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Der Anfang vom Ende

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Ja, so war das damals. An diesem Abend sah ich meine Charly zum allerersten Mal.

Liebe auf den ersten Blick.

Wenn ich heute darüber nachdenke, war es der Anfang von meinem Ende. Es war der Anfang einer nicht enden wollenden Lüge. Der Anfang eines perfiden Plans, geschmiedet von zwei kranken, zu allem entschlossenen Hirnen.

Aber das – so bilde ich mir jedenfalls ein – konnte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht erahnen.

Wir, Winni und meine Wenigkeit, saßen also am Nachbartisch und lauschten, Winni gelangweilt, ich voller Faszination, der leise geführten Unterhaltung unserer Tischnachbarinnen. Wer diese zweite, recht unscheinbar wirkende Frau war, habe ich leider nie herausgefunden. Es hat mich damals nicht interessiert. Sie war in meinen Augen ein unbedeutendes Subjekt, mit dem man seine Zeit nicht vergeuden sollte. Mir ist immer noch nicht klar, welche Rolle sie in diesem Spiel innehatte. Ich bin ihr nie wieder begegnet.

Doch ich greife voraus. Das ist an diesem Zeitpunkt noch nicht von Belang.

Haben Sie Hunger? Sie sitzen ja schon eine Zeitlang an meinem Bett. In der obersten Schublade müsste eine Packung mit Keksen liegen. Meine Mutter hat sie mir bei ihrem letzten Besuch mitgebracht und dort verstaut.

»Hallo Schatz, ich habe dir deine Lieblingskekse mitgebracht. Du weißt schon. Die Soft Cakes, die mit der Orangenfüllung.«

Fast hätte sie es mit diesen wenigen hirnlos dahingeworfenen Sätze geschafft. Mein Geist brüllte auf und versuchte, aus dem Mantel meines Schlafkomas auszubrechen. Ich war beseelt von dem Wunsch, aus dem Bett herauszuspringen, meine Mutter an ihrem dürren, faltigen Hals zu packen und ihr die Luft aus den Lungen zu pressen.

Haben Sie schon einmal so einen Mist gehört?

Ich liege im Wachkoma. Abgeschoben in ein Pflegeheim. Werde künstlich ernährt und alle zwei Tage von einem Pfleger gewaschen. Und meine Mutter bringt mir eine Packung dieser leckeren Soft Cakes mit.

Herrje, wie dumm kann ein Mensch denn eigentlich sein?

Wo waren wir?

Genau!

Ich lauschte voller Faszination der liebreizenden Stimme meiner neu auflodernden Liebe. Sie saß – mir ihr Halbprofil zuwendend – keinen Meter von mir entfernt. Ich hätte nur meine Hand ausstrecken müssen, um ihre samtweiche, schokobraune, faltenlose Haut zu berühren.

Ich roch den süßlichen Duft ihres betörenden Parfüms und schaute voller kindlicher Entzückung auf ihre spielerisch gestikulierenden Hände.

Alleine der Gedanke, was diese zarten Finger mit meinem Körper alles anstellen könnten, trieb mir den Lustschweiß auf die Stirn. Ließ mein Glied schmerzhaft anschwellen und beraubte mich meines Verstandes.

»Entschuldigen Sie bitte. Wir haben Ihr Gespräch eher zufällig mitangehört«, hörte ich Winni sagen und schreckte aus meinen Tagträumen auf.

Er stand an unserem Nachbartisch und streckte – ganz seriöser Geschäftsmann – meiner Angebeteten seine rechte Hand entgegen.

»Wir«, er zeigte auf mich, »sind Rechtsanwälte. Vielleicht können wir Ihnen bei Ihrem …«, er legte gekonnt eine kurze Redepause ein und tat so, als suche er nach den passenden Worten, »… unangenehmen Problem behilflich sein.«

Seine sehnige Hand schwebte noch immer, zu einem ersten Händeschütteln bereit, in der Luft. Doch Charly ergriff sie nicht. Sie stützte sich auf die Armlehnen ihres Sessels – ich bewunderte das Spiel ihrer Rückenmuskulatur – und schaute zuerst in meine Richtung.

Ein flüchtiges, nur angedeutetes Lächeln, küsste für einen winzigen Moment ihre sinnlich geschwungenen Lippen, während mich ihre eisblauen Augen interessiert musterten.

Ich erinnere mich noch genau an diesen ersten Blickkontakt. Er hat sich mit all seinen Empfindungen in mein Gehirn geätzt. Hat sich für immer in meinen Gedanken verewigt, häuslich eingerichtet, seine unwiderrufliche Signatur hinterlassen.

Mein Kopf glühte wie der Hochofen in einer Stahlschmiede. Eine verirrte, von der Schwerkraft motivierte Schweißperle tropfte in mein linkes Augen und löste – zu meinem Leidwesen – eine heftige Reaktion meines Tränenkanals aus.

Völlig konsterniert und heftig mit dem Auge blinzelnd, schnitt ich eine Grimasse, die ein Lächeln andeuten sollte. Ich wäre vor Scham am liebsten im Erdboden verschwunden. Hätte mich, ohne eine Millisekunde des Zögerns, in die Hölle gestürzt, wenn sie sich in diesem Moment vor mir aufgetan hätte.

Was war nur mit mir los? Wo zum Teufel war mein taffes Ich geblieben?

Sie können es mir ruhig glauben. Ich, Tobias Schlierenbeck, skrupelloser Anwalt, Menschenhasser und bekennender Egozentriker, war nur noch ein dümmlich vor sich hin grinsendes Nervenbündel.

Um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen, fasse ich das sich im Anschluss an diese blamable Situation entstandene Gespräch einfach für Sie zusammen.

Es stellte sich heraus, dass dieser Herkules, mit dem sich Charly noch vor ein paar Minuten unterhalten hatte, ihr krankhaft eifersüchtiger Freund gewesen war. Die Betonung lag natürlich auf war. Charly hatte es mit ihm einfach nicht mehr ausgehalten und vor über einem Monat die Beziehung – die eigentlich nie eine richtige gewesen war – beendet.

Doch dieses geistig zurückgebliebene Muskelgebirge verstand dies offensichtlich nicht und verfolgte meine Traumfrau auf Schritt und Tritt.

Bei dieser voller Verzweiflung erzählten Geschichte erwachte der abgebrühte, zu allem entschlossene Anwalt in mir spontan zum Leben. Meine Schweißdrüsen stellten endlich ihre Aktivitäten ein, mein Verstand begann – anfangs etwas zögerlich – wieder in geordneten Bahnen zu denken.

Für solch eine Situation hat der Gesetzgeber – zum Wohle der Anwälte – eine rechtliche Handhabe geschaffen. Früher hatten wir nicht den Hauch einer Chance, aus einer Begebenheit wie dieser Kapital zu schlagen. Doch heute gab es den schönen Begriff Stalking.

Stalking ist das willentliche und wiederholte, beharrliche Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch gefährdet ist.

Ist das nicht eine herrliche Umschreibung für das banale Wort Aufdringlichkeit.

Für die Zunft der Anwälte bedeutete das Wort Stalking, dass wir endlich eine rechtliche Handhabe hatten, unseren Mandanten das Geld aus der Tasche zu ziehen und eine andere Person vor Gericht zu demütigen.

Jaja, ich sehe Ihren mahnenden Zeigefinger. Ich gebe Ihnen ja Recht. Stalking ist ein ernstes Thema. Aber nur manchmal. Meist ist es ein trendiger Begriff, der gerne missbraucht wird und uns Anwälten und den verehrten Richtern viel Arbeit beschert.

Es ist wie das neugeschaffene Gesetz gegen den schon immer vorhandenen Steuerbetrug. Ein wahres Eldorado für uns Anwälte und die veritable Hölle für die betroffenen Mandanten.

Unter uns: Mehr Geld kannst du als Anwalt gar nicht scheffeln. Du verlangst einen Stundensatz von 1.500 Euro, vereinbarst ein zusätzliches Erfolgshonorar im sechsstelligen Bereich, schaltest ein Steuerbüro ein und startest die Selbstanzeige.

Schon kannst du guten Gewissens zum Porsche-Händler deines Vertrauen gehen und dir ein neues Spielzeug zulegen.

Ach, gibt es eine schönere Berufung als die, als Anwalt sein Geld zu verdienen? Ich glaube nicht.

Herrje, wie komme ich jetzt eigentlich auf mein Lieblingsthema Steuerbetrug?

Sie denken noch an die Kekse? Oberste Schublade. Greifen Sie ruhig zu! Ich brauche sie ja doch nicht.

Ich vereinbarte mit Charly, die mit bürgerlichen Namen Charlotta-Mercedes Schattner hieß, in Frankfurt lebte und dort Kunst studierte, dass wir uns am folgenden Tag gegen zwei Uhr in meiner Kanzlei treffen würden.

Ich versprach ihr vollmundig, dass ich ihr Problem – den anhänglichen Herkules – im Handumdrehen aus der Welt schaffen könne und vereinbarte als Gegenleistung ein gemütliches Abendessen bei ihrem Lieblings-Italiener.

Winni hielt sich die ganze Zeit über dezent im Hintergrund und verschwand am Ende des Abends mit Charlys nichtssagender Begleiterin.

Ich fuhr überglücklich nach Hause und konnte den nächsten Tag kaum abwarten. Mein Leben begann sich zu verändern. Ich war durch einen glücklichen Zufall, durch eine Laune des Schicksals meiner Traumfrau begegnet und bis über beide Ohren in sie verliebt.

Mein Leben entwickelte sich zu einer schönen Utopie und ich wollte nie wieder aus ihr erwachen …


Der Hölle so nah

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