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1.3 Heuristiken, Automatismen und Bauchgefühl

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Ein auch für den Dialog äußerst spannendes Thema sind die kognitiven Schnellschüsse, also die sehr rasch ablaufenden Bewertungen beispielsweise von Situationen bei unzureichender Information, sowie das sogenannte „Bauchgefühl“. Bei der Vielzahl an Informationen und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass unser Gehirn so arbeitet, wie es arbeitet – mit all den Konstruktionen, die es gemäß seiner Beschaffenheit herstellen muss –, ist es klar, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt der uns zur Verfügung stehenden Informationen nutzen können.

Cialdini (Cialdini 2006, S. 336) berichtet von einem amüsanten Wortwechsel zwischen Frank Zappa und dem US-amerikanischen Showmaster Joe Pyne (der eine Beinprothese trug), welcher berühmt dafür war, seinen Gästen mit provozierenden Bemerkungen zu begegnen:

„Pyne: Ich würde sagen, Sie mit Ihren langen Haaren müssten eigentlich eine Frau sein. Zappa: Ich würde sagen, Sie mit Ihrem Holzbein müssten eigentlich ein Tisch sein.“

Natürlich schließen wir, gerade im Alltagsleben, von einigen wenigen Hinweisreizen auf etwas dahinterstehendes Größeres. Wir werden in diesem Buch sehr viele Beispiele dafür kennenlernen und die zugrunde liegenden Mechanismen samt ihren Risiken besprechen. Sehr oft verlassen wir uns bei unseren Einschätzungen auf unser „Bauchgefühl“ und das ist in vielen Fällen auch sehr gut so. Zum einen sind die Wechselwirkungen zwischen dem sogenannten „Verstand“ und unseren Emotionen massiv, zum anderen gibt es Situationen im Leben, in denen eine „rein rationale“ Entscheidungsfindung schlicht lächerlich wäre – wenn man nicht sowieso davon ausgeht, dass diese in unserem Kulturkreis übliche historisch bedingte Trennung von Gefühl und Verstand mehr als entbehrlich ist.

Bei Gerd Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 13) ist eine nette Anekdote zu lesen – und zwar über einen Ratschlag, den Benjamin Franklin einem Neffen gegeben hatte, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden konnte:

„Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, welche Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –, und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden Seiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein Rest bleibt. […] Dieser Art moralischer Algebra habe ich mich häufig in wichtigen und zweifelhaften Angelegenheiten bedient, und obwohl sie nicht mathematisch exakt sein kann, hat sie sich für mich häufig als außerordentlich nützlich erwiesen. Nebenbei bemerkt, wenn du sie nicht lernst, wirst du dich, fürchte ich, nie verheiraten.

Dein dich liebender Onkel

B. Franklin“

Gerade in der heutigen Zeit, in der so viel Wert auf quantitative Daten gelegt wird, also darauf, auch komplexe und im Grunde nur intuitiv zu erfassende Zusammenhänge in Form von Zahlenmaterial darzustellen, kann es zu kuriosen Erscheinungen kommen, wenn etwas sehr Intuitives beispielsweise in Formeln gepresst wird. Ein nettes Beispiel dafür findet sich selbst bei dem „urtypischen“ wahrnehmend-beobachtenden Naturforscher Konrad Lorenz, der sich bekanntermaßen gegen diese quantifizierenden, statistischen Methoden verwahrt hat.9 Er unternahm den Versuch, den Umstand, dass wir uns emotional vom Verhalten eines Tieres angesprochen fühlen, in einer Wahrscheinlichkeitsformel auszudrücken (Lorenz 1988, S. 291):

„Wenn wir uns vom Verhalten eines Tieres emotional angesprochen fühlen, ist das ein sicherer Indikator dafür, daß wir intuitiv eine Ähnlichkeit zwischen tierischem und menschlichem Verhalten entdeckt haben […] Die Ähnlichkeit ist wissenschaftlich erfaßbar:

bei n Merkmalen beträgt ihre Wahrscheinlichkeit

Wir können es ruhig wagen, gerade auch im Bereich des Zwischenmenschlichen, mehr auf unser Bauchgefühl zu hören und nicht immer nach Belegen zu suchen, die durch ihre ausgefeilte Methodik sehr wissenschaftlich und „objektiv“ aussehen. Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 25) verwendet den Begriff „Bauchgefühl“ synonym mit Intuition und Ahnung,

„um ein Urteil zu bezeichnen,

1. das rasch im Bewusstsein auftaucht,

2. dessen tiefere Gründe uns auch nicht ganz bewusst sind und

3. das stark genug ist, um danach zu handeln.“

Das Bauchgefühl sei demnach nicht nur ein Impuls, sondern habe seine eigene Gesetzmäßigkeit und es bestehe aus zwei Elementen: aus a) einfachen Faustregeln, die sich b) evolvierte Fähigkeiten10 des Gehirns zunutze machen. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Wenn man Sie fragen würde, welche Stadt mehr Einwohner hat – Detroit oder Milwaukee, was würden Sie antworten (ebd., S. 15)? Gerd Gigerenzer hat genau diese Frage sowohl seinen US-amerikanischen als auch seinen deutschen Studenten gestellt, mit dem Ergebnis, dass „praktisch alle [Deutschen] die richtige Antwort: Detroit [gaben]“ im Gegensatz zu nur 40 % der amerikanischen Studenten. Das ist irgendwie paradox, denn die deutschen Studenten wussten viel weniger über die amerikanische Geografie Bescheid als ihre Kollegen jenseits des großen Teiches. Viele Deutsche hatten – im Gegensatz zu den amerikanischen Studenten – noch nie etwas über Milwaukee gehört.

Die Lösung ist schlicht: Die Deutschen verließen sich auf einen Automatismus, den man als Rekognitionsheuristik bezeichnet. „Kennst du den Namen der einen, aber nicht den der anderen Stadt, dann schließe daraus, dass die dir bekannte Stadt die größere ist.“ Dieses Prinzip, diese Faustregel, war von den Amerikanern nicht anwendbar – sie wussten einfach zu viel über beide Städte. Natürlich kann man bei solchen intuitiven Urteilen auch total verkehrt liegen. Aber dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass „ein gewisses Maß an Unwissenheit […] also durchaus von Wert sein [kann]“ (ebd., S. 16).

Menschen benutzen unterschiedliche Heuristiken, das sind einfache wie effiziente Regeln zur Beurteilung und Entscheidungsfindung. Sie passieren im Grunde „aus dem Bauch heraus“, oft sind wir nicht in der Lage zu erklären, warum wir eine Situation oder einen Menschen so und nicht anders einschätzen. Dabei lassen wir uns unbewusst gerne von Einflüssen leiten, die äußerst „irrational“ erscheinen.

Eine weitere, häufig verwendete Heuristik ist die Verfügbarkeitsheuristik. Nach dieser ist der Grad der Zugänglichkeit von Informationen die Grundlage für die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Wird jemand gefragt, wie viele Ausländer in seinem Wohnort leben, und hat diese Person keine ausreichenden Daten zur Verfügung, wird sie sich an einzelne Ausländer zu erinnern versuchen. „Je mehr Personen dieser Kategorie ihm einfallen (und je schneller sie ihm einfallen), desto höher wird er ihre Häufigkeit einschätzen“ (Herkner 1996, S. 202).

Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomik am Massachusetts Institute of Technology in Boston, führte einmal ein amüsantes Experiment durch, das zeigt, welch kuriose Einflussfaktoren unsere Einschätzungen beeinflussen können (Ariely 2008, S. 49). Den Versuchspersonen wurden verschiedene Produkte gezeigt (u. a. ein schnurloser Trackball, eine schnurlose Tastatur mit Maus, ein Designbuch und eine Schachtel mit belgischen Pralinen). Anschließend mussten sie auf einem Blatt Papier, auf dem alle diese Produkte aufgelistet waren, angeben, wie viel sie maximal für diese Produkte zu zahlen bereit waren. Der entscheidende Punkt bestand allerdings darin, dass die Personen vorher ersucht wurden, auf das Blatt Papier die letzten beiden Zahlen ihrer Sozialversicherungsnummer zu schreiben (die amerikanischen Sozialversicherungsnummern enden nicht so wie die österreichischen mit dem Geburtsjahr).

Erstaunlicherweise gaben die Personen mit den höchsten Endziffern im Mittel die höchsten Gebote ab, jene mit den niedrigsten waren im Schnitt auch am wenigsten zu zahlen bereit. „Am Ende stellten wir fest, dass die Gebote […] mit Endziffern im Bereich der oberen 20 Prozent um 216 bis 346 Prozent höher lagen als die Gebote derjenigen, deren Endziffern im Bereich der unteren 20 Prozent lagen“ (ebd., S. 51). Dieser unbewusste Automatismus ist doch sehr erstaunlich und zeigt, wie stark wir von unbemerkten Einflüssen gelenkt werden können.

Bei diesem Beispiel handelt es sich nicht um eine Heuristik, sondern um das schlichte Setzen eines Ankerreizes. Solche Anker, unsere auf Heuristiken basierenden Urteile, all unsere kognitiven Schnellschüsse und Automatismen sind wesentliche Faktoren, die unsere Denkmuster, Verhaltensweisen und Beurteilungen mitbestimmen und denen wir uns in aller Regel kaum bis gar nicht entziehen können. Dies alles sollten wir bedenken, wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben – und natürlich auch, wenn wir es mit uns selbst zu tun haben.

Der Dialog in Beratung und Coaching

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