Читать книгу Der Hölle so nah - Michael Bardon - Страница 7

Die Traumfrau

Оглавление

In der rauchgeschwängerten Luft der Frankfurter Szenen-Kneipe überlagerten sich unzählige Gerüche. Sie konkurrierten miteinander, verbündeten sich untereinander und erschufen so ein buntes Potpourri von fremdartiger Würze.

Der liebliche Hauch eines Frauenparfüms fusionierte mit dem herben Duft eines männlichen Aftershaves. Das süßliche Aroma der getrockneten Marihuana-Pflanze kämpfte verzweifelt gegen den ordinären Dunst der Tabakstaude. Und, als Krönung, reihten sich die Botenstoffe unzähliger alkoholischer Getränke in diesen Geruchscocktail auch noch ein.

Ich hasste diesen degoutanten Mief. Ich verabscheute ihn zutiefst. Doch das Leben ist bekanntlich kein Ponyhof und manche Dinge kann man sich einfach nicht aussuchen.

Die Notwendigkeit von Sehen-und-gesehen-Werden, beispielsweise.

Wer gesellschaftlich eine Rolle spielen wollte, kam einfach nicht um einen Besuch in den angesagten Szene-Lokalen herum. Außerdem tummelten sich im Dunstkreis der sogenannten In-Kneipen immer viele junge und vor allem attraktive Frauen.

Das gab für mich den Ausschlag, meinen Körper dieser krankmachenden Atmosphäre auszusetzen. Über den ungeheuren Lärmpegel, die krankheitserregenden Keime und zurückgelassenen Bakterien möchte ich an dieser Stelle lieber erst gar nicht nachdenken.

Ich lebte nach dem Motto, dass nur in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohnen kann. Sport, genügend Schlaf sowie eine biologisch einwandfreie, ausgewogene Ernährung waren in meinen Augen die Eckpfeiler für ein gesundes Leben. Natürlich gönnte ich mir hin und wieder auch einen Schluck Alkohol. In Maßen genossen, kann ein 100-Punkte-Wein wie der 2009er Château Pontet Canet oder ein dreißig Jahre alter Glenfiddich-Whisky auch ein Jungbrunnen für Geist und Seele sein.

Ich saß also an meinem Tisch, nippte an einem köstlichen dreißig Jahre alten Whisky und hielt Ausschau nach einer hübschen und willigen Gespielin.

»Oh, Mann, schau dir mal die Brünette da vorne an!«

Ich schaute in die angegebene Richtung, runzelte die Stirn und fragte ratlos: »Welche meinst du?«

»Die, die rechts neben dem blonden Hungerhaken steht. Siehst du die?«

Ich blickte zuerst zu meinem Freund Winni, dann nahm ich die Frau in Augenschein.

»Ja, nicht schlecht. Aber auch nichts Besonderes.«

»Nicht schlecht«, äffte mich Winni mit nasal verstellter Stimme nach.

»Ja, nicht schlecht. Eine von vielen. Schau dich doch um! So eine findest du hier drinnen ein gutes Dutzend Mal.«

»Hast du heute schon in den Spiegel geschaut? Nur so am Rande: Du siehst noch immer so scheiße aus wie gestern, vorgestern oder vorvorgestern.«

Ich hasste das!

Dr. Winfred Alois Burgmann, mein einziger Freund und engster Vertrauter, ließ mich mal wieder wissen, dass ich beileibe kein schöner Mann war. Dank diverser kahler Stellen auf meinem Haupt hatte ich mich dazu entschlossen, meine Haare gänzlich abzurasieren.

Ich trug eine Brille – Kontaktlinsenunverträglichkeit –, und mit meinen 1,74 Metern war ich blöderweise auch kein Hüne. Wenn man es aus allen zur Verfügung stehenden Blickwinkeln betrachtete, konnte man mich am besten mit einer grauen Maus vergleichen. Ich ging in der großen Masse einfach unter. Wer mich sah, vergaß mich wenige Augenblicke später wieder, tilgte mich als unbedeutend aus seinem Kurzzeitgedächtnis.

Winni hingegen war ein Adonis. Er war das Ebenbild eines griechischen Gottes. Ein kleines Lächeln seinerseits trieb beinahe jede Frau an den Rand einer Ekstase. Er war der Zauberer der Verführung, der Magier des One-Night-Stands, der Meister der Wollust. Und darüber hinaus seit über zwanzig Jahren mein bester, weil einziger Freund. Wir hatten gemeinsam studiert, das eine oder andere Abenteuer erlebt und waren nun Partner in unserer eigenen Kanzlei.

Ich hatte das goldene Gehirn, er das hübsche Gesicht. Mir gehörten 65 Prozent, ihm die restlichen 35. Ich arbeitete die Verträge aus, entwarf die Schlachtpläne, schuf die Voraussetzungen für eine Firmenübernahme. Er repräsentierte unsere Kanzlei medienwirksam und zog die Menschen dank seines guten Aussehens sowie seiner Redegewandtheit auf unsere Seite.

»Trotzdem! Die ist mir zu fad. Das ist gemeine, langweilige Hausmannskost. Ich will aber eine Delikatesse. Sie soll was ganz Besonderes sein, so wie ich«, sagte ich und wusste im selben Moment, dass ich Winni gerade eine Steilvorlage für Spott und Hohn gegeben hatte.

»Du meinst bestimmt so eine wie die da«, sagte er und verzog seine Kussmund-Lippen zu einem wissenden Lächeln.

Mein Blick folgte seinem muskulösen Unterarm, den er lässig in Richtung der Eingangstür streckte. Mein Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Dann galoppierte es wieder los, pumpte Adrenalin, Endorphine und Glückshormone durch meine Venen.

Jaja, ich weiß genau, was Sie jetzt denken! Zu meiner Ehrenrettung möchte ich jedoch erwähnen, dass ich noch nie, ich betone: noch nie mit meinem Hermann gedacht habe. Ich bin ein knallharter Realist. Denke mit mathematischer Präzision und verfügte über die Gabe, meine Gefühle jederzeit und an jedem Ort vollständig auszublenden.

Doch dem Zauber dieses Augenblickes konnte ich mich einfach nicht entziehen. Ich erlag ihm wie eine Motte, die mit weit ausgebreiteten Flügeln dem tödlichen Tausend-Watt-Strahler entgegenflog.

Wie soll ich Ihnen nur beschreiben, welch einzigartiges Bild meine Sehnerven in mein Gehirn projizierten? Wie nur kann ich Ihnen – mit meinem ungeübten, poesiebefreiten Wortschatz – die sinnliche, atemberaubende Ausstrahlung meiner Charly veranschaulichen?

Was ich dort in der Tür sah, verschlug mir einfach den Atem, trieb meinen Puls in schwindelerregende Höhe, verjagte jegliche Logik aus meinen umhertollenden Gedanken.

Doch das – so glaube ich jedenfalls – habe ich bereits vor ein paar Sekunden in ähnlicher Form schon einmal erwähnt, oder?

Egal! Ich saß also in diesem bequemen, aus Büffelleder gefertigten Clubsessel und starrte voller Faszination auf die Kehrseite einer Frau. Ihr blondes Haar war seitlich kurz geschoren, während das restliche, gut 15 Zentimeter lange Deckhaar nach allen Seiten wild abstand. Sie trug ein weißes, fast rückenfreies Neckholder-Top, das einen Hauch über dem Ansatz ihrer schwarzen Designer-Jeans endete. Eine kleine Gucci-Handtasche baumelte lässig von ihrer sonnengebräunten Schulter und ihre Füße steckten in bequem aussehenden Leinenschuhen mit einer flachen Sohle.

Nichts Besonderes, mögen Sie jetzt denken. Eine Frau in Jeans, mit Leinenschuhen, Gucci-Handtasche und rückenfreiem Top. So was findest du im Sommer an jeder Straßenecke.

‹Weit gefehlt›, kann ich da nur sagen! Es war das Gesamtbild ihrer Erscheinung, das mich unwiderruflich in ihren Bann zog. Ihre sonnengebräunte Haut, ihre stolze, aufrechte Haltung, ihr schlanker Hals, ihre wohlgeformten Hüften und der schönste Popo, den Sie sich vorstellen können.

Diese Frau war, obwohl ich sie noch nicht von vorn gesehen hatte, das perfekte Ebenbild meiner Träume. Ich wusste intuitiv, dass mich, wenn sie sich umwandte, ein schönes Gesicht, knackige Brüsten und ein flacher Bauch erfreuen würden.

»Winni … Winni!«

»Ja, Kumpel?«

»Das, das, das … ist meine Traumfrau«, stammelte ich entgeistert und fühlte ein wildes Pochen in meinen Lenden.

»Häh? Du hast die Alte ja noch nicht einmal von vorn gesehen. Vielleicht ist sie so hässlich wie die Nacht. Oder hat ´ne fette Warze im Gesicht, schlechte Zähne oder Hängetitten.«

»Hat sie nicht!«

»Woher willst du das wissen? Bist du jetzt auch unter die Hellseher gegangen?«

»Quatsch, Winni. Ich weiß es einfach. Schau sie dir doch an. Hast du schon einmal so eine hübsche Frau gesehen? Ich meine, schau dir doch nur einmal ihre Haut an. So braun, so zart, so einmalig sanft.«

»Und das siehst du alles auf zehn Metern Entfernung. Mann, Tobias, wann hattest du denn deinen letzten Fick? Ist schon ´ne Weile her, oder?«

»Du weißt genau, dass ich die letzten Wochen wie ein Verrückter geschuftet habe. Meinst du, die Arbeit im Büro erledigt sich von allein? Auf dich kann ich ja nicht zählen!«

»He, du hast deinen Job und ich meinen. Komm mir also nicht so! Sex ist keine Sache der Zeit. Du kannst es überall und zur jederzeit treiben. Siehst du die Blonde da drüben? Mit der habe ich es gestern hier im Klo getrieben.«

»Echt jetzt?«

»Wenn ich’s dir sage! Die hat so laut gestöhnt, dass die Typen an der Bar einen Ständer bekommen haben.«

»Herrje, Winni, das ist ja ekelhaft! Denkst du vielleicht auch hin und wieder an den guten Ruf unserer Kanzlei?«

»Na, du bist gut. Ich leihe mir nur für ´ne halbe Stunde die Frau eines anderen Mannes aus. Du hingegen nimmst ihm die Firma, schaufelst sein Grab und ziehst ihm noch das Geld für seine Beerdigung aus der Tasche. Jetzt erzähl mir noch einmal was von Moral und Anstand.«

»Das ist doch nicht miteinander vergleichbar.«

»Ist es wohl.«

»Nein! Du vergleichst Äpfel mit Birnen. Das eine ist mein Job. Unsere Kunden bezahlen dafür viel Geld. Geld, von dem du auch ganz gut leben kannst. Da ist moralisch nichts Verwerfliches dabei.«

»Nichts Verwerfliches? Mann, wir klauen Tausenden von kleinen Arbeitern den Job. Mich belastet das schon. Darum lenke ich mich mit Sex ab. Solltest du auch mal probieren!«

»Mich interessieren diese Untermenschen aber nicht. In unserem«, ich krümmte beide Zeigefinger, »Sozialstaat verhungert niemand. Wer am Ende der Nahrungskette steht, muss eben fressen, was er vorgesetzt bekommt.«

»Manchmal bist du ein richtiges Arschloch. Weißt du das?«

Ich zuckte gelangweilt mit den Schultern. Winnis soziale Ader ging mir gewaltig auf die Nerven. Ich stammte aus einer Arbeiterfamilie. Vater Maurer, Mutter Putzfrau. Mir brauchte niemand etwas zu erzählen. Ich hatte mich nach oben gekämpft. Hatte während des Studiums wie ein Wilder geschuftet und einen Nebenjob nach dem anderen gehabt.

Winni hingegen wurde von seinem Opa ausgehalten. Der alte Tattergreis hatte ein Vermögen mit Immobilien und Grundstückspekulationen verdient, liebte seinen Enkel abgöttisch und gewährte ihm ein großzügiges monatliches Salär.

»Hilf mir bitte! Hol sie an unseren Tisch! Ich muss sie unbedingt kennenlernen«, sagte ich und konnte die Augen nicht von ihr lassen.

»Hast du ´nen Knall. Schau dir den Typen an, bei dem sie steht. Der macht aus mir Hackfleisch«, protestierte Winni, schüttelte energisch den Kopf und presste die Lippen trotzig aufeinander.

»Na, und? Wir sind Rechtsanwälte. Wenn er dir wehtut, verklagen wir ihn.«

»Toll.«

»Es ist wirklich wichtig für mich. Bitte, Winni … geh zu ihr, lass deinen Charme spielen! Lad sie auf ein Gläschen Champus ein!«

Seufzend stemmte sich mein Freund aus dem Büffelleder-Clubsessel, warf einen prüfenden Blick in die spiegelnde Glasplatte des Tisches und schnaufte verächtlich: »Dafür schuldest du mir was.«

»Klar!«

»Das wird nicht billig. Und wenn mich der Typ anrührt …«

»… dann verklag ich ihn. Ich mach ihn fertig, nehme ihm alles, was er hat, und sorge dafür, dass er ins Gefängnis wandert«, versprach ich vollmundig.

In diesem Augenblick geschah es. Meine Charly – damals wusste ich natürlich noch nicht ihren Namen – drehte sich herum, blickte sich suchend um, lächelte kurz und kam in unsere Richtung gelaufen.

Eine Frau am Nachbartisch hob grüßend ihre Hand, winkte meiner Angebeteten mit fuchtelten Finger hektisch zu.

»Setz dich!«

»Was?«

»Du sollst dich wieder hinsetzten.«

Winni, der noch immer fasziniert in sein eigenes Spiegelbild starrte, glotzte mich verständnislos an, ließ sich dann aber bereitwillig in seinen Sessel zurückplumpsen.

Mein Blick haftete an der engelsgleichen Erscheinung, die mit wogenden Hüften auf unseren Nachbartisch zusteuerte. Ihr fein geschnittenes Gesicht, das vollkommen symmetrisch war, verzog sich zu einem atemberaubenden Lächeln.

Keine hässliche Warze! Keine schiefen Zähne! Keine Hängetitten!

Sie war … perfekt! Eine absolute Schönheit, die es nicht nötig hatte, sich über Gebühr aufzubrezeln oder zu schminken. An ihr wirkte einfach alles echt, entspannt und natürlich.

Kennen Sie das? Haben Sie so etwas schon einmal erlebt? Ich rede hier von Liebe auf den ersten Blick. Von der Gewissheit, den Menschen getroffen zu haben, dem man sein Herz für alle Zeit schenken möchte.

Nein, ich meine nicht einfach nur Liebe. Ich spreche hier von der Liebe schlechthin. Von dem Gefühl, in einen Rausch zu verfallen und nie wieder nüchtern werden zu wollen.

So empfand ich in diesem Moment. Ich, Tobias Schlierenbeck, Anwalt und Menschenhasser, war bis über beide Ohren in diese mir unbekannte Frau verliebt. Ich hörte die himmlischen Posaunen eine Fanfare blasen, stellte mir vor, mit dieser Frau, diesem engelsgleichen Geschöpf, wie im Film Titanic ganz vorne an der Reling zu stehen und die atemlose Freiheit, die Macht der Liebe zu spüren.

»Wow, das ist ja echt ´ne Zehn-Punkte-Frau«, keuchte Winni neben mir ergriffen.

Mein Blick wanderte hektisch zwischen ihm und dieser Traumfrau hin und her.

»Wenn du sie anmachst, kastrier ich dich. Ich schwör dir, bei allem was mir heilig ist, das würdest du für den Rest deines Lebens bereuen«, ereiferte ich mich.

»Du würdest mir wegen der da die Freundschaft kündigen?«, fragte Winni ungläubig und verzog sein Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse.

Mein Blick schmiegte sich noch immer an ihre sanften Rundungen. Ich spürte mein wildes, rasendes Herz, spürte das Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und Geborgenheit in mir aufsteigen.

»Ja, Winni! Die kriegst du nicht. Wenn du sie anlangst, waren wir die längste Zeit Freunde. Sie ist ein Juwel, ein Diamant, ein Smaragd. Sie ist alles, wovon ich je zu träumen gewagt habe. Wenn dir unsere Freundschaft etwas wert ist, wirst du die Finger von ihr lassen.«

Winni grinste anzüglich, schaute noch einmal zu meiner Charly hinüber und sagte dann mit aalglatter Stimme: »Klar! Kein Problem. Sie gehört dir. So hübsch ist sie nun auch wieder nicht.«

Dass ich damals auf die zweitgrößte Lüge meines Lebens hereingefallen war, wusste ich natürlich noch nicht. Doch heute, drei Jahre später, kommen mir diese Sätze wie Hohn vor.

Warum?, fragen Sie sich jetzt. Habe ich was verpasst?

Keine Angst, ich werde es Ihnen schon noch erklären. Sie müssen mir nur weiter zuhören.


Der Hölle so nah

Подняться наверх