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1 Psychologie und Dialog

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Wenn Sie Abbildung 1 betrachten, werden Sie – wie über 90 Prozent aller Erwachsenen – ein Liebespaar erkennen.2

Bei genauerem Hinsehen werden Ihnen aber ebenso Delphine auffallen, das Bild vermittelt Doppelbotschaften. Wir haben die Darstellung auch Kindern im Alter von ca. vier bis acht Jahren vorgelegt, mit dem Ergebnis, dass über 80 Prozent tatsächlich zuallererst die Tiere sahen und nicht zwei Liebende. Die Art der Wahrnehmung von Informationen, deren Verarbeitung und schließlich auch die Konstruktion von Normen und Wertmaßstäben ist ein Resultat primär sozialer Interaktionsprozesse. Die Rolle der Sozialisation für unsere (sinnliche) Wahrnehmung und Heranbildung von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen kann kaum überschätzt werden.


Abb. 1: Eine mehrdeutige Botschaft: Delphine oder Liebespaar? (© Sandro Del-Prete)

Wenn wir zunächst einmal vom Einfluss der Sozialisation auf unsere Werte und Normen absehen und einigermaßen banale Wahrnehmungstatsachen betrachten, so stoßen wir gleich auf sehr interessante und bezeichnende Phänomene. In replizierten Experimenten wurde nachgewiesen, dass Kinder aus der sogenannten Unterschicht Geldmünzen anders, nämlich größer, einschätzen als Kinder aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten. Der Grad der Valenz eines Objektes, hier also der Münzen, beeinflusst tatsächlich die subjektive Größenschätzung (Zimbardo 1992, S. 185).

Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe George Herbert Mead3 stellte bereits vor über 100 Jahren in seiner Theorie des symbolisch vermittelten Interaktionismus die Abhängigkeit der Entwicklung des individuellen Denkens von der Gesellschaft, ihren Normen und Werten fest und kam zu dem Schluss, dass der Mensch notwendigerweise eine ethnozentrische Weltauffassung haben müsse. Die Werte der Gesellschaft werden also aufgenommen, adaptiert, ausprobiert und damit aber auch gefestigt. „Der Heranwachsende [adaptiert] letztendlich auch deren [gemeint ist die Bezugsgruppe] Weltanschauung und damit den (vor-)theoretischen Hintergrund und die Vernunftsgrundsätze, mit denen er sich ,die Welt‘ erklärt“ (Stavemann 2007, S. 56). Als Menschen sind wir nahezu ständig auf der Suche nach Erklärungen für die Welt. Wir hätten gerne Antworten auf die Warum-Fragen unseres Lebens: Warum bevorzugt diese Frau einen anderen? Aus welchem Grund bin nicht ich Abteilungsleiter geworden? Warum kommt die Person, mit der ich einen Termin habe, zu spät?

Der Mensch sucht nach kausalen Faktoren für Verhaltensweisen, Ereignisse und Ergebnisse. Der österreichische Gestaltpsychologe Fritz Heider formulierte in den 1960er-Jahren mit der Attributionstheorie eine der bekanntesten psychologischen Theorien im Zusammenhang mit sozialen Kognitionen und Beziehungen. Zur Attributionstheorie gibt es mittlerweile Tausende von Studien, ihre Aussagen gelten empirisch als sehr gut gesichert.

Die Attributionstheorie ist „ein allgemeiner Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der ein sozial Wahrnehmender Informationen nutzt, um kausale Erklärungen zu generieren“ (Gerrig/Zimbardo 2008, S. 637). Heider zufolge stellen wir primär zwei Fragen:

a) Liegen die Ursachen in der Person (internale oder dispositionale Kausalität) oder in der Situation (externale oder situationale Kausalität)?

b) Wer ist für das Ergebnis verantwortlich?

Harold Kelley erweiterte die Attributionstheorie und stellte fest, dass die Menschen vor allem in Situationen der Unsicherheit Kausalattributionen4 vornehmen. Wir kämpfen mit diesen Unsicherheiten, aber haben fast nie ausreichende Informationen zur Erklärung von Ereignissen oder Verhaltensweisen, weswegen wir – nach Kelley – das Kovariationsprinzip anwenden: Der Mensch schreibt zur Erklärung die von ihm beobachteten Verhaltensweisen und Ereignisse einem Kausalfaktor zu, „wenn dieser Faktor immer dann gegeben war, wenn das Verhalten aufgetreten ist, aber nicht gegeben war, wenn das Verhalten nicht aufgetreten ist“ (ebd., S. 638).

Ein Beispiel: Ein Arbeitskollege kommt verspätet in eine wichtige Teambesprechung. Alle waren pünktlich da, nur er nicht. Welche Überlegungen würden Sie anstellen, um herauszufinden, was da los ist?

Nach Kelley sind es vor allem drei Dimensionen, die wir heranziehen, um Verhalten zu erklären:

a) Distinktheit: Ist das Verhalten spezifisch für eine bestimmte Situation – ist er in der Regel pünktlich oder unpünktlich?

b) Konsistenz: Tritt dieses Verhalten wiederholt als Reaktion auf diese Situation auf – ist er in der Vergangenheit pünktlich gekommen?

c) Konsens: Zeigen andere Menschen auch dieses Verhalten in einer vergleichbaren Situation – kommen die anderen normalerweise pünktlich oder unpünktlich?

Welches der beiden Erklärungsmodelle würden Sie eher wählen:

• Er hat gerade erfahren, dass sein Auto gestohlen wurde.

• Er soll sich zusammennehmen und zu einer so wichtigen Besprechung pünktlich kommen.

Im Durchschnitt wählen die meisten Menschen eher die zweite Erklärung, die sich auf eine Disposition bezieht: Die Ursache liegt im Menschen und nicht in der Situation. Da diese Tendenz sehr stark ist, hat der Sozialpsychologe Lee Ross sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnet. Wir neigen dazu, menschliche Faktoren über- und Situationsfaktoren unterzubewerten, mit anderen Worten: Der Mensch ist eher verantwortlich als die Umwelt.

Weitere Beispiele solcher Verzerrungen sind der Self-Serving Bias und die Self-Fulfilling Prophecies. Self-Serving Bias bedeutet: Menschen neigen dazu, die Verantwortung für Misserfolge anderweitig zu suchen, etwa bei anderen Menschen oder der Situation an sich. Das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiungen sagt aus, dass wir unser Verhalten oft so anpassen, dass unsere Erwartungen eben dadurch eintreten.

Ein Beispiel: Wird jemand zu einer „kreativen Besprechung“ eingeladen, wo er für ihn ungewohnt im Kreis sitzen und mit einem Redesymbol hantieren soll, und empfindet diese Person solche Umstände als „irgendwie blöd“, kann es passieren, dass er durch sein Verhalten die Besprechung aktiv in eine Richtung lenkt, die seine ablehnenden Vorerwartungen voll bestätigt.

Warum sind psychologische Theorien wie die Attributionstheorie und ihre Verfeinerungen, beispielsweise das Kovariationsprinzip, als Modell für den Dialog wichtig? Sie sind es vor allem deshalb, weil wir sehr anfällig sind für Verzerrungen in unserer Wahrnehmung und unserem Denken, die uns aber zumeist eben nicht bewusst sind! Darin liegen gewisse Gefahren und der Dialog gibt uns viele Möglichkeiten, durch das gemeinsame Denken und die dadurch angeregte Innenschau diese Biasquellen5 zielgerichtet zu reflektieren und sie bis zu einem gewissen Maß zu überwinden. Prinzipien wie das „Inder-Schwebe-Halten von Annahmen“ (siehe S. 151) oder die „Leiter der Schlussfolgerungen“ (siehe S. 58) sind dabei hilfreich.

Der Dialog in Beratung und Coaching

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