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Genese und Varianten christlicher Stiftungen

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In der Forschung ist wiederholt erörtert worden, ob das sasanidische das islamische Stiftungswesen beeinflusst hat,192 aber nur wenig hat man bisher darüber nachgedacht, ob die zoroastrischen Stiftungen für die Seele auch Vorbilder der christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ oder für die Stiftungen im Judentum gewesen sein könnten.193 Dabei hat es kulturelle Kontakte zwischen Persern und Juden beziehungsweise Griechen mindestens seit den Zeiten Kyros’ des Großen und besonders der Sasaniden gegeben. Eher auszuschließen ist lediglich das umgekehrte Verhältnis von christlichen Vorbildern für die sasanidische Praxis, da die Kirche kaum Stiftungen entgegennehmen konnte, bevor Kaiser Konstantin der Große die christlichen Gemeinden anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt (311/313) und ihnen Vermögens- und Erbfähigkeit zugebilligt hatte (321).194

Während die Analogien zwischen zoroastrischen und christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ bisher nicht erörtert wurden, hat Jan Assmann, ohne auf Stiftungen selbst einzugehen, eine besondere Verwandtschaft zwischen der altägyptischen Religion und der Lehre des Christentums konstatiert:195 Beide verbinden eine Sehnsucht nach Erlösung vom Joch der Vergänglichkeit und die Idee vom Jenseits als Ort der Gerechtigkeit. Unsterblichkeit des Individuums stehe wie in Ägypten im Zentrum der christlichen Botschaft. Die rituelle Vergegenwärtigung von Tod und Auferstehung Jesu in den Sakramenten hat die Ägypter schon in der Spätantike besonders ansprechen müssen. Mit seinem Sterben am Kreuz und Abstieg in das Reich des Todes habe Christus die Schrecken der Todeswelt überwunden und das Tor zum Elysium geöffnet. Jedem Getauften sei Anteil an dieser Unsterblichkeit verheißen. Am Ende der Zeiten würden die Toten auferstehen und gerichtet werden. Den Guten sei die ewige Seligkeit zugesagt, die Bösen dagegen erwarteten ewige Höllenstrafen. In der späteren Geschichte des christlichen Abendlandes sei die Idee des Fegefeuers mit der individualisierten Gerichtsvorstellung hinzugekommen. Jeder werde gleich nach dem Tod gerichtet, um gegebenenfalls die Zeit bis zur Auferstehung für die Abbüßung der Sünden im Fegefeuer nutzen zu können. Wer aber freigesprochen werde, ginge gleich nach dem Tod in die ewige Seligkeit des Paradieses ein.

Was die ägyptische und die christliche Religion verband, habe indessen beide scharf von der alttestamentlichen Lehre abgesetzt, denn Israel sei die Idee der persönlichen Unsterblichkeit fremd gewesen. Die Gerechtigkeit Gottes habe sich nicht im Jenseits, sondern im Diesseits erfüllt und sei nicht dem Einzelnen, sondern dem Gottesvolk im Ganzen verheißen. In seinen Nachkommen habe der Mensch weitergelebt. Mit Mesopotamien und den Griechen habe das Alte Israel eine Todeswelt gekannt, die nichts mit dem Elysium des ägyptischen Totenglaubens oder dem Paradies der Christen gemeinsam hatte; Sche’ol oder Hades haben den Verstorbenen nur eine schattenhafte Existenz ermöglicht. Zu Jesu Zeiten glaubten allerdings die Pharisäer bereits allgemein an die persönliche Unsterblichkeit, während die Sadduzäer den Gedanken weiterhin ablehnten.

Ob es zutrifft, dass dem antiken Judentum mit dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit der an die Existenz der Seele wirklich unbekannt gewesen sei, ist in der alttestamentlichen Wissenschaft zwar umstritten,196 die Ausrichtung auf das jenseitige Seelenheil hat aber schon im frühesten Christentum eine viel größere Rolle als im alten Judentum gespielt. Das ist natürlich für die Frage nach dem Aufkommen von ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ relevant. Allerdings hat sich die Idee des Seelenheils auch bei den Christen nur allmählich entfaltet. Jesus selbst widmete sich kaum der Auferstehungsfrage, da er die Ankunft des Gottesreiches in nächster Zeit erwartete.197 Auch Paulus lebte in der Zuversicht baldiger Auferstehung.198 Im Gegensatz zur (heidnischen) griechischen Überlieferung betonte der Apostel aber den für das Christentum fundamentalen Glauben an die Auferstehung der Seele mit ihrem Leib.199

Als den ersten Christen klar wurde, dass sich die Verheißung der Endzeit nicht sogleich erfüllte, mussten sie über den Verbleib der Verstorbenen nachdenken. Dabei knüpften sie zunächst an jüdische Hades-Vorstellungen an und sahen die Entschlafenen im Wartezustand bis zum Gericht am Jüngsten Tag. Dann werde sich der Leib aus seinem Grab erheben und die Seele aus dem Hades auferweckt. Die Märtyrer glaubte man allerdings schon unmittelbar nach dem Tod in den Himmel aufgenommen, wo sie bis zum Jüngsten Gericht ebenfalls eine Art Zwischenzustand auf sich nehmen mussten; der Apokalyptiker Johannes, der ungefähr eine Generation nach Paulus schrieb, erblickte sie am Fuße des himmlischen Altares.200 Allmählich entwickelte sich die Vorstellung, dass unter den Seelen im Hades schon vor dem endgültigen Gericht eine Scheidung in Gerechte und Sünder getroffen werde; einen Anknüpfungspunkt bot dafür die Lazarus-Parabel Jesu: „Es begab sich aber, dass der Arme [Lazarus] starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben. Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide große Qualen in dieser Flamme“ (LK 16, 22–35).201 Der Schoß Abrahams wurde zum vorläufigen Ort der Gerechten bis zum Endgericht, während die Reichen (oder Bösen) in den Flammen für ihre Sünden büßen müssen. Der für sie unerreichbare Platz der Erquickung, wo sie ihre Zunge zu kühlen (refrigerare) hofften, wurde zum refrigerium. Der Kirchenschriftsteller Tertullian sprach deshalb um 200 u. Z. vom interim refrigerium („Ort der zwischenzeitlichen Erquickung“) und stellte dieses dem interim tormentum („Ort der zwischenzeitlichen Qualen“) gegenüber, das allerdings noch nicht das Höllenfeuer war.202 Schon die ältesten Totengebete der römischen Liturgie haben auch vorausgesetzt, dass die Heiligen, die Engel oder Christus selbst den Verstorbenen zu Hilfe kommen und die Seelen in den Schoß Abrahams geleiten können, damit diese dort mit Lazarus ihre vorläufige Ruhe finden.

Christliche Jenseitsvorstellungen als religiöser Horizont der ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ lassen sich nur mit Mühe ordnen. Zu Recht hat man diesbezüglich im Hinblick auf das lateinische Mittelalter davon gesprochen, eigentümlich sei ihr Reichtum mit ihrer Präzision im Detail bei mangelnder Folgerichtigkeit im System.203 Die Gründe dafür lagen schon in der christlichen Bibel selbst. Die Evangelisten Matthäus und Johannes zeichnen etwa ein ganz unterschiedliches Bild vom Weltgericht am Ende aller Zeiten. Nach Matthäus müssen sich alle Menschen vor dem Gericht verantworten. Wenn der Menschensohn komme in Begleitung aller Engel, werde er, auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzend, alle Völker wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheiden. Die Schafe werde er zu seiner Rechten stellen, die Böcke zu seiner Linken. Die auf seiner Rechten werde er auffordern, als Gesegnete seines Vaters das Reich in Besitz zu nehmen, das ihnen schon seit Anfang der Welt bereitet sei. Die links von ihm stehen, werden hingegen als Verfluchte in das ewige Feuer geschickt (Mt 25, 31–46). Nach dieser Eschatologie gab es nur Gute und Böse, die im Weltgericht zum Himmel oder zur ewigen Hölle verurteilt werden. Für den Evangelisten Johannes konnten hingegen die Guten dem Weltgericht entgehen: „Wahrlich, wahrlich, sage ich euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen (…). Wundert euch darüber nicht. Es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme [die Stimme des Sohnes Gottes] hören werden, und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh 5, 24 und 28f.).204 Diese Botschaft wird so gedeutet, dass es neben den ohne Gericht in den Himmel gelangenden Guten noch Halbgute gebe, die sich zusammen mit den Schlechten dem höchsten Richter stellen müssten und so eine zweite Chance auf die Seligkeit erhielten. Die Unterscheidung weiter entfaltet hat der heilige Augustinus (gest. 430); der Kirchenvater aus Afrika stellte sich vor, dass die „sehr Guten“ und die „sehr Bösen“ sofort nach ihrem Tod in den Himmel oder in die Hölle eingingen und Gericht nur über die „nicht sehr Guten“ und „nicht sehr Schlechten“ gehalten werde.205 Nach einer anderen christlichen Überlieferung soll Jesus selbst in die Hölle hinabgestiegen sein, die Tore geöffnet und Vorväter des Alten Testaments befreit und ins Paradies geführt haben. Das hier angesprochene Totenreich ähnelt eher der Unterwelt im antiken Sinn; nach Mt 12, 40 sei Jesus ins Innere der Erde vorgestoßen und dort drei Tage und drei Nächte geblieben, so lange wie Jonas im Bauch des Meerungetüms.206

Christlicher Norm gemäß konnte der Gläubige auf zweierlei Weise zum Seelenheil gelangen: durch die Barmherzigkeit Gottes oder durch eigene Leistung. Jesus selbst hat gelehrt, dass der Mensch bei Gott kein Verdienst erwerben kann; er stellte Gott eher als Vater denn als Richter vor, der seinen verloren geglaubten Sohn ohne Vorwurf und sogar in Liebe wieder aufnimmt und Schuld ohne Gegengabe erlässt.207 Allerdings hat Jesus das uralte, allgemeinreligiöse Vergeltungsprinzip nicht ganz aufgegeben; seine Jünger lehrte er zu beten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6, 12).208 Die Vorstellung vom vergeltenden Ausgleich drang bald wieder in den Vordergrund und bestimmte auch das christliche Denken über Himmel und Hölle.209 Gott wurde geradezu zum Schuldner gemacht, der menschliche Leistungen zu begleichen habe. Entsprechendes galt für den Sünder. Der im Mittelalter hoch angesehene Papst Gregor der Große (gest. 604) verkündete in seiner Auslegung des Buches Hiob, die Sünde könne für den Sünder nicht ohne Vergeltung bleiben.210 Widersprüchlich hatte sich der Apostel Paulus vernehmen lassen. Einerseits verkündete er die Rechtfertigung allein aus dem Glauben (Röm 3, 28), andererseits betonte er die Vergeltung je nach den Taten des Menschen: „Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun (…)“ (Röm 2, 5–8).211 Paulus erwartete die Wiederkunft des Menschensohnes in Begleitung der Engel; dann aber müssten sich alle vor Christi Richterstuhl offenbaren und einem jeden werde Gutes oder Böses zuteil, je nach seinem Handeln im Leben (2. Kor 5, 10).

Als Leistungen zur Buße der eigenen Sünden, die der Seele im Gericht Gottes zur Hilfe kommen konnten, galten zuerst das Martyrium und dann der asketische Verzicht. Der Kirchenschriftsteller Johannes Cassianus (gest. 432/435) stellte bereits einen Katalog der Werke zur Tilgung der eigenen Vergehen auf. An erster Stelle stand demnach die Liebe, es folgten das Almosengeben, das Tränenvergießen, das Sündenbekenntnis, die Züchtigung von Herz und Leib, das Verdienst der Barmherzigkeit und des Glaubens, die Bekehrung anderer sowie Verzeihung und Vergebung.212 In Variation stößt man auf diese Sühneleistungen im christlichen Schrifttum des Mittelalters immer wieder, ihren Kern bildet die schon biblische und patristische Trias von Gebet, Fasten und Almosengeben. Da ihre Lebensumstände Laien an zeitaufwendigen Gebeten hinderten, sahen sie sich vor allem auf die beiden anderen Bußleistungen verwiesen. Im Alten wie im Neuen Testament waren Spendern von Almosen die Sündenvergebung und das Himmelreich verheißen.213 Allerdings konnte Almosen nur aufbringen, wer seinen Lebensunterhalt gesichert wusste. Für die große Mehrzahl der Gläubigen kam deshalb nur das Fasten als Bußleistung in Betracht.

Für das christliche Stiftungswesen bedeutsam wurde der Gedanke, das Seelenheil anderer Menschen mit Gebeten und guten Werken fördern zu können; diese Lehre entwickelte sich schon in der Frühzeit der Gemeinden. Grundlegend war dafür der Märtyrerkult und hier insbesondere die alttestamentliche Geschichte des jüdischen Aufstandes unter Judas Makkabaeus gegen den Seleukidenkönig Antiochos IV. (168/165 v. u. Z.). Judas habe für das Seelenheil der Gefallenen gesorgt, berichtet das 2. Makkabäerbuch.214 Neben Gebet und Almosen wurde die Messfeier als Opfer für die Läuterung der Verstorbenen aufgefasst.215 Der Kirchenvater Augustin unterschied die Funktion der guten Gaben differenziert nach der Qualität der Verstorbenen. Die Opfer des Altares und das Almosen wirkten sich unter den Verstorbenen für die sehr Guten (valde boni) als Danksagung aus, den nicht ganz Schlechten (non valde mali) kämen sie als Sühne zugute; bei den ganz schlechten Toten (valde mali) taugten sie zwar nicht als Hilfe, wohl aber als Trost für die Lebenden. Denen aber, welchen sie nutzten, brächten sie volle Verzeihung oder mindestens eine leichtere Art der Verdammung.216 Wegweisend wurde Gregors Lehre vom Reinigungsfeuer nach dem Tode, zumal der Papst dies in einer anschaulichen Erzählung zu präsentieren verstand; danach waren sowohl die Werke der Verstorbenen selbst als auch die Gebetshilfe der Nachlebenden nützlich. Gregor berichtet von einem Diakon, der wegen unbewusster, also weniger gravierender Sünden im Läuterungsfeuer zu büßen hatte, von dort aber erlöst worden war, weil er früher Almosen gespendet hatte.217 Zusätzlich habe ihm aber das Gebet eines heiligen Mannes geholfen. Besonders wirkungsvoll seien Messopfer, die die Hinterbliebenen für ihn darbrachten. Einmal, so erzählt der Papst weiter, sei eine Seele schon nach acht Tagen, während derer man Gebete verrichtet und Messen gefeiert habe, aus den Qualen des Läuterungsfeuers freigekommen. In einem anderen Fall seien dazu Messopfer an dreißig aufeinanderfolgenden Tagen nötig gewesen, ein dritter betraf eine Witwe, die ein ganzes Jahr hindurch Tag für Tag Gaben für die Eucharistie aufgebracht hatte.

Ebenso nachhaltig wie Gregor der Große wirkte der northumbrische Gelehrte und Geschichtsschreiber Beda Venerabilis (gest. 735) auf die lateineuropäischen Vorstellungen vom Jenseits und von den menschlichen Interventionsmöglichkeiten ein. Beda erzählt die Geschichte von Dryhthelm, eines frommen Familienvaters aus der Gegend von Cunningham, der an einer schweren Krankheit gestorben war.218 Dryhthelm sei aber ins Leben zurückgekehrt und habe zunächst sein Erbe aufgeteilt; ein Drittel habe seine Ehefrau erhalten, ein zweites Drittel sei an seine Söhne gegangen, das dritte habe er „für sich selbst“ reserviert, und zwar, indem es unmittelbar (zu seinem Seelenheil) unter die Armen verteilt wurde. Kurz darauf sei er ins Kloster Melrose eingetreten, wo er das Leben eines Einsiedlers führte. Hier erzählte er ausführlich von seinen Erlebnissen im Jenseits, vor allem von der Pein der Seelen im Läuterungsfeuer und dem Aufenthalt der fast schon Erlösten in einem paradiesartigen Vorhimmel. Sein Führer habe ihm erklärt: „Jenes schreckliche Tal, das du in lodernden Flammen und starrender Kälte gesehen hast, das ist der Ort, an dem die zu prüfenden und zu reinigenden Seelen derer sind, die zögerten, die Verbrechen, die sie begingen, zu bekennen und wiedergutzumachen, schließlich in der Bedrängnis des Todes zur Reue Zuflucht nahmen und so den Körper verließen; sie kommen dennoch alle am Jüngsten Tage in das Reich des Himmels, weil sie noch im Tode Bekenntnis und Reue übten. Aber die Gebete und Almosen und Fasten und vor allem die Messfeiern der Lebenden helfen vielen, auch vor dem Jüngsten Tage befreit zu werden. Jener flammende und widerliche Schlund aber, den du gesehen hast, das ist der Eingang zur Hölle, wer einmal hineingeht, wird niemals mehr daraus befreit werden. Dieser blühende Ort aber, an dem du jene Jugend sich vergnügen und strahlen siehst, das ist derjenige, in den die Seelen derer aufgenommen werden, die eben in guten Werken den Körper verlassen; sie sind aber noch nicht von solcher Vollendung, dass sie verdienen, sofort in das Reich des Himmels geführt zu werden; sie werden aber am Jüngsten Tag alle zum Anblick Christi und zu den Freuden des himmlischen Reiches eingehen. Diejenigen aber, die in jedem Wort und Werk und Denken vollkommen sind, kommen gleich nach dem Verlassen des Körpers in das himmlische Reich; zu dessen Nachbarschaft gehört jene Gegend, in der du den Klang lieblichen Gesanges, begleitet von süßem Duft und strahlendem Licht, gehört hast. Du aber, da du jetzt in den Körper zurückkehren und wieder unter den Menschen leben musst, sollst, wenn du dich bemühst, deine Handlungen sorgfältiger zu prüfen und dein Benehmen und deine Worte in Rechtschaffenheit und Einfachheit zu bewahren, nach dem Tode auch eine Bleibe unter jenen fröhlichen Scharen der seligen Geister erhalten, die du siehst (…).“

Schon in der Frühzeit ihrer Geschichte gelang es der Kirche, sich selbst zum Adressaten frommer Gaben für das Seelenheil zu machen. Dazu kam, dass sich die Gemeinden der Christen von jeher zur Caritas verpflichtet fühlten und eine geordnete Liebestätigkeit entwickelten, die der Alten Welt in dieser Weise unbekannt gewesen war.219 Dabei sollte jedem Notleidenden ohne Ansehen der Person Barmherzigkeit erwiesen werden. In der Gemeindearmenpflege, die sich mit der privaten Armensorge durchdrang, waren ursprünglich keine eigenen Institutionen nötig gewesen. Die Übungen der Barmherzigkeit lagen in den Händen der Priester, dann der Bischöfe, denen Diakone zur Seite standen.220 Die vorhandenen Mittel wurden für die Linderung aktueller Not aufgewandt, also noch nicht für künftige Zeiten gesammelt.221 Die Gläubigen gaben monatlich freiwillig einen Betrag in die Gemeindekasse, der sich nach ihrem Vermögen richten sollte.222 Nach Tertullian legte jeder monatlich freiwillig einen mäßigen Betrag ein: „Das ist gleichsam ein Depositum der Frömmigkeit. Denn verwendet wird es nicht zu Gastmählern und Saufgelagen, sondern um Arme zu ernähren und zu begraben, Knaben und Mädchen, die kein Vermögen und keine Eltern haben, zu erziehen, für alte Leute, für Schiffbrüchige und solche, die in den Bergwerken, in der Verbannung oder im Gefängnis sind.“223 Ganz ähnlich äußerte sich Justin der Märtyrer (gest. ca. 165).224

Wichtiger als die monatlichen und bald sogar wöchentlichen Abgaben für die Gemeindekasse zum Zweck der Caritas wurden die mit der Feier der Eucharistie verbundenen Naturalabgaben, die sogenannten Oblationen.225 Mit ihnen trat der Charakter der Gabe als Opfer hervor. Die Naturalien, die die Gläubigen in der Abendmahlsfeier der Messe zum Altar brachten, wurden zunächst für das Messopfer selbst verwendet, während das Übriggebliebene der Gemeindearmenpflege zugeführt wurde. Im Dankgebet wurde zugleich derer gedacht, die die Oblationen dargebracht hatten. Bald wurden dann auch die Verstorbenen in das Messopfer eingeschlossen.226 Der Kirchenvater Cyprian von Karthago (3. Jh.) hatte bereits formuliert: „Wir gedenken einer des anderen und auch in Rücksicht auf die Heimgegangenen währt unsere Liebe in dem Herrn fort.“227 Mit dem Einschluss der Toten änderte sich die Auffassung der Oblationen; waren diese vorher Dankopfer der Gemeindemitglieder gewesen, so wurden sie nun zu Bittopfern, und zwar für die Lebenden, besonders aber für die Toten. Schon bei Tertullian hieß es, der Mann opfere für seine verstorbene Frau an dem Jahrtag ihres Heimgangs, um ihr die ewige Erquickung zuzuwenden und zur Teilnahme an der ersten Auferstehung zu verhelfen.228

Der Übergang von der „einfältigen Liebe“ der ersten Christen, der Barmherzigkeit um der Armen willen, zur Almosenspende, um die eigene Sündenschuld zu tilgen, wird in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich beurteilt; dabei schlagen religiöse Vorstellungen der Autoren durch. Für Gerhard Uhlhorn (1826–1901), der protestantischer Abt in Loccum war (seit 1878), setzte bei Cyprian und seiner Schrift ‚Über die guten Werke und Almosen‘ die Verkümmerung der Gemeindearmenpflege ein, eine Entwicklung, die erst die Reformation revidiert habe. Zwar erkennt Uhlhorn an, dass es auch nach Cyprian noch Liebestätigkeit bei den Christen gegeben habe, aber er hält sie im Mittelalter für unlauter.229 Demgegenüber wies der Kirchenrechtler Eberhard F. Bruck (1956) darauf hin, dass der Gedanke der sühnenden Kraft des Almosens in den Evangelien und in den Worten Jesu selbst zum Ausdruck gebracht wurde.230

Für das Stiftungswesen von besonderem Belang war das Erbrecht. Bei griechischen Kirchenvätern findet sich die Lehre vom ‚Seelteil‘ (psychikon), die später von den lateinischen Vätern Augustinus und Hieronymus übernommen wurde.231 Mitte des 4. Jahrhunderts wies der kappadozische Mönchsvater Basilius der Große das Argument reicher Eltern, die Bewahrung ihres Besitzes sei ihrer Kinder wegen notwendig, mit der Frage zurück: „Ist dir deine Seele nicht näher als jedes deiner Kinder? Ist sie dir nicht näher als alles?“232 Basilius und die anderen Väter, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa sowie Johannes Chrysostomus, empfahlen einen Anteil des Erbgutes als „Quote für die Seele“, „Quote für Christus“ oder eine „Quote für die Armen“,233 die unterschiedlich bemessen waren. Gregor, Bischof von Nyssa (seit ca. 371), forderte in erster Linie die Teilung der Erbschaft zu gleichen Teilen, da alle, auch die Armen, Brüder einer Familie seien. Von seiner Predigt ‚De pauperum amore‘ (nach 368) sind die Worte überliefert: „Nicht alles ist für euch, sondern ein Teil auch für die Armen, die Lieblinge Gottes. Denn alles gehört Gott, dem gemeinsamen Vater. Wir aber sind Brüder einer Familie. Für Brüder aber ist es am besten und das Gerechteste, sich zu gleichen Teilen in die Erbschaft zu teilen. In zweiter Linie sollen, wenn einer oder der andere (Bruder) sich den größeren Teil zugeeignet hat, die Übrigen (d.h. die Armen) wenigstens den (restlichen) Teil bekommen. Will ein (Bruder) aber geradezu des Ganzen sich bemächtigen und selbst vom dritten oder fünften Teil seine Brüder (d.h. die Armen) verdrängen, so ist ein solcher (…) ein unersättliches Tier, das gierig allein den Fraß verschlingt, oder vielmehr wilder als die wilden Tiere; denn ein Wolf lässt den anderen am Fraß teilnehmen.“234

Bei Gregor klingt schon die Idee einer Sohnesquote für die Seele oder die Armen an. Diesen Gedanken griff der heilige Hieronymus auf. Im Jahr 406 oder 407 beantwortete er aus Bethlehem die Anfrage einer Aristokratin namens Hedibia, wie eine kinderlose Witwe christlich vollkommen leben könne. Er empfahl, allen Besitz der Kirche zu geben, räumte allerdings einer Witwe mit Kindern Versorgungspflichten gegenüber den Nachkommen ein: „Wenn aber eine Witwe Kinder hat, und besonders, wenn sie aus vornehmer Familie ist, möge sie ihre Söhne nicht in Dürftigkeit zurücklassen, sondern gleichmäßig möge sie sie lieben, und sie möge hierbei zuerst ihre eigene Seele bedenken, und sie möge diese selbst (ihre Seele) als einen ihrer Söhne ansehen, und sie möchte lieber mit ihren Kindern teilen, als alles ihren Söhnen zu hinterlassen; vielmehr möge sie Christus zum Miterben ihrer Kinder machen.“235 Von Hieronymus scheint Augustin die Idee der Sohnesquote übernommen zu haben. In Sermo 86 mahnte er: „Schaffe einen Platz für Christus mit deinen Söhnen; zu deiner Familie soll dein Herr hinzutreten, dein Schöpfer soll zu deiner Nachkommenschaft hinzutreten; es soll hinzutreten zur Zahl deiner Söhne dein Bruder (…) und da er der einzige Sohn des [himmlischen] Vaters ist, hat er gewollt, sie [deine Söhne] zu Miterben zu haben (…). Du hast zwei Söhne, rechne ihn als dritten hinzu: Du hast drei Söhne, er soll als vierter hinzugerechnet werden: Du hast einen fünften Sohn, er werde als der sechste genannt: du hast zehn Söhne, er sei der elfte. Ich will nicht mehr sagen: erhalte den Platz eines deiner Söhne deinem Herrn (…). Du wirst aber einen Anteil geben, den du als den eines Sohnes bestimmt hast, halte dafür, dass du einen mehr gezeugt hast.“236

Neben dem Sohneskopfteil im Sinne Augustins kommt im westlichen Frühmittelalter auch eine feste Vermögensquote vor, die beispielsweise ein Drittel oder ein Fünftel des Hausgutes als Freiteil für den Hausvater vorsieht. Diese Regelung benachteiligte die Erben im Allgemeinen stärker als die Lösung Augustins. Noch extremer war die aus Kreisen des Mönchtums erhobene Forderung, allen Besitz der Kirche zur Erlangung des Seelenheils zu hinterlassen. So hat beispielsweise Salvian, der sich auf die Klosterinsel Lérins bei Marseille zurückgezogen hatte, um 435/439 geschrieben, Gott wolle, dass man ihm alles zum Opfer bringe, doch wenigstens in der Todesstunde solle man sein Vermögen als „gutes Reisegeld“ für die andere Welt einsetzen.237 Salvian hielt diejenigen, die ihren Kindern etwas hinterlassen wollten, für sündhaft; wer so handle, arbeite aber zugleich gegen sein eigenes Interesse, die Wohlfahrt im Himmel.

Bei den Gaben an die Kirche, sei es zur Förderung von Gottesdienst, Gebet und Messe, sei es zur Unterstützung der Bedürftigen und Armen, müssen Schenkungen in einem Akt von Stiftungen unterschieden werden, die auf Dauer Erträge aus bereitgestelltem Stiftungsgut erbringen sollten.238 Die frommen Werke wurden hier auch postmortal durch die ‚Stiftungsorgane‘ im Namen und in Stellvertretung des Stifters ausgeübt und konnten auf lange Sicht oder auf Dauer seinem Seelenheil dienen. Schenkungen an die Kirche waren aber auch grundsätzlich dauerhafte Gaben und ohne ausdrückliche Anweisung stiftungsähnlich, da sie der Kirche nicht entfremdet werden durften.239 Im Mittelalter sind unzählbare Seelenheilgaben an Kirchen oder Klöster urkundlich notifiziert worden. Die donationes pro anima sollten, wie betont wurde, die venia peccatis oder venia delictis, die Verzeihung für Sünden und Missetaten, erwirken.240 Sehr häufig wird das Motiv in die Formel pro remedio animae, „für das Heil der Seele“, pro redemptione animae, „für den Rückkauf der Seele“, oder Ähnliches gefasst. Ziel der Schenkungen und Stiftungen war die aeterna beatitudo,241 die aeterna retributio, die ewige Seligkeit und Rückerstattung.242 Man stellte sich durchaus vor, dass die Schenkung ein Geschäft auf Gegenseitigkeit begründete; für die gute Gabe erwartete der Geber die Gnade Gottes beim Gericht. Ganz in der Art des Wirtschaftsverkehrs sprechen die Urkunden von der merces boni operis, dem Lohn für das gute Werk, der merces animae meae, dem Lohn für die eigene Seele.243 Der eigentliche Geschäftspartner waren deshalb nicht das begünstigte Kloster oder die Kirche, sondern Gott als Richter und Herr des ewigen Lebens. Oft wird zur Begründung aus der Bergpredigt zitiert: Date et dabitur vobis; darin kommt die Zuversicht zum Ausdruck, dass Gott die fromme Gabe nicht vergessen werde.244 Auch wenn die entsprechenden Motivenberichte stereotyp wirkten und waren, blieb das Seelenheilsmotiv stets präsent, so dass die geistlichen Urkundenschreiber auch immer neue Wendungen erfanden. In einer St. Galler Urkunde von 852 formuliert beispielsweise der Mönch Iso, vielleicht auch ein Historiograph des Klosters, für den Tradenten Wolfhugi: „Nachdem das menschliche Geschlecht durch die Schandflecken der Sünde verwundet und wegen der Schuld des Ungehorsams von den Freuden des Paradieses ausgeschlossen ist, hat Gott unter anderen Heilmitteln der Welt auch jene Arznei gegeben, dass die Menschen mit ihren eigenen Schätzen ihre Seelen von der Unterwelt der Hölle zurückkaufen können, so wie er durch Salomon sagt: Der Rückkauf der Seele ist der Reichtum des Menschen. Daher hat die göttliche Gnade auch durch sich selbst gemahnt, indem sie im Evangelium sagt: ‚Gebt und es wird euch gegeben werden‘, und wiederum ‚Gebt Almosen und alles ist euch rein.‘“245

Die caritas, die das christliche Stiftungswesen von Anfang an ebenso geprägt hat wie das Motiv des Seelenheils, stand in der Tradition der ägyptischen Wohltätigkeit und damit des revolutionären Umbruchs der Achsenzeit; zugleich löste sie den griechisch-römischen Euergetismus ab. Eingeschlossen waren dabei die Freilassungen von Sklaven, die ebenso wie die materiellen Wohltaten zugunsten der Kirche beziehungsweise der Armen nach dem Willen Konstantins des Großen religiosa mente („aus frommer Gesinnung“) erfolgen sollten.246 Frühe Zeugnisse für den Wandel bieten Rechtstexte des 6. Jahrhunderts; so haben eine Kirchenversammlung im westgotischen Reich Spaniens (506) ebenso wie eine Synode im Reich der Merowinger (551) Schenkungen an die Kirche „zum Heil“ beziehungsweise „zum Rückkauf der Seele“ geregelt,247 während bereits die ältesten Formularsammlungen zur Herstellung von Urkunden sowie die fränkische Lex Ribuaria die Freilassung zum Nutzen des Seelenheils vorsahen.248 Bei den Stiftungen an der Schwelle zum Mittelalter wirkten allerdings die Motive der vorchristlichen Zeit noch nach; dafür steht etwa die Reihe der römisch-rechtlichen Testamente, die 739 u. Z. ausläuft.249 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stammt von dem Bischof Berthram von Le Mans und datiert vom 27. März 616.250 Obwohl sich Berthram für seine letztwillige Verfügung auf die Furcht vor der fragilitas humana („menschlichen Hinfälligkeit“) beruft und damit ein vorchristliches Motiv verwendet, ruft er bei seinen konkreten Verfügungen immer wieder die Formeln pro remedio oder pro mercede animae meae auf. Abgesehen von Legaten für seine Verwandten, setzt er seine Bischofskirche, besonders aber eine von ihm errichtete Peters- und Paulsbasilika zu Erben ein, an denen Kleriker, Kanoniker, Arme und Freigelassene, die alle von seinem Vermögen profitieren, auf Dauer seine memoria, die commemoratio nominis Berthrams, also sein Gebetsgedächtnis, pflegen sollten.

Ob es ein Zufall der Überlieferung war, dass die erste Stiftung eines Papstes von einem Griechen stammte, muss offenbleiben; Johannes VII. (gest. 707) war der Sohn eines kaiserlichen Beamten gewesen.251 Als Bischof der Stadt errichtete er in der Peterskirche, also beim Grab des Apostels und nicht an seinem Bischofssitz, dem Lateran, eine Marienkapelle, in der er sich selbst als Stifter bildlich darstellen ließ. Seine Reichtümer soll er fast ganz auf die Ausstattung seiner als Grablege konzipierten Kapelle mit Mosaiken, Gold und Silber verwandt und den Rest den Armen vermacht haben. Demnach hat Johannes also auch eine Armenstiftung vorgesehen, während über die liturgische Betreuung seines Oratoriums nichts verlautet. Aufwendiger und ambitionierter plante sein Nachfolger Gregor III. ebenso für sein Grab in St. Peter (732 u. Z.); er war mit seiner Stiftung so erfolgreich, dass sich der gesamte Klerus der ehrwürdigen Kirche bis zum späten 15. Jahrhundert regelmäßig an seiner Ruhestätte versammelte und auch einige von Gregors Nachfolgern das Werk erneuerten.252

Aus dem Italien des 8. Jahrhunderts sind, abgesehen von Rom, weitere eindrucksvolle Zeugnisse früher Seelenheilstiftungen erhalten geblieben.253 Bald nach der Unterwerfung des Langobardenreiches durch die Karolinger hat zum Beispiel ein Bürger aus Pisa namens Walfred ein äußerst konsequentes Stiftungswerk geschaffen.254 „Aus Liebe zu Christus und als Heilmittel für meine Sünden“ habe er mit seinen Besitzungen das Kloster S. Pietro di Monteverdi (754) gegründet und trete dort selbst als Mönch ein.255 Er habe sich, klagt Walfred in der Urkunde, lange Zeit dem vergänglichen Leben hingegeben, sei aber nun in Sorge, seiner Sünden wegen den Zugang zum Himmelreich verschlossen zu finden und nicht mit Christus das ewige Leben genießen zu können. Deshalb habe er sich entschlossen, ein Leben zu führen, durch das seine Vergehen ausgelöscht werden könnten; um den Zweck seiner Stiftung zu realisieren, zwang Walfred sogar seine Söhne, ebenfalls ins Kloster einzutreten und Tag und Nacht für seine Sünden Fürsprache im Gebet bei Gott einzulegen.

Dank einer dichten Überlieferung lässt sich die Geschichte frommer Stiftungen in der lateinischen Christenheit an den Verfügungen der Könige und Kaiser verfolgen.256 Zäsuren bildeten hier weniger die Wechsel der Dynastien und Herrschaften als ein Wandel der Frömmigkeit. So wurde das Stiftungswesen seit dem hohen Mittelalter durch eine gravierende Änderung im Denken über das Jenseits beeinflusst. In der Hochscholastik, also seit dem 12. Jahrhundert, gaben die Theologen die altpatristische Vorstellung von einem allgemeinen Zwischenzustand der Verstorbenen bis zum Endgericht auf; stattdessen dachte man nun an ein individuelles Gericht, das kurz nach dem Tod über den Eingang der Seele in Himmel oder Hölle entscheide. Thomas von Aquin (gest. 1274) lehrte etwa: „Die Seelen erlangen sofort nach Lösung der Fessel des Fleisches, durch die sie imstande dieses Lebens zurückgehalten werden, Lohn und Strafe, sofern kein Hindernis vorliegt (…). Weil den Seelen ihr Ort zugewiesen wird je nach der Angemessenheit von Lohn und Strafe, wird die Seele sofort nach Loslösung vom Leib entweder in die Hölle hinabgestoßen, oder sie steigt zum Himmel auf, wenn sie nicht durch irgendeine Schuldverstrickung zurückgehalten wird, so dass das Aufsteigen [in den Himmel] bis nach der Läuterung der Seele aufgeschoben werden muss.“257 Die Sühne der Seele sollte im Fegefeuer erfolgen, das sich in der westchristlichen Imagination zur gleichen Zeit auf der Grundlage früherer Vorstellungen von einem postmortalen Reinigungsfeuer entfaltete.258 Hier, an einem bestimmten jenseitigen Ort, sollte die Seele für die im irdischen Leben zwar noch bereuten, aber nicht mehr gebüßten Sünden Qualen erleiden. Auf dem Konzil von Lyon 1274 wurde die Lehre vom Fegefeuer für die römischkatholische Kirche verbindlich. Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Gläubigen fort vom langen Zeitraum zwischen Tod und Endgericht und hin zu der kürzeren Zeit unmittelbar nach dem Tod des Einzelnen, in der das Partikulargericht stattfinden sollte.259 Allerdings konnte niemand sagen, wie lange ein „halbguter“ Verstorbener im Fegefeuer zu büßen hatte, und auch die Lehre von einem allgemeinen Endgericht wurde in der religiösen Praxis und den Übungen der Frömmigkeit niemals obsolet.

In der jüngeren Forschung ist die Behauptung aufgestellt worden, mit dem Aufkommen der Fegefeuerlehre im 12. Jahrhundert seien Stiftungen für das Seelenheil eher unattraktiv geworden; es sei nämlich jetzt weniger auf dauernde Fürbitten und ‚ewige Messen‘ als auf kurzfristige Gebets- und Opferhilfe durch die Nachlebenden zugunsten des Verstorbenen angekommen. Die These hatte der französische Mediävist Jacques Chiffoleau auf der Grundlage der testamentarischen Überlieferung aus Avignon entwickelt.260 In Auseinandersetzung mit ihm hat inzwischen der Historiker Ralf Lusiardi die letztwilligen Verfügungen der Hansestadt Stralsund ausgewertet und Chiffoleau eindrucksvoll widerlegt.261 Offenbar wurde die Vorstellung von einem endzeitlichen Gericht durch die Lehre vom Partikulargericht und Fegefeuer niemals nachhaltig verdrängt oder relativiert. Testatoren, die es sich leisten konnten, sorgten für unbegrenzte Messreihen ebenso wie für kurzfristigere liturgische Hilfen für das Seelenheil.

Ins griechische Christentum ist die Lehre vom Fegefeuer niemals eingedrungen; als die orthodoxen Theologen mit ihr konfrontiert wurden, vor allem nach der Eroberung Konstantinopels durch westliche ‚Kreuzfahrer‘ (1204), reagierten sie eher mit Unverständnis als durch Abwehr.262 Ihre Eschatologie blieb auf das Endgericht fixiert und bot den Gläubigen wenige Anhaltspunkte für das Jenseits zwischen dem Tod des Einzelnen und dem allgemeinen Tag der Auferstehung. Deren Phantasie und depressive Erwartung konnten vorchristliche Ideen vom Schattenreich des Hades als einem freud- und hoffnungslosen Ort der Verstorbenen besetzen, weil sich die Kirchenführer agnostisch verhielten und fast alle Antworten schuldig blieben. Die Thesen einer mentalitätsgeschichtlichen Studie aus den 70er Jahren, dass die kirchliche Botschaft vom Letzten Gericht, von Himmel und Hölle kaum tief ins religiöse Bewusstsein der Byzantiner eingedrungen sein soll,263 gelten allerdings als überzogen.264 In Wort und Bild verbreitet waren nämlich die Vorstellungen vom Kampf der Engel und Dämonen um die Seele der Verstorbenen und von der Passage der Seele durch 22 Zollstationen, an denen die guten Werke gegen die ungebüßten Sünden abzuwiegen waren;265 die jüngere Forschung hat auch den Wert hagiographischer Texte für die Erkenntnis volkstümlicher Bilder vom Jenseits herausgearbeitet.266 Nicht zuletzt argumentierte man mit der Verbreitung von Seelenheilstiftungen für die Toten, besonders durch die Errichtung von Klöstern, um die Verbreitung der kirchlichen Lehre über Jenseits und Rechtfertigung vor dem höchsten Richter zu belegen.267 Einer von wenigen Autoren, die sich im Mittelalter um eine Begründung für Stiftung und Memoria bemühten, war der Historiker, Theologe und Mathematiker Michael Glykas (12. Jh.). Befragt, ob die Verrichtung guter Werke die Sünden der Verstorbenen ganz auslöschen könnte, verwies er auf ein Gebet des heiligen Basilius: „Nicht die Toten preisen dich, o Herr, noch sind sie in der Lage, dir aus dem Hades ein Bekenntnis abzulegen, aber wir, die Lebenden, verrichten Bittgebete für ihre Seelen.“268 Glykas hob in diesem Zusammenhang die Praxis des Totengedächtnisses am dritten, neunten und vierzigsten Tag sowie am Jahrtag hervor und führte dazu die Autorität der Apostel an, doch könnten Gebetsinterventionen der Lebenden nur gegen lässliche und nicht gegen Todsünden wirksam werden.

Den unklaren und sonst auf das Endgericht fixierten Vorstellungen der Byzantiner über das Jenseits entsprach es, dass bei religiösen Stiftungen immer wieder betont wird, sie sollten „auf ewig“ oder „bis zum Ende der Zeiten“ dauern.269 Bevorzugte Orte des Gebets im Gedenken an die Toten (mnemosyna),270 „solange der Welt besteht“, wurden in der Tat die Klöster; sie vor allem traten das Erbe der heidnischen Stiftungen in der Antike an.271 Johannes Chrysostomos, Bischof von Konstantinopel (398–404), hatte noch darüber zu klagen, dass viele Reiche Märkte und Bäder anstelle von Kirchen gründeten. Diejenigen aber, die auf dem Lande Kirchen erbauten, würden durch ihre Erwähnung in unaufhörlichen Gebeten und durch Hymnen beim sonntäglichen Gottesdienst geistlichen Lohn, aber auch weltliche Gegengaben (Spenden) erhalten.272 Im Mittelalter standen, bedingt auch durch die Überlieferungslage, Klöster so sehr im Vordergrund der Stiftungsgeschichte, dass beides manchmal geradezu in eins gesetzt wird. Natürlich betraf dies vor allem vornehme und reiche Fromme und ihre Familien, die sich von den an Gott, Maria oder die Heiligen beziehungsweise an Mönche und Nonnen adressierten Gaben Gnade, Hilfen und Gebetsbeistand erwarteten.273 Aber auch weniger Begüterte konnten mit Spenden an die Kirche ein Anrecht auf Gebetshilfe erwerben. Die Wohltäter ließen ihre Namen und oft auch die Namen ihrer Angehörigen bereits zu Lebzeiten in Diptychen eintragen, die das Gebetsgedenken für Lebende und Verstorbene in der Messliturgie ermöglichen sollten. In den klösterlichen Gründungsurkunden und Lebensordnungen, den sogenannten typika, bedingten sich die Stifter detaillierte Memorialleistungen aus.274

Ein anderes, mit der Memoria eng verflochtenes Motiv byzantinischer Stifter war die Wohltätigkeit. Zur Zeit des Johannes Chrysostomos scheint die Armensorge gegenüber der Stiftung von Kirchen sogar noch im Vordergrund gestanden zu haben; bereits um 350 u. Z. soll nach den Ergebnissen neuer Forschungen in Anatolien auch das christliche Spital als Einrichtung der Fürsorge erfunden worden sein.275 Diese christlichen Wohltätigkeitsanstalten scheinen sich seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durchgesetzt zu haben; im Codex Theodosianus, dem Gesetzbuch Kaiser Theodosius II. von 438, werden sie noch nicht erwähnt, während der Codex Iustinianus von 534 ihre große Bedeutung im Byzantinischen Reich belegt.276 Im Unterschied zu den Verhältnissen im klassischen römischen Recht waren sie selbstständig; in den Quellen findet sich zwar keine gemeinsame Bezeichnung, doch spricht die Forschung nach dem häufig belegten Motiv der frommen Gesinnung von piae causae („frommen Angelegenheiten“), sonst zur Betonung des kirchlichen Charakters von venerabiles domus („ehrwürdigen Häusern“).277 Im Einzelnen werden bei den Spitälern in der Überlieferung Fremdenhäuser, also Xenodochien, Armenhäuser, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Findelhäuser und Altenheime unterschieden. Die idealtypische Begründung und Beschreibung dieser Stiftungen hatte bereits Kaiser Justinian (gest. 565) gegeben: „Einem jeden Menschen ist vom Schöpfer nur der Lauf eines einzigen Lebens gegeben, an dessen Ende der Tod steht. Nicht aber ziemt es, den ehrwürdigen Häusern und ihren Kongregationen, die als unsterblich unter Gottes Schutz stehen, ein Ende zu setzen, auch nicht in ihren Gütern. Sondern solange die ehrwürdigen Häuser bestehen – und sie werden in Ewigkeit bestehen, ja bis ans Ende der Tage, solange der Name ‚Christen‘ bei den Menschen gilt und verehrt wird –, ist es gerecht und billig, dass auch die ihnen auf Ewigkeit zugewandten Spenden und Einkünfte ewig dauern, damit sie unaufhörlich dienen den nie erlöschenden frommen Werken.“278 Den Empfängern der Wohltaten sagte man eine besondere Nähe zu Gott nach; Leprakranke, Waisen, Arme, Kranke oder Witwen wurden deshalb als Gegenleistung für ihre Unterstützung in die Fürbitten zugunsten der Stifter einbezogen. In mittelalterlicher Überlieferung begegnen die Armen und die Wohltätigkeitseinrichtungen fast immer als Angehörige und Bestandteile der klösterlichen Anlagen.

Die typika als wichtigste Zeugnisse für das byzantinische Stiftungswesen zeigen bei aller Gleichförmigkeit eine erstaunliche Vielfalt in der Narration der Stiftungsgeschichte und bei den Normen für das künftige Leben der klösterlichen Insassen.279 Die Verfügungen des Senators, Richters und Geschichtsschreibers Michael Attaleiates vom März 1077 enthalten in diesem Sinne neben Typischem auch viel unverwechselbar Besonderes.280 Nach seinen eigenen Worten stammte er aus „einem fremden Land“, dem Namen nach aus Antalya an der Südküste Anatoliens, also dem Expansionsraum der islamisierten Türken (Seldschuken).281 Seinen Erbbesitz hatte er aber seinen Schwestern überlassen und bei seinem Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen in der entfernten Provinz reiche Güter in der Hauptstadt und in Rhaidestos (türk. Tekirdağ) am Marmarameer erworben. Seine Frau war bereits verstorben, als er über die Wohltaten Gottes nachdachte und seiner vielen schweren Sünden wegen mit sich haderte. Er wolle jedoch alle Hoffnung für sein Heil auf Gott setzen und einen Teil seiner Besitzungen für gute Werke aufwenden. In Rhaidestos und Konstantinopel schuf er ein Armenhaus, dem er zur geistlichen Betreuung ein Kloster zuordnete. „Dir, o Herr“, so heißt es in seinem dem Rechtstext inserierten Gebet, „biete ich diese Gabe dar, weil ich meinen Besitz durch deine Großzügigkeit erhalten habe, damit es dem Vorhaben deiner Liebe diene. Denn in deiner Güte hast du jene, die eine fromme Rettung erstreben, mit Gaben beschenkt, indem du erklärtest, dass der Reichtum jedes Mannes als Lösegeld für seine Seele dienen kann. Möge deine große und allmächtige Rechte diese Gaben halten und sie in Ewigkeit bewahren (…). Jeder Kaiser, Adlige und Dynast sowie alle Diener des heiligen Sanktuariums, Bischöfe sowohl als auch Priester, und jeder, der in politische und kirchliche Angelegenheit verwickelt ist, sollte sich von diesem heiligen Besitz des Armenhauses fernhalten, das zur Freude deines überweltlichen Ruhms und für die heilige Schar der Mönche in ihm errichtet wurde, mit allem(,) was dazugehört. Denn all dieser Besitz ist Gott zugeeignet und mit Unantastbarkeit ausgezeichnet (…).“282 Den Gottesdienst habe er Mönchen anvertraut, die im Armenhaus von Konstantinopel leben und die rechte Lehre und Liturgie in der Kirche überwachen sollten.283 Sowohl das Armenhaus (an den beiden Standorten) als auch das ihm unterstellte Kloster sollten unabhängig und autonom sein. Als Patrone und Helfer wünschte er nächst Gott Maria und den heiligen Michael als Befehlshaber der himmlischen Heerscharen sowie Johannes den Täufer. Über die Armensorge bei seinem Haus in der Reichshauptstadt bestimmte er, dass an jedem Sonntag am Tor den bedürftigen Brüdern in Christus viel Brot gereicht werde; ferner sollte man an jedem Tag sechs arme Männer im Refektorium mit einem Stück Brot speisen, ergänzt durch Fleisch, Fisch oder Käse und gedörrtes oder frisches, indessen gekochtes Gemüse. Außerdem sollte jeder von ihnen vier folleis (Münzen) erhalten, wie er dies selbst schon jetzt praktiziere. 216 Maß Weizen sollten an unglückliche Menschen verteilt werden, und zwar je zwölf davon an 18 eingetragene Witwen oder erbarmungswürdige alte Männer. Die Distributionen beim Armenhaus von Rhaidestos sollten sich nach Attaleiatesʾ Plan davon unterscheiden; der Stifter bestimmte nämlich die Verteilung von Erträgen aus den Besitzungen an andere arme Klöster, die, wie er wusste, ohne Ressourcen seien. Dafür sollten die geförderten Mönche seinen Namen in ihr geheiligtes Diptychon schreiben, „so dass ich dauernd in diesen Klöstern kommemoriert werde; jeden Tag sollen sie nach dem Gottesdienst am Morgen ein trisagion (Sanctus-Anrufung Gottes) für ihn, den Sünder, verrichten.“284 In Rhaidestos sollte für Pilger zu heiligen Stätten (in Konstantinopel oder Jerusalem?) und für andere arme Fremde eine Rast mit Schlafsälen errichtet werden, wo Brot und Wein zum Verzehr zu verteilen war. An seinem Todestag sollten jedes Jahr zwölf ältere Brüder in Christus, sofern sie schwach, gebrechlich und in Not seien, eine nomisma ([Gold-]Münze) und sechs Maß Weizen erhalten. Auch sollten dort, also im Armenhaus, zur Zeit seines Gedächtnisses liturgische Gesänge erschallen und dies mit Geld und Naturalien entlohnt werden.285 Was die Mönche betrifft, so war es ihre Pflicht, neben seinen namentlich genannten Eltern für ihn selbst an jedem Samstag eine besondere Liturgie zu feiern, „so dass ich in Ewigkeit erinnert werde“; in die Memoria sollten noch andere Personen, wohl seine Verwandten, und die Kaiser einbezogen sein.286 Ausdrücklich erlaubte Attaleiates Beiträge zu seiner Stiftung durch Dritte mit dem Zweck des Gebetsgedenkens bis in künftige Generationen.287 Auch die Mönche und seine Erben sollten ins Diptychon eingetragen werden; wer sich aber gegen den Stifterwillen wende, sollte dieses Anrecht und damit sein Gedenken verlieren.288

Bemerkenswert ist, dass Michael Attaleiates seinen Häusern keineswegs seinen gesamten Besitz vermachte. Seinen Sohn Theodor und dessen Nachkommen in männlicher Linie bestellte er sogar „auf ewig“ zum Erben, Herrn und Verwalter seiner Stiftung.289 Sobald die vorgeschriebenen Leistungen für Gedenken und Caritas erfüllt waren, sollten Theodor vom nicht verbrauchten Ertrag der Stiftungsgüter zwei Drittel erhalten und nur ein Drittel davon sollte angespart werden.290 Erst wenn die Reihe der Erben Theodors zu Ende komme, sollten die Vorsteher des Armenhauses und die Mönche in der Leitung an die Stelle der Stifterfamilie treten.291 Andererseits waren Theodor und seine Söhne und Nachkommen nicht frei bei der Verfügung über das väterliche Erbe, sondern mussten es in der eigenen Linie bewahren. Beim Aussterben des Mannesstammes sollte schließlich alles an das Armenhaus und Kloster fallen.292 Die Regelungen des Typikons sicherten also einerseits die Nachkommen Michaels in männlicher Linie wirtschaftlich ab, andererseits hatte der Stifter alle seine Güter direkt oder indirekt für Gedenken und Caritas bestimmt.

Von den Praktiken in der griechisch-orthodoxen Kirche war das russische Stiftungswesen geprägt, nachdem das Reich von Kiew 988 das Christentum von Konstantinopel empfangen hatte.293 Allerdings setzt eine reichere Überlieferung, auf die sich die historische Forschung stützen kann, erst am Ende des 15. Jahrhunderts ein, um sich auf die Zeitspanne bis um 1700 zu konzentrieren. In den Urkunden wird betont, dass die Stiftung „zur Erlangung der ewigen Güter“ errichtet und „das Vergängliche dieser Welt“ gegeben werde, „um Unvergängliches“ zu erwerben.294 Der griechischen Bezeichnung für den „Seelteil“ (psychikon) entsprach im Altrussischen zadušie („das für die Seele“) – ein Lehnwort, dem man auch im Serbischen und Bulgarischen begegnet (zadužbina).295 Wie in Byzanz blieben die Vorstellungen über das Jenseits bis zum Endgericht unklar oder widersprüchlich. Der Prediger Kirill von Turov beschrieb im 12. Jahrhundert, wie die Seele vom Engel vor das Gericht geleitet wird, wo Gott sie befragt und dann an einem nur ihm bekannten Ort versteckt. Das Urteil selbst werde erst nach der Vereinigung von Körper und Seele im Jüngsten Gericht gesprochen: „Deshalb gibt es bis zur zweiten Ankunft Christi für keine menschliche Seele, sei es von Gläubigen, sei es von Ungläubigen, Gericht oder Qualen.“296 Erst Ende des Mittelalters scheint das Konzept von einem vorläufigen Gericht unmittelbar nach dem Tod eine größere Verbreitung gefunden zu haben; dementsprechend intensiviert wurden die Gebete in den ersten vierzig Tagen. Auch die Vorstellung von den himmlischen Zollstationen (mytarstva), die die Seele auf ihrem Weg zu Gottes Thron zu passieren hatte, war verbreitet wie in Griechenland. Ein Unterschied zu Byzanz lag in der Ausgestaltung der Listenführung für das Gebetsgedenken. Die Wohltäter konnten ihren Eintrag in den nach dem Vorbild der Diptychen gestalteten sinodik erwarten, der als Grundlage der Memoria diente.297 Um 1500 scheint sich ein differenzierteres System herausgebildet zu haben. In den „ewigen Sinodik“ konnte jeder Weltliche – wie auch die Mönche des betreffenden Klosters – eingetragen werden, gleichgültig, ob er arm oder reich war, viel, wenig oder sogar nichts gegeben hatte. Der Eintrag einer ganzen Familie konnte einen Viertelrubel kosten. Die Namen der dementsprechend schnell anwachsenden Liste zu lesen, dauerte viele Stunden und begleitete litaneiartig unter Umständen mehrere Gottesdienste am Tag. Nur der Eintrag in die „tägliche Liste“ (povsednevnyi spisok) versprach ein individuelles Gedenken, und zwar bei bestimmten Teilen der Liturgie (am Morgen, bei der „Göttlichen Liturgie“, also der Messfeier, nach der Evangelienlesung, bei den Pannychiden, die nach den Abendgottesdiensten gefeiert wurden, usw.).298 Die Dauer des persönlichen Gebetsgedenkens wurde über den Preis geregelt; offenbar bürgerte sich die Regel ein, dass der Aufwand eines Rubels der Memoria über ein Jahr entsprach; für den unbefristeten Eintrag in die tägliche Liste mussten mindestens 50 Rubel aufgewandt werden. Statt Geld konnten Land, Dörfer, Pferde, wertvolle Gefäße und „aller Reichtum, das vergängliche Gold und Silber dieser Welt“ gestiftet werden.299 Als höchste Stufe des Gedenkens galt der korm, eine durch Stiftung begründete Speisung der Mönche zum Gedenken an eine bestimmte Person; eine jährliche Speisung dieser Art kostete hundert Rubel. In den korm für die Mönche konnten die Armen eingeschlossen sein. Im 1479 gegründeten Kloster zum „Entschlafen der Gottesmutter“ bei Volokolamsk, von dem eine reichere Überlieferung erhalten geblieben ist, nahmen regelmäßig zwölf eingeschriebene Arme (zapisnye niščie) an den Mahlzeiten der Mönche teil.300 Wichtiger war die Verteilung der Speisen vor dem Klostertor; das ‚Speisungsbuch‘ von Volokolamsk führt kalendarisch die Namen jener Wohltäter auf, für deren Gedenken Speisungen von Armen stattfinden sollten.301

Ähnlich wie oder eher noch mehr als in Byzanz galten die Klöster in der Rus’ als Stätten der Memoria für Lebende und vor allem Verstorbene. Mit der Stiftung konnte der Anspruch auf eine Bestattung im Kloster verbunden sein; verbreitet war auch der Einkauf ins Kloster, sei es sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt, während sich mancher Stifter den Nießbrauch seiner Stiftungsgüter bis zum Tode oder Klostereintritt vorbehielt.302 Iosif Sanin, der Gründer von Volokolamsk, verfasste eine ‚Erzählung über die der Seele nützlichen Bücher‘ und rechtfertigte die Existenz des Klosters überhaupt mit der Führung von ewigem Sinodik und täglicher Liste.303 Um dieser Bücher willen erhielten Priester, Diakone und alle Brüder Ruhe für ihren Körper, dazu Speise und Trank, Kleidung und Schuhe sowie ihre Zellen mit Ausstattung als Behausung. Auch Stiftungsgüter wie Dörfer und Gärten, Flüsse und Seen, Wiesen, vierbeinige und andere Tiere kämen dem Kloster deswegen zu. Mangelhafte Sorgfalt bei der Memoria würde deshalb die Verdammnis der Säumigen nach sich ziehen. Auch die ‚Hundertkapitelsynode‘ von 1551 wies den Klöstern das Totengedenken als erste Pflicht zu. Der Stiftung als Gabe müsse die sorgfältige Ausübung der Memoria als Gegengabe entsprechen. Nach dem Urteil des Zaren lag die Disziplin der Mönche damals danieder. Trotz der ihnen „zum Gedenken“ (na pominok) gegebenen Stiftungen vagabundierten die Mönche (statt in ihren Klöstern zu bleiben) in Dörfern und Städten: „Wer wird dafür im Jüngsten Gericht Qualen erleiden?“, warnte sie der Herrscher.304

Der signifikanteste Unterschied zum byzantinischen und auch zum westlichlateinischen Stiftungswesen lag darin, dass die Rusʾ neben den Memorialstiftungen keine karitativen Stiftungen kannte.305 Die Verteilung von Speisen an die Armen wie in Volokolamsk war nur Nebenprodukt des klösterlichen Alltags, aber keine organisierte Mildtätigkeit.306 Die Gläubigen waren auf die direkte Unterstützung der Bedürftigen verwiesen und nahmen diese Christenpflicht auch ernst, aber die Kirche fungierte nie als Redistributionsinstanz von Gewinnen und Reichtümern.307 Noch im Russischen Reich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sollte es der Staat sein, der Armenhäuser errichtete.308

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte

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