu betrachten. Die philosophischen Fragen ruhen auf wiederkehrender menschlicher Erfahrung, sie entstehen und wachsen aus ihr. Und mit den Antworten, die wir auf sie geben, kehren sie auch in die Erfahrungswelt zurück: Die großen Fragen werden gestellt und diskutiert, sie tauchen auf Lehrplänen auf, sie bestimmen die Therapiesitzungen der glücklich versorgten Unglücklichen und bilden den Hintergrund der Abschiedsbriefe der unversorgten.

Kneipengespräche und Geschwistertelefonate kreisen um die Erfahrungen, die den Fragen nach dem richtigen Handwerk des eigenen Lebens ihren Grund geben. Auch wenn dort die Frage nach der Philosophie, nach dem Handwerk des Lebens, nicht ausdrücklich gestellt wird, so wird sie doch bei diesen Gelegenheiten verhandelt. Die Beschäftigung mit philosophischen Problemen ist allen Menschen gemeinsam, weil wir alle denselben Beschränkungen unterliegen und demselben Ende entgegengehen. Nur fällt es nicht jedem ein, diese Beschäftigung auch »Philosophieren« zu nennen. Das ist auch nicht wichtig – außer für diejenigen vielleicht, die als »offizielle« Philosophen einen Berufsstand bilden und ihrer Bedeutung versichert werden wollen. Zum Glück behält Franco Berardi recht: »Die Menschen handeln oft, ohne die relevanten Bücher zu lesen.«

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