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Ein grandioser Plan

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Am nächsten Morgen stand ich bereits gegen 5:30 Uhr auf, absolvierte eine Strecke von fünf Kilometern auf dem Laufband und begab mich danach für zwei Durchgänge in meine kleine, finnische Sauna.

Nach einer ausgiebigen Dusche, zwei Espressi sowie einer Schüssel Vital-Müsli ging ich in mein Ankleidezimmer und stellte völlig perplex fest, dass die Auswahl an trendiger, sportlicher Freizeitkleidung doch recht eingeschränkt ausfiel.

Neben der Golf- und Tenniskleidung besaß ich gut zwei Dutzend Anzüge. Wahlweise in Dunkelgrau oder Schwarz. Zweiundzwanzig weiße und achtzehn hellblaue Hemden sowie fünfzehn Paar rahmengenähte, schwarze Lederhalbschuhe. Gut fünfzig farblich abgestimmte Krawatten vervollständigten mein Business-Outfit. Für außerberufliche Aktivitäten besaß ich gerade einmal zwei Stoffhosen von Hollister und fünf Poloshirts derselben Marke in Schwarz.

»Vielleicht bin ich bei meiner Bekleidung doch ein klein wenig zu konservativ«, murmelte ich gedankenverloren vor mich hin.

Völlig desillusioniert schlüpfte ich in meine weiße Feinripp-Unterwäsche, wählte ein hellblaues Hemd mit weißem Button-Down-Kragen und nahm mir fest vor, mit Winni in den nächsten Tagen eine Runde zu shoppen. Ein schwarzer Anzug sowie eine kecke Krawatte in farblich abgestimmten Blautönen rundeten mein Erscheinungsbild für den heutigen Tag harmonisch ab.

Sie fragen sich jetzt sicherlich, woher ich das alles noch weiß? Warum ich mich an all diese Kleinigkeiten so gut erinnern kann?

Wissen Sie, wenn man keine Zukunft mehr hat, dann lebt man eben in der Vergangenheit. Vor der Zukunft verschließe ich mich. Ich möchte nicht an sie denken. Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, dass ich die nächsten Jahre steif wie ein Stück Holz in einem Metallbett vor mich hinvegetiere.

Darum lebe ich in meiner Vergangenheit. Lebe mit meinen Erinnerungen. Hier bin ich frei. Kann mich durch Zeit und Raum nach Belieben bewegen. Ich bin weder blind, noch bin ich gelähmt. Ich kann zu jeder Zeit selbst entscheiden, was ich erlebe, kann selbst entscheiden, wie ich mich fühle.

Glück oder Unglück. Liebe oder Hass. Zärtlichkeit oder brutale Gewalt.

Alles ist möglich, alles ist für mich real.

Ja, so ist das! Wenn du keine Zukunft mehr hast, dann lebst du dein Leben in der Vergangenheit. Das ist die einzige Gemeinsamkeit, die einzige Gleichung, die mich mit den anderen Bewohnern in diesem Pflegeheim verbindet.

Hier hat keiner eine echte Zukunft. Fast alle leben – dank einer hinterlistigen Erkrankung mit dem unscheinbaren Namen Demenz – in ihrer ganz persönlichen Vergangenheit. Manche sind wieder ein Kind, andere fühlen sich jung und verliebt.

Wir schlafen im Sitzen, sabbern, weil uns der Mund offensteht und stinken, weil wir in die Windeln geschissen haben.

Was für ein Albtraum, was für ein menschenunwürdiges Leben!

Diejenigen von uns, die nicht an Demenz leiden, haben, aus welchen Gründen auch immer, ein schweres Hirntrauma oder wurden zum Opfer ihres unbeaufsichtigt hohen Bluthochdruckes per Schlaganfall. Wir sind die Pflegestufe 3. Wir sind ein bunter Haufen Narren, die kein Recht auf Eigenbestimmung mehr besitzen. Wir haben einen richterlich bestellten Vormund und sind unseren Betreuern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Eine Lobby besitzen wir nicht, für uns macht sich kein Politiker stark. Wir bilden ein eigenes Universum und leben in unserer ganz persönlichen, für andere verkehrten Welt.

Ich möchte Ihnen einen Ratschlag erteilen: Achten Sie gut auf Ihre Gesundheit. Ernähren Sie sich bewusster, treiben Sie ein wenig Sport und lassen Sie die Finger von den verdammten Zigaretten. Ihre Gesundheit, Ihr geistiges Wohl, ist das Kostbarste, was Sie besitzen. Schützen Sie sie, geben Sie gut auf sich acht! Genießen Sie das Leben, verschwenden Sie es nicht durch die Jagd nach Erfolg, Reichtum oder Macht. Verwirklichen Sie Ihre Träume, tun Sie, was auch immer Ihnen Spaß macht, bevor der Mann mit der Sense Sie zum letzten Tänzchen bittet.

Wo war ich bei meiner Geschichte stehengeblieben? Ach ja, genau!

Ich fuhr also damals mit meinem Porsche in die Kanzlei. Sie befand sich in einer alten, geräumigen Stadt-Villa. Ganz in der Nähe des Untermain-Stern-Kais. Wissen Sie, wo das ist?

Schaute man aus den raumtiefen Fenstern meines Büros, hatte man eine freie Sicht auf den Main. Hielt man im Sommer die Fenster geschlossen, konnte einem der Gestank des Flusses und die Armada der Stechmücken glücklicherweise nur wenig anhaben. Wäre unsere Adresse nicht so exklusiv gewesen, hätte ich ein klimatisiertes Büro in einem City-Tower jederzeit der alten Villa vorgezogen.

Ich habe nie verstanden, warum eine Vielzahl meiner Klienten mit verzückten Blicken an meinen Fenstern stand und den vorbeischleichenden Frachtkähnen hinterherstarrte. Vielleicht war das ja so ein Ding aus deren Kindheit, in der fast jeder zweite Junge Lokomotivführer oder Kapitän eines Schiffes werden wollte.

Ich nahm mir für solche Sentimentalitäten keine Zeit. Mein primäres Ziel hieß: Erledige diesen Muskelprotz! Mach ihn fertig, schaff ihn von der Bildfläche, radiere ihn aus ihrem Leben!

Ich hatte größte Bedenken, dass er Charly etwas antun könnte oder dass sie seinen Avancen doch noch erliegen würde.

Fressen oder gefressen werden. Ich hatte keine Wahl.

Während ich nachdenklich an meinem Kaffee nippte, hörte ich die alte Holztreppe protestierend knarren. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass Winni, ganz gegen seine Gepflogenheiten, sich schon vor zehn Uhr in unserer Kanzlei einfand.

»Winni, bist du das?«, rief ich halblaut in den Flur hinaus.

Keine Antwort!

Dann lauter: »Winni … Winni, bist du das?«

»Ja doch. Warum schreist du denn so?«

»Bist du aus dem Bett gefallen?«

»Nee! Ich habe um elf Uhr ein Termin mit Orloff und will mich darauf vorbereiten. Ich muss dir ja nicht erzählen, was der Kerl mit mir anstellt, wenn ich auf seine Fragen keine Antworten weiß.«

Dimitrie Orloff. Russischer Geschäftsmann und Kopf einer gut florierenden Organisation, auf deren Fahne das organisierte Verbrechen stand. Ein übler Schurke fast biblischen Ausmaßes, der mit klugem Kopf und stählerner Hand seine dubiosen Geschäfte führte.

Wir betreuten seine legalen Unternehmungen und arbeiteten hart an seinem positiven Image. In Sachen Straftaten hatte er seine eigenen Anwälte. Das war einfach nicht unser Ding und passte auch nicht zu unserer Geschäftsphilosophie. Ich würde meine kostbare Zeit nie mit Mördern, Schlägern, Einbrechern oder Drogenkurieren verbringen.

Was konnte man als Anwalt an solch einem Mandanten schon verdienen? Für so ein Taschengeld würde ich morgens noch nicht einmal aufstehen.

»Dann wünsche ich dir viel Glück, mein Lieber. Sind die Wohnungen endlich frei?«

»Ja, bis auf drei. Da sträuben sich die Mieter noch ein wenig. Ich habe ihnen ein hübsches Sümmchen geboten, um sie zum Auszug zu bewegen.«

»Und?«

»Die sind echt hartnäckig. Entweder wollen sie den Preis noch ein wenig in die Höhe treiben oder sind einfach nur blöde«, meinte Winni achselzuckend.

Ja, die Grundstücksspekulation war ein nervenaufreibendes Geschäft. Manche Menschen verrannten sich förmlich in ihren Starrsinn. Wollten nicht akzeptieren, dass sie aus ihren günstigen Mietwohnungen ausziehen sollten.

»Für was braucht Orloff eigentlich das Grundstück? Will er die Wohneinheiten renovieren und in Eigentumswohnungen umwandeln?«

»Nee. Er braucht mehr Stellfläche für seine LKW. Das Geschäft mit der Spedition brummt und er benötigt mehr Platz für seine neuen Vierzigtonner.«

»In einem Wohngebiet? Das klappt doch nie.«

»Das ist kein Problem, Tobias. Der zuständige Mann vom Bauordnungsamt macht gerade einen Luxusurlaub in der Karibik. Du kannst ja mal raten, wer diesen Urlaub und das nötige Taschengeld bereitgestellt hat. Der Typ frisst uns praktisch aus der Hand.«

»Respekt …«

»Nicht schlecht, was? Hast du schon was wegen deiner neuen Flamme unternommen?«, fragte Winni im beiläufigen Tonfall.

»Ja. Nein. Die Wahrheit ist, dass mir nicht so recht etwas einfallen will. Natürlich kann ich eine Strafanzeige wegen Stalkings stellen, aber wird das den Typ auch aufhalten?«

»Ich kann ja nachher mal Orloff fragen. Der muss seine Schläger sowieso losschicken, um die Mieter zur Vernunft zu bringen. Die könnten den Kerl doch gleich ein bisschen durch die Mangel drehen, oder?«

Ich überlegte fieberhaft. Eine kleine Abreibung würde dem Muskelprotz bestimmt nichts schaden. Und wenn Orloffs Männer ihm dann noch ein paar Gramm Marihuana oder Amphetamine unterjubelten und anschießend der Polizei einen kleinen Tipp gaben, wanderte der Kerl erst einmal in den Bau. Zusätzlich konnte ich dann noch mit der Anzeige wegen Stalkings einen weiteren Nagel in seinen Sarg einschlagen und meinen Nebenbuhler auf elegante Weise ins Abseits stellen.

»Winni, du bist genial«, rief ich erfreut, leckte mir über die spröden Lippen und sagte dann: »Gib mir kurz Bescheid, wenn ihr mit der eigentlichen Sache durch seid. Ich spreche selbst mit Orloff, vielleicht kann er mein kleines Problem wirklich aus der Welt schaffen. Wozu hat man schließlich solch gute Kontakte. Wäre ja eine Schande, wenn man sie nicht nutzt, um einer verzweifelten Mandantin zu helfen.«

»Verzweifelt, klar. Ich sage dir Bescheid, wenn wir fertig sind«, nickte Winni zustimmend. In seinem Ton schwang eine kleine Prise Hohn mit.

Der Hölle so nah

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