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Der vermeintliche Tod

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Gleißendes Licht. Leuchtend, unerträglich, intensiv, bösartig. Ich kniff meine Augenlider zusammen, versuchte, mich vor der Aura der himmlischen Illumination zu schützen. Meine körperlose Seele schrie gepeinigt auf, während mein Verstand nach einem schattigen Plätzchen Ausschau hielt.

So also fühlt sich das ewige Leben an, dachte ich und verfluchte mich im Stillen dafür, dass ich keine Sonnenbrille bei meinem Suizid getragen hatte.

Keine Schmerzen, keine Arme, Beine, Hände, Füße. Keinen Bauch, keinen Rücken, keine Brust, keinen Hermann, keine Eier. Und natürlich auch keine Pistole.

»Scheiße, Wolfi … Ich glaube der Kerl lebt noch!«

»Quatsch. Der Spinner hat ´ne Kugel im Kopf. Hat aus seinem kranken Hirn rote Grütze gemacht. Hast es doch selbst gesehen, Dieter.«

»Trotzdem, Wolfi! Schau dir mal sein linkes Augenlid an, es zuckt.«

»Echt jetzt? Ohne Scheiß?«

»Ja, wenn ich es dir doch sage. Da, jetzt hat er geblinzelt.«

»Ist ja echt gruselig. Pass auf, der Kerl hat immer noch seine Waffe in den Fingern. Nimm sie ihm besser ab.«

Welche Finger?, dachte ich entsetzt. Ich hatte doch überhaupt keine Finger mehr.

»Tote haben keine Finger, du Blödmannsgehilfe!«, schrie ich aus Leibeskräften.

Was sollte der ganze Mist? Wer zum Teufel war dieser Wolfi, der sich über mich mit einem Typen namens Dieter unterhielt?

Keine Reaktion auf meinen Aufschrei. Die beiden Kerle ignorierten mich einfach. Taten so, als hätten sie mich überhaupt nicht gehört.

»Oh Mann, Dieter. Da hinten liegen ´ne Frau und ein Mann. Beide nackt. Großer Gott, die Frau ist tot. Der Mann lebt allerdings noch. Du meine Güte, was für ne Sauerei! Den hat jemand kastriert. Himmel, sieht das übel aus.«

»War bestimmt das kranke Schwein hier,« sagte die Stimme über mir.

»Richtig!«, sagte ich.

»Was machen wir denn jetzt?«

Eine böse Vorahnung schlich sich, als schattenhafte Gestalt verkleidet, in mein Bewusstsein.

»Wir warten auf die Sanis. Die Zentrale hat die Jungs ja bereits angefordert. Vielleicht kannst du dem armen Kerl ja irgendwie helfen. Ich passe in der Zwischenzeit auf den Spinner hier auf. Einen Mann zu kastrieren, der ist doch nicht ganz dicht. Scheiße, jetzt zuckt er am ganzen Körper. Sieht aus wie bei einem Zombie.«

»Zombie? Krankes Schwein? Nur zu, beleidigen Sie mich ruhig weiter! Ich bin Rechtsanwalt. Ein verdammt guter Rechtsanwalt! Ich werde mir jedes Wort merken und Sie wegen Beleidigung meiner Person verklagen. Tun Sie sich keinen Zwang an! Die Liste wird immer länger, was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Schmerzensgeld immer höher ausfällt«, knurrte ich in einem belehrenden Tonfall.

»Herrje, was ist denn hier passiert? Das sieht ja aus wie in einem Schlachthof.«

Weitere Stimmen prasselten auf mich ein. Wollten wissen, was sich in meinen vier Wänden zugetragen hatte. Das gleißende Licht vor meinen Augen verlor langsam an Intensität. Ich konnte konturenlose Gestalten erkennen, die in hektischer Betriebsamkeit an mir vorbeihuschten.

Doch ich war zu müde, fühlte mich schlapp und kämpfte gegen das Gefühl, in einen hundertjährigen Schlaf verfallen zu müssen. Außerdem ignorierten mich ja doch alle. Ich konnte sagen, was ich wollte, die Menschen um mich herum reagierten überhaupt nicht auf meine Worte.

So hatte ich mir den Tod nun wirklich nicht vorgestellt! Vielleicht befinde ich mich ja noch in einem Übergangsstadium? Eine Art Zwischenreich der Toten, dachte ich irritiert.

So verhielt es sich augenscheinlich. Ich stand oder besser: lag an der Haltestelle zur Himmelspforte? Doch wenn das so war, wenn ich wirklich noch auf der Erde verweilen musste – abwartend, körperlos, mich niemanden mitteilen könnend –, war das eine bodenlose Frechheit. Wann würde endlich der Bus kommen und mich sanft schaukelnd zu Gottes Palast befördern? Hatten die da oben vielleicht übersehen, dass ich gestorben war? Was für ein Mumpitz lief denn hier nur ab?

Wie zur Bestätigung hörte ich aus weiter Ferne eine einfühlsame Männerstimme.

»Seine Vitalwerte sind eigentlich ganz ordentlich. Ich sehe eine Eintrittswunde – drehen Sie mal seinen Kopf ein wenig – aber keine Austrittswunde. Das Projektil scheint noch in seinem Kopf zu stecken. Ist das die Waffe, mit der er sich in den Kopf geschossen hat?«

Keine Austrittswunde? Projektil scheint noch im Kopf zu stecken? Ordentliche Vitalwerte?

Was ich Ihnen nun sage, sollten Sie sich gut merken! Benutzen Sie für einen Suizid nie, ich betone: nie eine Schusswaffe mit kleinem Kaliber. Achten Sie darauf, dass Ihre Pistole mindestens ein Projektil von Kaliber neun Millimeter abfeuert. Und benutzen Sie um Himmelswillen keine Vollmantel-Geschosse. Vollmantel-Geschosse sind ganz schlecht. Stellen Sie sicher, dass Ihre Waffe mit Hohlspitz-Geschossen geladen ist. Diese pilzen – dies ist ein Fachbegriff – nämlich schön auf und reißen Ihnen ein faustgroßes Loch in Ihr Gehirn. Ach ja, noch eins: Drücken Sie die Waffe nie gegen die Schläfe! Setzen Sie sie stattdessen lieber auf die Nasenwurzel! Wenn Sie dann abdrücken, jagt die Kugel direkt und ohne Umwege durch Ihr zentrales Stammhirn. Der Erfolg ist garantiert, Ihr Tod eine logische Konsequenz.

Heute weiß ich diese Dinge. Doch damals, in meinem Wohnzimmer, verfügte ich leider noch nicht über dieses Wissen. Ich habe mich wie ein Amateur verhalten. Habe einen Kardinalsfehler nach dem anderen begangen und muss nun mit allen Konsequenzen dieses Amateurtums leben.

Nun gut. Ich merke schon, Ihre Ungeduld wächst. Ich erzähle und erzähle, schweife vom eigentlichen Thema ab, verliere mich wieder einmal in Belanglosigkeiten.

Ein Dozent an der Uni hat einmal einen schönen Wahlspruch geprägt. Ich habe ihn wie ein Schwamm in mich gesaugt. Habe ihn zum Leitspruch meines Lebens gemacht.

„Wer am Ende steht, steht eigentlich am Anfang.“

Was sagen Ihnen diese Worte?

Auf meine momentane Lebenssituation bezogen, bedeuteten sie, dass ich vor einem Neuanfang stand. Ich lag auf dem sündhaft teuren Edelholzparkett meiner Penthouse-Wohnung und hatte eine Kugel in meinem Kopf stecken. Ich konnte mich weder wie ein Mensch artikulieren, noch gelang es mir, mich zu bewegen. Dass ich nur noch verschwommen Konturen wahrnehmen konnte, hatte ich Ihnen – glaube ich jedenfalls – bereits erzählt.

Mein Kopf schien in Watte gepackt. Einzig meine Ohren – vernachlässigte man einmal die schrillen Pfeiftöne – erfüllten noch ihren Zweck. Meine Sinne waren auf ein Mindestmaß reduziert, mein Körper diente nur noch als kraftlose Hülle, als ein Schneckenhaus für meinen angeschlagenen Verstand.

In diesem Zustand zwischen dem Nichts und dem Irgendetwas trat ich meine Reise in die Frankfurter Uni-Klinik an. In den Augen der Polizisten ein widerwärtiger Freak, der seine schöne Frau ermordet und einen Mann fast zu Tode gequält hatte.

Was der Notarzt über mich dachte, kann ich Ihnen nicht sagen. Doch ich muss gestehen, er war sehr nett zu mir, spendete mir Trost, sprach mir sogar Mut zu.

Sicher hatte auch er schon einmal die leidvolle Erfahrung eines Betrogenen durchlebt. Sicher verfügte dieser gebildete Mann über den nötigen Intellekt und brachte ein gewisses Verständnis für meine schwierige Situation auf.

Schließlich war ich ja kein Unmensch. Ich hatte meine Frau nicht aus einer abartigen, gestörten Veranlagung heraus ermordet. Das Gegenteil war der Fall. Ich hatte es nur gut gemeint und sie von ihrer schweren Last, ihrer unerhörten Schuld befreit.

Was Sie noch nicht wissen: Ich bin eine tragende Säule dieser Stadt. Stehe mit der Bürgermeisterin auf Du und Du. Spiele mit den Richtern regelmäßig eine Partie Golf oder fahre mit dem Oberstaatsanwalt zu einer gemütlichen Weinprobe aufs Land.

Diese Menschen würden mich bestimmt verstehen. Sie würden ihre Lippen schürzen, verständnisvoll mit dem Kopf nicken und Charly – für das, was sie mir angetan hatte – aufs Strengste verurteilen. Ich hätte beinahe mein Gesicht verloren. Wäre zum Gespött, zum Hauptgesprächsthema hinter vorgehaltener Hand geworden. In den Elite-Kreisen, in denen ich mich bewege, lästert man nicht öffentlich. Man macht es heimlich, im Verborgenen, fernab von Gut und Böse.

Und das nach allem, was ich für diese Frau getan hatte! Ich hatte sie aus der gutbürgerlichen Schicht geholt und in den gehobenen Kreisen dieser wunderschönen Weltmetropole eingeführt.

Meine Gedanken schweiften ab. Entfernten sich zu einem Punkt in meinem Leben, an dem meine Arbeit für mich noch oberste Priorität genossen hatte. Ich noch nicht der süßen Versuchung meiner einzigartigen, wunderschönen Charly anheimgefallen war.

Gott, wie sehr sie mir schon jetzt fehlte! Wie sehr ich den süßen Duft ihrer zarten Haut vermisste. Wie sehr ich ihre sanft geschwungenen Lippen, ihre gletscherblauen Augen herbeisehnte.

Das Schicksal ist ein bösartiges Monster. Es füttert dich mit den lieblichen Verlockungen des Lebens. Zeigt dir das Paradies auf Erden, lässt dich die Einmaligkeit der Liebe spüren. Und dann, wenn dir die Sonne wie ein Flutlicht aus dem Arsch scheint, türmen sich am Horizont wahre Wolkengebirge auf, bringen Sturm und Hagel mit sich, stürzen dich in ein alles beherrschendes Unglück.

Ich sehe schon, jetzt wollen Sie auch den Rest der Geschichte hören.

Ich durchschaue Sie. Sie wollen sich an meinem Pech berauschen, sich an meinem Unglück ergötzen. Nur zu! Lassen Sie keine Gemeinheit aus. Lachen Sie über meine Naivität, amüsieren Sie sich über meine Torheit!

Doch um Ihnen den Spaß ein ganz klein wenig zu verleiden, möchte ich Folgendes dazu anmerken: Überlegen Sie mal! Denken Sie für ein paar Sekunden darüber nach! Was könnten Sie mir schon antun, das das Schicksal mir noch nicht angetan hat?

Oder täusche ich mich etwa, und Sie empfinden so etwas wie Mitgefühl für mich, für meine prekäre Situation? Egal! Mich interessieren Ihre Beweggründe eigentlich nicht. Lachen Sie mich ruhig aus, beschimpfen Sie mich, bedauern Sie mich ein wenig! Das ist Ihre Sache, Ihr ganz privates Vergnügen.

Für mich zählt nur die Tatsache, dass Sie mir zuhören, mich aus dem tristen Alltag meines Daseins erlösen. Ich freue mich einfach darüber, dass Sie für ein paar Stunden mein Wegbegleiter sein wollen.

Wir springen jetzt gemeinsam drei Jahre in der Zeit zurück. Wir springen zurück zu dem Zeitpunkt, an dem ich meine Charly zum ersten Mal gesehen habe.

Machen Sie sich bereit! Unsere gemeinsame Reise beginnt, sobald Sie die nächste Seite aufschlagen …


Der Hölle so nah

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