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Heil für die Seele durch Stiftungen im Judentum?

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Wie in anderen Religionen auch, sind Seelenglaube und Jenseitsvorstellungen im Judentum unklar, widersprüchlich und umstritten.360 Im Unterschied zum Christentum fanden die damit verbundenen Fragen aber überhaupt wenig Interesse;361 beim Mangel einer allgemein anerkannten Instanz für theologische Entscheidungen wirkten auf die weitverstreuten Gemeinden je andere Denker und Religionen mit unterschiedlicher Reichweite und Nachhaltigkeit ein. Was als ‚Seele‘ im Sinne von ‚Person‘ oder ‚Individuum‘ aufgefasst wird, erscheint im Hebräischen am ehesten als nephesch; diesem Begriff stehen neshamah und ruah zur Seite, die aber vornehmlich das ‚Lebensprinzip‘ oder den ‚Odem des Lebens‘ bezeichnen.362 Ursprünglich scheinen die Hebräer Leben und Seele kaum voneinander getrennt zu haben. Während wir davon sprechen, dass wir eine ‚Seele haben‘, dachten sie, wie in der Forschung formuliert wurde, dass sie eine ‚Seele sind‘.363 Beim Tod wandte sich der Leib zum Staub, aus dem er gebildet worden war, während der ‚Lebenshauch‘ zu Gott dem Schöpfer zurückkehrte. Gewiss hat der Einfluss des Hellenismus seit dem 4. Jahrhundert v. u. Z. einen Individualisierungsschub bewirkt, denn vor allem Platon hatte gelehrt, dass die Seele die Essenz des menschlichen Daseins sei und sich beim Tod aus der Gefangenschaft des Körpers befreie.364

Das soll jedoch nicht heißen, dass überwiegend äußere Einflüsse das hebräische Nachdenken über die Seele bestimmt hätten; manche Wissenschaftler meinen sogar, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele schon in den ältesten Schichten der jüdischen Überlieferung angelegt gewesen sei. In einer ausgreifenden Analyse des Seelenglaubens von der Antike bis zur ‚Spätmoderne‘ hat der Theologe Helmut Feld kürzlich diese Auffassung mit einer Reihe von Schriftzeugnissen zu belegen versucht.365 Das Schattenreich des Todes, Sche’ol, sei in keinem Teil des Alten Testaments so häufig und plastisch als ‚Land ohne Wiederkehr‘ beschrieben worden wie im Buch Hiob.366 Hiob selbst aber ziehe eine Trennung und ein endgültiges Verlassenwerden von Gott nicht ernsthaft in Betracht und werde bei all seiner Not und Verzweiflung in seiner Hoffnung am Ende auch nicht enttäuscht.367 Ähnliches lasse sich vom Beter einiger Psalmen sagen. Dieser danke einmal für die Errettung seiner Seele (nephesch) „aus den Tiefen des Totenreiches“.368 Sowohl in den Psalmen als auch im Buch Hiob kommen nach H. Feld „in Verbindung mit dem Glauben an eine leibliche Auferstehung auch Elemente einer Vorstellung von der ‚Seele‘ zur Sprache“. Obgleich die Bibelforschung darüber uneins sei, gehe dies seiner Auffassung nach aus dem David zugeschriebenen Psalm 16 hervor: „Darum freut sich mein Herz und meine Seele frohlockt; auch mein Leib wird sicher wohnen. Denn du gibst meine Seele (mein Leben) dem Totenreich nicht preis, du lässt deinen Frommen nicht schauen die Verwesung.“369 Hier komme klar das Bewusstsein von einer den Tod überdauernden individuellen Existenz zum Ausdruck: „nephesch hat im Kontext des Psalms eher die Bedeutung von ‚Seele‘ als von ‚Leben‘. Auf Gottes ewig (nezach) dauernder Zuverlässigkeit (16, 11) ruht das Vertrauen des Beters, dass seine Seele (nephesch) nicht für die Sche’ol bestimmt ist, und auch sein Leib (basar) fällt nicht der (definitiven) Verwesung anheim. Entscheidend ist (…), dass der nephesch eine Weiterexistenz nach dem Tode zugeschrieben wird; es wird auch wohl ein vorübergehendes Verweilen in der Unterwelt angenommen; doch Gott weist am Ende ‚den Weg des Lebens‘ (’orach chajim)“.370 Später belegten die Prophetenbücher, dass im Israel der Könige die Vorstellung von Totengeistern, die in der Unterwelt existierten, aber zur Wiedererweckung zum vollen Leben bestimmt waren, schon vor dem Einfluss des griechisch-platonischen Seelenglaubens verbreitet gewesen sei. Jesaja (ca. 740–690 v. u. Z.) beschreibe im 25. Kapitel das Festmahl, das Jahwe Zebaoth nach Vollendung des Gottesreiches in Jerusalem für alle Völker geben werde; Jahwe werde dann „den Tod auf ewig verschwinden lassen und die Tränen von jedem Antlitz abwischen“.371 Während die Gottlosen dem Gericht anheimfielen und von der Unterwelt nicht wieder auferstünden, sage der Prophet von Gottes Toten: „Werden wohl deine Toten wieder aufleben? Auch meine Leichen? Ja, sie werden auferstehen! Wacht auf und jubelt, die ihr im Staube ruht! Denn ein Tau der Himmelslichter ist dein Tau, und so wird die Erde die Schatten wieder ans Tageslicht bringen.“372 Entsprechend skizziere etwas später (2. Hälfte des 6. Jh.s v. u. Z.) Deuterojesaja im Falle des ‚Gottesknechts‘ die durch Gott ermöglichte Existenz über den Tod hinaus.373

Andere Forscher – gewiss ihre Mehrheit – deuten oder gewichten die Zeugnisse anders. Für Otto Plöger bezeichnet beispielsweise das Wort Sche’ol eher den Tod als Gegenwelt zum gelebten Leben, während die Vorstellung vom Schattenreich mit ihm nur am Rande verbunden wurde.374 Ohne Zuversicht oder gar freudige Zustimmung sei davon die Rede, dass der Mensch beim Tode „zu seinen Vätern versammelt“ werde (5. Mose 31, 16).375 Mit Bitterkeit werde konstatiert, in die Grube hinabzufahren, bedeute, zum Verschwinden gebracht zu werden und der Vergessenheit anheimzufallen (Ps 28, 1; 31, 13; 40, 3 u. ö.). Gott sei in erster Linie ein Gott des Lebens und der Lebenden und nicht des Todes. Wenn er in den Psalmen gefragt werde, warum ihn nur die Lebenden und nicht die Toten rühmen dürften, seien das nur Anfragen, aber keine von Zuversicht getragene Aussagen. Das im Vollsinn gelebte Leben sei im Tod an einem guten Namen und einer zahlreichen Nachkommenschaft, also an einem Nachleben im Diesseits, ablesbar und lasse keineswegs auf jenseitige Vergeltung und Erfüllung hoffen. Tatsächlich beginne sich dies gegen Ende der alttestamentlichen Zeit zu ändern; die auch von H. Feld zitierte Passage bei Jesaja über das Verschlingen des Todes beziehe sich auf eine Vision irdischen Friedens und analoge Schriftstellen verwiesen nicht auf die individuelle Auferstehung, sondern auf das Volk Israel, das sich aufs Neue erheben werde.

Weithin Einigkeit herrscht darin, dass im Buch Daniel von ca. 165 v. u. Z., dem letzten der hebräischen Bibel, zum ersten Mal eindeutig von der individuellen Auferstehung die Rede ist: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen [sc.: die gestorben beziehungsweise im Kampf umgekommen sind], werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“376 Allerdings richtete sich diese Auferstehungsverheißung nur an die Angehörigen des Volkes Israel. Entwickelt wurde sie als Reaktion auf die Niederschlagung des Makkabäer-Aufstandes durch den seleukidischen König Antiochos IV. Epiphanes (168 v. u. Z.). Im zweiten der vier Makkabäerbücher, die die rabbinische Tradition allerdings nicht zu ihrem Kanon zählt, wird u.a. das Martyrium der sieben Makkabäerbrüder und ihrer Mutter geschildert, die sich weigerten, die jüdischen Gesetze zu verleugnen.377 Die Glaubenszeugen gingen mit der Gewissheit in den Tod, mit dem ewigen Leben belohnt zu werden. So hielt der zweite der Brüder dem Übeltäter entgegen: „Du verruchter Mensch, du nimmst uns wohl das zeitliche Leben; aber der König der Welt wird uns, die wir um seiner Gesetze willen sterben, wieder erwecken in der Auferstehung zum ewigen Leben.“ Und als dem dritten die Zunge herausgerissen werden sollte, habe er seinen Mördern auch die Hände dargeboten und gesprochen: „Diese Glieder sind mir vom Himmel gegeben; darum will ich sie gern gering achten um seiner Gesetze willen; denn ich hoffe, er wird sie mir wiedergeben.“ Bevor die Mutter selbst hingerichtet wurde, habe sie ihre Söhne, einen nach dem anderen, mit den Worten getröstet: „Ich weiß nicht, wie ihr in meinem Schoß entstanden seid, und den Odem und das Leben habe ich euch nicht gegeben noch habe ich zusammengefügt, woraus jeder von euch besteht. Darum wird der, der die Welt geschaffen und alle Menschen gemacht und das Werden aller Dinge erdacht hat, euch den Odem und das Leben gnädig zurückgeben, weil ihr jetzt um seiner Gesetze willen keinerlei Rücksicht nehmt auf euch selbst“ (2. Makk 7, 9; 7, 11 und 7, 22).378

Man darf sich allerdings nicht vorstellen, dass sich seither der Auferstehungsglaube im Judentum ungehindert durchsetzte; noch bis zur zweiten Zerstörung des Tempels von Jerusalem im Jahre 70 u. Z. widersprachen ihm wirkungsvoll die traditionell denkenden Sadduzäer. Ihre erfolgreichen Konkurrenten, die neben ihrer guten Kenntnis der mosaischen Gesetze durch ihren mittelständischen Lebensstil die große Mehrheit ansprachen, die Pharisäer, gaben die Lehre an die Rabbinen weiter, mit denen „die Auferstehung am Ende der Welt zum fundamentalen Glaubenssatz der jüdischen Eschatologie“ aufrückte und als solcher bis in jüngste Zeit in Geltung blieb.379

Als Ort der Verstorbenen unterscheidet das Rabbinentum etwa seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert den Garten Eden als vorübergehenden oder endgültigen Zustand des Paradieses von dem Gehinnom als Ort der Strafe.380 Während der babylonische Gaon (religiöse Führer) Saadja (gest. 942 u. Z.) noch die Unsterblichkeit der Seele mit der Idee der körperlichen Auferweckung zu verbinden wusste, begründete Maimonides (gest. 1204 u. Z.) die Lehre von der vom Körper unabhängigen Unsterblichkeit der Seele, die sich als jüdischer Glaubenssatz allmählich durchsetzte, während die Auferstehung des Leibes in den Hintergrund trat. Zwischen- und Endzustand im Jenseits wurden vielfach nicht klar getrennt; nachweisen lässt sich aber auch die Vorstellung, dass die Verstorbenen vorübergehende Strafen im Gehinnom erleiden. Teilweise wurde auch angenommen, dass die Verdammten zusammen mit den Gerechten zum Endgericht auferweckt, dann aber nach dem Urteilsspruch vom Feuer verschlungen werden. Die Ankunft des Messias wurde tendenziell vom Endgericht abgerückt; die Toten würden dann erst am Gerichtstag am Ende der messianischen Zeit und zugleich an der Schwelle der „kommenden Welt“ (Olam ha-ba) auferweckt. Auch wenn sich (wie im Christentum) die Unterscheidung eines partikularen Gerichts unmittelbar nach dem Tode ausbildete, wurde dieses vom universellen Endgericht aber kaum einmal klar unterschieden.

Bei den Jenseitshoffnungen und -befürchtungen ging es um die Vergeltung der Taten im vergangenen Leben.381 Ein undatierbarer Kommentar zum Buch Deuteronium drückt die Erwartung einer Gegenleistung Gottes für das gute Werk so aus: „Und so sprach der Heilige, gepriesen sei Er, zu Israel: ‚Meine Söhne, wann immer ihr die Armen versorgt, rechne ich es euch an, als ob ihr mich versorgen würdet.‘“382 Ein anderer Midrasch, zu Psalm 118, lautet: „In der künftigen Welt wird der Mensch gefragt: ‚Was war dein Tun?‘ Wenn er zur Antwort gibt: ‚Ich speiste die Hungrigen‘, dann werden sie sagen: ‚Das ist das Tor zum Herrn; denjenigen lasst ein, der den Hungrigen zu essen gibt‘ (Ps 118, 20). Ebenso [soll es geschehen mit denen,] die den Dürstenden zu trinken reichen, die Nackten kleiden, nach den Waisen sehen und im Allgemeinen all jenen, die Taten der liebevollen Güte vollbringen.“383 Im Babylonischen Talmud (2./3. Jh. u. Z.)384 ist von einem Mann die Rede, der seine Wohltat (ṣedaqa) mit der Begründung versehen habe, „damit mein Sohn lebe [und] ich Erbe der kommenden Welt werde“; dies sei, so das Urteil, „als eine vollkommene Wohltat zu verstehen“, es könne aber auch, wie es in einer Variante heißt, von einem „völlig rechtschaffenen Mann“ Zeugnis ablegen. Wohltun schütze vor den Schrecken der Hölle, wie der Talmud an anderen Beispielen demonstriert. Der palästinische Weise Rabbi Meir aus dem 2. Jahrhundert führte etwa aus: „Wenn einer dich in Diskussionen verwickelt und fragt, ‚wenn Gott die Armen liebt, warum hilft er ihnen dann nicht?‘‚ so antworte ihm: ‚Dies geschieht zu unseren Gunsten, damit wir durch sie vom Gericht der Hölle (Gehinnom) gerettet werden.‘“ Hier ist allerdings nicht klar, ob den Armen nur eine passive Rolle beim Empfang der Gaben oder auch ein aktiver Anteil an der Seelenrettung, etwa durch Intervention zugunsten ihrer Wohltäter bei Gott, zugesprochen werden sollte. Ein anderer Rabbi verglich die Menschen mit Schafen, die über einen Fluss kommen wollten: „Wer immer einen Teil seines Vermögens beschneidet und es als Wohltaten spendet, wird von der Strafe der Hölle befreit. Stell dir zwei Schafe vor, die einen Fluss durchqueren wollen, eines von ihnen geschoren, das andere ungeschoren; das geschorene gelangt hinüber, das ungeschorene nicht.“ In der Tosefta (Ergänzung zum Mischnah) wird von König Monobaz I. von Adiabene und der Bekehrung seiner Familie zum Judentum erzählt; als dieser beträchtliche karitative Gaben aufwandte, hätten sich seine Brüder gewundert, weshalb er nicht wie die Vorfahren mit seinem Vermögen eher seine Reichtümer vermehrte. Monobaz habe zur Antwort gegeben: „Die Vorfahren haben Schätze in dieser Welt angehäuft, ich für die kommende Welt.“

Umstritten war, ob auch andere zugunsten eines Menschen intervenieren konnten. Die Gebetshilfe der Lebenden für die Toten begünstigte eine Begebenheit aus dem zweiten Makkabäerbuch. Als Truppen unter Judas Makkabaeus einen Sieg über die Edomiter erfochten hatten und die wenigen eigenen Gefallenen bestattet werden sollten, fand man bei den Leichen Götzenbilder; diese waren natürlich verboten, so dass ihr Tod als Zeichen des göttlichen Zorns gedeutet werden musste. Judas indessen ließ eine Abgabe von 2.000 Drachmen erheben und als Sühnopfer nach Jerusalem bringen: „Und er tat wohl und fein daran“, so lautet die Begründung, „denn er dachte an die Auferstehung. Denn wenn er nicht gehofft hätte, dass die, die erschlagen waren, auferstehen würden, wäre es vergeblich und eine Torheit gewesen, für die Toten zu bitten. Weil er aber bedachte, dass die, die im rechten Glauben sterben, Freude und Seligkeit zu hoffen haben, ist es eine gute und heilige Meinung gewesen. Darum hat er auch für die Toten gebetet, dass ihnen die Sünde vergeben würde“ (2. Makk 12, 39–46).385

Obwohl mit der Geschichte Gegengaben oder Memorialleistungen zugunsten des Seelenheils Dritter begründet werden konnten, widerstrebten ihrer Lehre nicht wenige Gottesmänner. Der Rabbi Maharam Chalawa, der in Tortosa unter christlicher Herrschaft wirkte (ca. 1350), wurde einst gefragt: „Ist es wünschenswert, gute Gaben für Menschen aufzubringen, die schon verstorben sind? Können noch nach ihrem Tod Werke zu ihren Gunsten ihre Lage entscheidend verändern?“ Der Rabbi urteilte kompromisslos: „Es gibt keinen Zweifel, dass, was jemand für einen Verstorbenen tut, diesen nicht unterstützen oder zum Heil bringen kann, denn jedermann wird entsprechend seiner Verdienste zum Zeitpunkt seines Todes gerichtet.“386 Ähnlich hatte sich auch schon Abraham bar Hiyya ha-Nasi (ca. 1070–ca. 1136) in Katalonien geäußert: „Jeder, der glaubt, dass ihm die Taten und Gebete seiner Söhne und Enkel nach seinem Tod behilflich sein könnten, [vertritt] fingierte Gedanken, die in den Augen der Weisen und Vertreter der Wissenschaft einer falschen Erwartung entsprechen“;387 und das Oberhaupt der babylonischen Akademie von Pumbedita (Irak), Hai Gaon (939–1038), lehnte den Effekt reiner Fürbitten auf die Tilgung der Sünden von Toten ab: Diese „haben keinen Nutzen für den Verstorbenen (…). Das Zufügen eines [religiösen] Verdienstes durch eine [finanzielle] Vergütung kann in keiner Weise förderlich sein.“388

In welchem Maße solche Vorbehalte wirkten, müsste sich unter anderem an Stiftungen des Mittelalters ablesen lassen. Es ist allerdings nicht leicht, jüdische Stiftungen und ihre Wirkungen überhaupt zu ermitteln. Die Probleme ergeben sich hier aus der unbefriedigenden Forschungslage,389 vor allem aber aus der Sache selbst und der entsprechenden Überlieferung. Stiftungen waren im Judentum fast ausschließlich der Fürsorge (ṣedaqa) gewidmet;390 als Empfänger der Gaben traten aber in aller Regel nicht die Armen und Bedürftigen selbst, sondern die Gemeinden beziehungsweise die Gemeindefonds in Erscheinung, die die Verwaltung und Distribution der aufgebrachten Mittel ausübten.391 Die Bezeichnung des Gemeindefonds heqdesh/qodesh, die vom Tempelschatz abgeleitet war, wurde auch für Stiftungen verwendet; ein eigener Begriff hierfür fehlte also.392 Eine Wechselbeziehung zwischen dem Stifter und dem Begünstigten, der die Stiftungen für das Seelenheil kennzeichnet, wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Gabe als besonders fromm und verdienstlich galt, wenn sie unbekannterweise erfolgte.393 Schon in den Sprüchen Salomos hatte es geheißen: „Eine heimliche Gabe stillt den Zorn [Gottes]“ (Spr 21, 14), und im Mittelalter stellte Maimonides in seinem Werk ‚Mischneh Tora‘ (ca. 1180) eine Werthierarchie der Wohltätigkeit auf, in der die Anonymität des Spenders (und des Empfängers) ganz oben rangierte.394 Außerdem kam eine Stiftung durch mündliche Vereinbarung zustande, so dass es überhaupt nur sehr wenige Urkunden gibt, in denen der Stifter seine Motive und Erwartungen hätte festhalten können. Vor allem Rechtsbescheide der Gelehrten (Responsen) und Verwaltungsschriftgut müssen deshalb die jüdische Stiftungstätigkeit und deren geistlichen Hintergrund erhellen.395

Ganz abgesehen von der prekären Überlieferungs- und ungenügenden Forschungslage, werden Urteile über die Motive der Stifter durch die weite Verstreuung der Juden und ihr Leben unter den Einflüssen anderer Religionen erschwert; von einem einheitlichen Judentum kann nicht die Rede sein, sondern nur von der Vielfalt jüdischer Kulturen.396 Generalisierende Schlüsse aus partikularen Befunden sind hier also besonders problematisch. Einen geeigneten Ansatz zur Analyse des jüdischen Stiftungswesens zunächst in regionaler Beschränkung bietet das Nürnberger Memorbuch.397 Die Entstehung ist präzise, der Zweck annähernd genau zu bestimmen. Als Autor und (erster) Schreiber nennt sich Isaak, der Sohn Rabbi Samuels seligen Angedenkens, aus Meiningen. Er habe „dieses Gedenkbuch“ im Jahr 5057 jüdischer Zeit, also 1296/1297 u. Z., geschrieben, als die Nürnberger Gemeinde ein neues Gotteshaus bezog.398 Als Erbauer der Synagoge nennt Isaak den Mar Simson; nach dessen Tod seien die Gebäude „durch die Hilfe der Freigebigen und durch die Freigebigkeit der Edeln“ ausgeführt worden: „Die Namen dieser Spender aber sind in das Buch der Geliebten, welche im Staube schlafen, eingezeichnet worden.“399 Bei dem Codex, der als Sefer Sikaron („Buch der Erinnerung“) und Sefer Sichronot („Buch der Erinnerungen“) bezeichnet wird,400 handelte es sich also um ein Totenbuch. Obschon alle Glieder der Gemeinde, ohne dazu verpflichtet zu sein, angehalten waren, mit ihren Spenden die Synagoge, die Werke der Wohltätigkeit und das zugehörige Personal zu unterhalten, sind vor allem außerordentliche Geber eingetragen worden. So heißt es zum Beispiel: „R(abbi) Jechiel und seine Frau Rahel, Tochter R(abbi) Samuels, welche zwei Gesetzrollen und ein Machsor hinterließen, die Frauensynagoge und das Gemeindebad erbauten, 10 Mark zum Ankauf von Weizen für die Armen auf Pessach, 10 Mark für Lichter zu Sabbaten und Festtagen in der Synagoge, 10 Mark für Öl, um Licht in einem Glasgefäße während des ganzen Jahres zu brennen, 4 Mark für Lichter zu Sabbaten und Festtagen für die Armen, 3 Mäntelchen und noch andere Stiftungen vermachten.“401 Oder von späterer Hand: „Gott möge gedenken der Seele R(abbi) Samuels, Sohn des Märtyrers R(abbi) Nathan halevi, mit der Seele Abrahams, Isaks [sic] und Jakobs, weil er hinterlassen hat 200 Pfund für den Friedhof, 50 Pfund für das Hospital, ein Tallit [Gebetsmantel für die Morgenandacht], ein Sargenes [Totengewand] und 50 Pfund für den Jugendunterricht. Dieserhalb möge der Heilige, gelobt sei er, seine Seele ruhen lassen bei den anderen Frommen, welche im Paradiese weilen. Darauf sprechen wir: Amen!“402 Aber auch geringere Gaben wurden notiert.403 Bemerkenswert ist, dass Spenden zugunsten Dritter belegt sind.404 Für eine Gegengabe des Gebets durch die Gemeinde bietet die Handschrift ein Formular an: „Gott möge gedenken der Seele des N., Sohn des N., mit der Seele Abrahams, Isaks und Jakobs, weil er … für den Friedhof hinterlassen hat. Dieserhalb möge Gott seiner mit all den Frommen, welche im Paradiese weilen, gedenken. Amen!“405

Isaak von Meiningen, der seine Arbeit nur bis zu seinem baldigen Tod im August 1298 leisten konnte,406 griff bei den Toteneinträgen bis in die 1280er Jahre zurück, verband das Nekrolog aber mit einem Martyrolog; älteste Schichten dieses Märtyrerverzeichnisses bezogen sich auf die Pogrome des Ersten Kreuzzuges (1096). Isaaks Werk wurde von Nachfolgern über die Opfer der Verfolgungen in der Zeit der Großen Pest hinaus bis 1392 weitergeführt. Bei dem Codex handelt es sich also um ein Martyrolog-Nekrolog, wie es aus der christlichen Memoria bekannt ist; verglichen mit der lateinischen Überlieferung kann man es auch als eine Mischform von frühmittelalterlichem Gedenk- und hochmittelalterlichem Anniversarbuch bezeichnen.407 Mit dem erstgenannten Typ hat es gemein, dass das Buch mit Märtyrern (Heiligen) und gewöhnlichen Verstorbenen so gefüllt wurde, dass ein bestimmter Name nur schwer auffindbar und ein individuelles Gedenken auf seiner Grundlage kaum möglich war, mit dem anderen teilt es die Nennung des Spenders/Stifters mit seiner Gabe.408 Die Gattungsbezeichnung ‚Memorbuch‘ könnte auf diese Analogien (Liber memorialis) zurückgehen, sich aber auch auf den ‚Almemor‘ beziehen, auf dem in der Synagoge das Pult für die Toralesung stand; damit wäre zugleich der Ort bezeichnet, an dem sich das Gedenkbuch bei der Liturgie befand.409 Ein Seelengedächtnis war nach dem Nürnberger Buch für die Lehrer der Gemeinde, die Märtyrer und die Stifter mindestens an jedem Sabbat des Jahres vorgesehen, dazu kam eines an bestimmten Festtagen.410

Zur weiteren Annäherung an die Praxis hat man das Gebetbuch des Simcha von Vitry aus dem 12. Jahrhundert herangezogen.411 Nach den Morgengebeten und der Toralesung und vor ergänzenden Gebeten (mussaf) „gedenken wir“, wie Simcha schrieb, „der Verstorbenen, welche die Tora in Israel und die Rechtssatzungen vermehrt und die etwas für die Gemeinde gespendet haben, oder Personen, zu deren Wohl durch andere Personen Spenden geleistet wurden“; während die Torarolle noch auf dem Lesepult (bima) liege, würden die aufgelisteten Wohltäter rezitiert.412 Nach Simcha gab es ein weiteres Totengedenken bei der entsprechenden Liturgie des „Versöhnungstages“ (Yom Kippur), doch ist diesmal erwähnt, dass auch Lebende eingeschlossen und Almosen verteilt werden sollten.413 Nach dem Nürnberger Buch sollte das Totengebet (Yizkor)414 für die Wohltäter (der eigenen und anderer Gemeinden) folgendermaßen lauten: „Gott möge gedenken, wie er der Seele Abrahams, Isaks und Jakobs gedacht hat, der Seelen aller Gemeinden, welche sich um das Wohl der Gemeinden bemühet, geplante Verfolgungen vereitelt, die Aufhebung von Steuern erwirkt und Gesetzrollen aus unrechtmäßigem Besitz zurückgewonnen haben. Habe man ihretwegen eine fromme Spende gelobt oder nicht, ihrer Taten allein wegen möge Gott ihrer gedenken usw.“415

Obwohl keine Urkunden vorliegen – und vielleicht auch nie existiert haben –, die dies zum Ausdruck bringen könnten, darf man aus den Einträgen des Memorbuches folgern, dass bestimmte Nürnberger zugunsten der Gemeinde Stiftungen getätigt haben, um durch Gott die Seelenruhe mit den Erzvätern im Paradies zu finden. Die Ähnlichkeit mit der reichen Überlieferung der christlichen Mehrheitsgesellschaft könnte dafür sprechen, dass sie lateinischen Vorbildern folgten. Wie bei den Christen die Kirche war es hier die Gemeinde, die karitative oder allgemein fromme Stiftungen entgegennahm (dagegen fehlt im Islam, abgesehen von Ṣūfīkonventen, ein solcher Empfänger und Distributor der Erträge). In der Forschung ist aber gleichfalls auf die Eigenlogik der aschkenasischen Geschichte hingewiesen worden; die Ereignisse von 1096 hätten nämlich offenkundig die (dem Memorbuch vorausgehende, aber verlorene) Listenführung der jüdischen Opfer der Verfolgung veranlasst.416 In der Tat ist es plausibel, anzunehmen, dass analog zur Makkabäergeschichte die Ermordungen und Selbsttötungen der rheinischen Juden die Hoffnung auf ein ewiges Leben als Kompensation aktualisierten; besonders gilt dies wegen der zahlreich ‚geopferten‘ Kinder. Wie stark dieses Motiv bei der Bewältigung des Traumas wirkte, lässt sich an den hebräischen Berichten über die Pogrome ablesen.417 Wenn demnach das Gedenken gewöhnlicher Verstorbener demjenigen der Märtyrer gefolgt sein sollte, ergäbe sich hier eine weitere Parallele zur Entfaltung der christlichen Memoria.418

Es wäre indessen fahrlässig, daraus zu schließen, dass das jüdische liturgische Stiftergedenken unter den besonderen Bedingungen des Judentums im Rheinland an der Wende zum 12. Jahrhundert überhaupt erst entstanden sei.419 Listen von Wohltätern sind jedenfalls auch im Bestand der jüdischen Gemeinde von Fustat (Altkairo), also unter muslimischer Herrschaft, überliefert und sollen in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts zurückgehen.420 Diese Namenverzeichnisse waren, wie S. D. Goitein gezeigt hat, stark familiär geprägt und lassen den Stifter nach mehreren (oft sieben oder mehr) Generationen seiner Vorfahren und als Ahn seiner Nachkommen erscheinen. Als ‚Memoriallisten‘ dienten sie dazu, im öffentlichen Gemeindegottesdienst rezitiert zu werden; ein Besucher Ägyptens klagte noch im 16. Jahrhundert, die Verlesung nehme mehr als die Hälfte der Liturgie in Anspruch.421 Besondere Anlässe für die jüdische Memoria waren aktuelle Todesfälle oder der ‚Tag der Buße‘, an dem alle wohlhabenden Häuser ihrer Toten gedachten. Große Aufmerksamkeit wandte man bei diesen Gelegenheiten auf die Namen der (lebenden) Söhne, während Frauen in den Stammbäumen niemals genannt wurden. Zu Recht hat Goitein diese Gebete für die Wohltäter im synagogalen Gottesdienst als „Gelegenheit für ein intensives Ringen um sozialen Vorrang“ bezeichnet,422 während der Bezug aufs Jenseits, wenn überhaupt, nur mit blassen Worten hergestellt wurde.

Um 1200 ließ beispielsweise einer der Stifter seinen Namen mit fünf Ehrentiteln neben den Gebetstext schreiben und seine Förderung der Armen, Gelehrten, Synagogen und Schulen preisen; Fürbitten wünschte er sich konventionell für ein langes und glückliches Leben und weiteren Segen für die irdische und die jenseitige Welt, nachdrücklich dagegen die Vereinigung eines Vertreters der Kaufleute mit dem Sohn seiner Schwester.423 Ein anderes Dokument zeigt, wie stark selbst an der Totenbahre die Sorge um die Lebenden war. Eine vornehme, keusche und fromme Frau, deren Name nicht genannt wird, sei „zu ihrer ewigen Wohnung abgeschieden“; gleich schließen sich Segenswünsche für den jüngst verstorbenen Vater an, für einen in jungen Jahren dahingegangenen Onkel, für den Großvater, der Richter gewesen war, und für den Urgroßvater, eine Person von Stand. Dann wurde allen Trauernden „Leben, Wohlergehen, Ehre und all jener Trost“ gewünscht, der in den heiligen Schriften vorgesehen sei, besonders aber dem Ehemann und den beiden anwesenden Söhnen der Verstorbenen, einem dritten Sohn außerhalb der Stadt sowie weiteren namentlich genannten Verwandten. Am Schluss wird ein Segenswunsch für die Gemeinde und ihren Vorsteher ausgebracht.424

Im Unterschied zu Nürnberg bietet die Geniza von Fustat auch eine Reihe von Stiftungsakten, zum Teil als letztwillige Verfügungen.425 Die Stifter oder Stifterinnen haben hier aber, soweit erkennbar, niemals ihre Hoffnung auf das Paradies oder die Gebetshilfe der Gemeinde als Gegenleistung zum Ausdruck gebracht.426 Wertvolle Einsichten in die den Wohltätern zugeschriebenen Erwartungen bietet eine größere Anzahl von Bittbriefen, mit denen sich Arme, andere Bedürftige und Fremde an die Führer oder weitere Amtsträger der Juden wandten.427 Als Gegengabe für die erhoffte Hilfe wünschten die Bittsteller ihren Adressaten weit überwiegend ein gutes Leben im Diesseits, Schutz vor Ungemach, Erfolg und Wohlergehen, vor allem aber eine gesegnete Nachkommenschaft.428 Gelegentlich formulierte Heilswünsche könnten sich auf das Jenseits beziehen,429 aber nur selten wird dies wortreich und klar angesprochen. Dies ist etwa der Fall im Brief eines Mannes, der zusammen mit seinem Sohn nach Jerusalem gehen wollte. Adressat war der gabbai, der Almosensammler, Kohen R. Phineas, doch hatte sich der Pilger (oder Migrant) auch an den Richter Hananel, einen Verwandten des Moses Maimonides, gewandt. In dem Brief ging es um die rasche Übergabe der aufgebrachten Spenden, damit die Reise am nächsten Tag beginnen könne. „Lass mich nicht bis morgen warten, um abzureisen“, bat er: „Denn wisse, dass Dein Lohn in dieser und in der nächsten Welt sehr groß sein wird. Ich bete jederzeit für Deine Ehre; der Allmächtige möge Dich vor jedem Ungemach und vor Ungerechtigkeit bewahren und Dein Handeln in dieser und in der kommenden Welt belohnen; Dein Lohn seien Söhne, die die Tora studieren, wie ich, Dein Geliebter und Bewunderer, der für Deine Ehre betet, es Dir wünscht.“430 In einem anderen Schreiben wendet sich ein nach Fustat verschlagener Fremder an einen einflussreichen Wohltäter namens Maymūn; er hatte in Ägypten zwar eine (zweite) Frau genommen, sah sich in seinen Hoffnungen auf eine neue Existenz aber offenkundig enttäuscht und wollte deshalb mit dem Schiff zum Pessachfest nach Europa zurückkehren. Den Adressaten bat er sowohl um die Scheidung von seiner zurückbleibenden Frau als auch um eine Spendensammlung bei dessen Freunden. Wegen seiner Scham solle ihm die Hilfe verborgen zukommen: „Möge Gott Dich [dafür] vor dem Todesgericht und seinem Richterspruch und den Schlingen [der Hölle] bewahren (…). Ich hoffe, dass Du, mein Herr, mich nicht im Stich lässt und dass Gott mich in seiner Güte nicht vergisst (…). Möge er Dich nie in die Lage bringen, [selbst] auf Geschenke menschlicher Wesen angewiesen zu sein (…). Gott beschütze Deine Blumen [die Blüte Deiner Schüler oder Kinder] (…). Möge ich [einst] verdienen, Dein Angesicht zu schauen.“431

Wie man sieht, richteten sich die Hoffnungen der Juden von Fustat durchaus auch auf das Paradies, das jedenfalls einige von ihnen mit Hilfe guter Taten und Stiftungen zu erlangen hofften; doch steht das diesseitige Wohlergehen im Vordergrund. Soll man annehmen, dass sich der deutlichere Bezug auf das Fortleben nach dem Tod erübrigte, da die Schrift für gute Taten dieser Art ohnehin die Rettung vor dem (ewigen) Tod in Aussicht stellte? Heißt es denn nicht gleich zweimal in den Sprüchen Salomonis, dass „Mildtätigkeit (beziehungsweise ‚Gerechtigkeit‘: ṣedaqa) vor dem Tode bewahrt?“ (Spr 10, 2 und 11, 4)432 Oder soll man auf eine andere religiöse Haltung als im Nürnberger Judentum schließen?433 Immerhin gab es vor Ort auch eine Gemeinde der karaitischen Juden, die Gebete (zu Heiligen/Märtyrern und) für die Toten grundsätzlich ablehnten.434 Und soll man nicht im Auge behalten, dass die Juden überhaupt „Erlösung“, „salvation“, redemptio, yeshu’ah, soweit sie sich auf die Sündenschuld bezieht, eher als Ergebnis eigener Reue und Rückkehr zu Gott verstanden und keinen Menschen als Helfer, sondern nur Gott selbst als Erlöser betrachteten?435 Im Ganzen wurde das Jenseits in den Zeugnissen nur formelhaft angesprochen, so dass es die Phantasie der Gläubigen kaum nachhaltig beschäftigt und schon gar nicht deren Handeln in größerem Umfang bestimmt haben wird.436 Stiftungen für die Seelenruhe beziehungsweise das Seelenheil waren in den Gemeinden von Fustat nur ein Randphänomen.

Ein dritter Raum jüdischen Lebens, für den wenigstens einige neue Studien vorliegen, ist das von christlichen Herrschaften bestimmte Spanien. Robert I. Burns hat eine eindrucksvolle Reihe von urkundlichen jüdischen Verfügungen in lateinischer Sprache aus dem 13./14. Jahrhundert u. Z. behandelt und ediert, Judah D. Galinsky einschlägige Responsen spanischer Rabbiner untersucht.437 Aus den Zeugnissen ergibt sich der eindeutige Befund, dass Zustiftungen für den (karitativen) Gemeindefonds und selbstständige Stiftungen nach Art des muslimischen waqfs (oder, wie man in Spanien und im nördlichen Afrika sagte, ḥubs‘438) „für meine Seele“, „für den Nachlass meiner Sünden“ oder „in der Hoffnung auf das ewige Leben“ errichtet wurden. Als ein Kaufmann aus Valencia gefragt wurde, weshalb er seine Besitzungen der Wohlfahrt gewidmet und nicht seinem Sohn vererbt habe, gab er zur Antwort: „Er hat mich nicht gut behandelt und deshalb (…) möchte ich meinen Besitz als Buße für meine Seele (kofer le-nafshi) weggeben“; so schildert es Rabbi Solomon ben Abraham ibn Aderet („Rashba“), der zwischen 1265 und 1307 der Gemeinde in Barcelona diente, in einem Responsum.439 Sein Schüler Rabbi Isaak ben Abraham Ishbili („Ritva“, tätig bis ca. 1320), behandelt den Fall einer Frau aus Aŕevalo in Nordkastilien, die eine Stiftung zum Neubau einer Synagoge und für dort zu sprechende Gebete machte. Nachdem sie einige Geldsummen als Legate ausgegeben hatte, habe sie zu den Zeugen ihres Rechtsaktes gesagt: „Ich bestimme und schenke dem Himmel alle Häuser und oberen Stockwerke, in denen ich lebe und die ich nutze, zugunsten meiner Seele (le-toelet nishmati).“440

Aus der hoch in den Pyrenäen gelegenen Stadt Puigcerdá, die damals zum Königreich Mallorca gehörte und wo etwa ein Zehntel der Bevölkerung jüdischen Glaubens gewesen sein soll, ist eine Reihe von Notariatsbüchern erhalten geblieben, die auch jüdische Testamente oder letztwillige Verfügungen anderer Art bieten.441 Ein ‚Liber testamentorum‘ der beiden Notare Mateu d’Alb und Bernat Mauri umfasst genau ein Jahr, vom 24.6.1306 bis zum 24.6.1307, und überliefert unter vielem anderen vier jüdische Vermächtnisse; auffällig ist, dass drei davon durch Ehefrauen und Witwen veranlasst wurden und das vierte von einem Ehemann, der für seine Frau vorsorgte.442 Zwei Dokumente sind hier von Interesse. Am 23. Oktober 1306 verfügte Regina, die Witwe des Bondia, zunächst über ihre Bestattung, setzte verschiedene Legate aus und schrieb dann vor, dass „am Tage meines Todes 100 solidi als Wohltat für meine Seele ausgegeben werden“.443 Dieser Schenkung mit dem Zweck einer einmaligen karitativen Gabe fügte sie Legate für ihre beiden Töchter an und rückte dann eine Stiftung für ihr Seelenheil ein: „Ebenso vermache ich dem ‚Almosen‘ der Juden von Puigcerdá aus Liebe zu Gott und für meine Seele mein Bett mit allem Bettzeug und den Möbeln, die sich in der Schule der genannten Juden befinden.“444 Mit der elemosina könnten der karitative Gemeindefonds oder ein Armenhaus gemeint sein, doch ist hier der Bezug auf eine Schule (Bet Midrasch) hergestellt, die ebenso wie ein Spital mit Schlafgelegenheiten ausgestattet sein konnte.445 Nach dem anderen Zeugnis setzte die offenbar sterbenskranke Dame namens Gentil ihren Ehemann, den Juden Jakob Abraham Choen, zu ihrem Treuhänder und Testamentsvollstrecker ein; gleich am Beginn ihres umfangreichen Instruments bestimmte sie, dass ihm und allen später genannten Erben 100 Solidi ausgehändigt werden sollten, die diese innerhalb eines Jahres „für meine Seele verschenken oder verteilen“ sollten.446 Offenbar war hier wie beim Todestag der oben genannten Regina eher an Schenkungen als an Investitionen in eine Stiftung gedacht.

Anders verhält es sich mit einer Einrichtung, über die 1357 vor dem Gericht König Peters IV. von Aragón gestritten wurde. Abraham Mayl hatte der Gemeinde von Egea „aus Frömmigkeit und zur Erlösung seiner Seele und derjenigen seiner Verwandten“ für eine Knabenschule einige Häuser gegenüber der Synagoge sowie eine Reihe hebräischer Bücher vermacht.447 Seine Bedingung war gewesen, dass der Schulmeister oder Rabbi dort leben und die Schüler im Gesetz unterweisen sollte, ohne dass die Juden vor Ort die Stiftung ihrem Zweck entfremden dürften. Daran hatte man sich aber nicht gehalten, so dass der König die Gemeinde zur Achtung des Stifterwillens verpflichtete und andernfalls Gewaltmaßnahmen gegen sie androhte.448 Aus weiteren Dokumenten dieser Art erfährt man, dass Geld für die Aussteuer von jüdischen Mädchen und in gleicher Höhe für den Neukauf einer Tora aufgebracht wurde oder „aus Liebe zu Gott“ Öl für die Lampen in der Synagoge gekauft werden sollte.449 In einem Fall wird gar Gott selbst zum Universalerben erklärt und das verfügbare Kapital für arme Mädchen und Kinder bestimmt.450 An muslimische Stiftungen erinnern Verfügungen, die Güter dem Nießbrauch erbender Verwandter vorbehalten, nach deren kinderlosem Tod aber den Fall des ganzen Vermögens an die Fürsorge „zum Heil meiner Seele“ vorsehen.451

Kaum anders als südlich war es nördlich der Pyrenäen. Am 5. August 1305 formulierte Isaak Metge in Carcassonne todkrank „und in der Hoffnung auf ewiges Leben“ seinen letzten Willen, bei dem er seine Kinder und Kindeskinder bedachte, aber auch bestimmte, dass sein Erbe innerhalb von sechs Jahren nach seinem Hinscheiden der örtlichen Synagoge eine Krone für die Torarolle anfertigen lassen müsse.452 Eine andere Gabe an die jüdische Gemeinde von Carcassonne erläutert er ausführlicher: „Zum Nachlass meiner Sünden vermache ich jährlich einen Oxhoft (Fass von ca. 240 Litern) koscheren Weins“, der von seinem Erben an vier Terminen und zu je einem Viertel auszugeben war; genannt werden nur drei Tage, aber der lateinische Notar setzte teilweise für sie die Namen christlicher Feste ein und führte neben dem Laubhüttenfest (Sukkot) „das Herrenfest von Ostern“ und das „Beschneidungsfest des Herrn, das Hebräisch Rossana heißt“, an. Da Rosh Ha-Shanah das jüdische Neujahrsfest war, das in den Herbst fällt, wurde es offenbar mit dem Fest Circumcisio Domini identifiziert, das im christlichen Kalender von Carcassonne mit dem Jahresanfang am 1. Januar gefeiert wurde.453 Ungewöhnlich in jüdischen Verfügungen, aber sonst gut bekannt in christlichen oder muslimischen sind die Anordnungen des Asher von Lunel, eines Einwohners von Perpignan, von 1277 gewesen. Asher stiftete nämlich aus Liebe zu Gott für den Neubau einer Brücke in der Stadt, die keineswegs in der Nachbarschaft des jüdischen Quartiers lag, einen gewissen Betrag, er fühlte sich also für die Infrastruktur der Gesamtgemeinde mitverantwortlich. Andererseits sah er „zum Nachlass seiner Sünden“ 625 Solidi vor, die über zehn Jahre mit Teilbeträgen von 62,5 Solidi am Laubhüttenfest verteilt werden sollten, und zwar gewiss an arme Juden.454 Hier handelte es sich strikt gesprochen nicht um eine Stiftung, bei der die Erträge eines unantastbaren Vermögens aufgewandt werden, sondern um eine zeitlich gestreckte Schenkung.

Judah D. Galinsky ist darauf aufmerksam geworden, dass die jüdischen Stiftungen im christlichen Spanien beziehungsweise in Südfrankreich keine Gebetsauflagen zum Totengedenken aufweisen, wie sie in Aschkenas, etwa in Nürnberg, zu erschließen sind.455 Tatsächlich weiß man, dass sich hier die Praxis der liturgischen Totenmemoria vom sephardischen Judentum unterschieden hat. Nur in Aschkenas bildete sich der Rhythmus eines Totengedenkens an vier Tagen im Jahr aus, am Yom Kippur und an den drei Pilgerfesten. Das Totengebet des haskavah für die persönlichen Angehörigen scheint in den anderen jüdischen Kulturen erst dem Vorbild des aschkenasischen hazkaroth neshamoth gefolgt zu sein.456 Bezieht man im Hinblick auf die spanischen Urkunden noch ein, dass diese von christlichen Notaren in lateinischer Sprache und in Anlehnung an christliche Formeln und Motive verfasst wurden, dann liegt der Schluss nahe, dass wir es bei diesen Quellen mit dem Niederschlag christlicher Einflüsse zu tun haben.457 Handelt es sich deshalb bei den jüdischen Stiftungen und Schenkungen für das Seelenheil im christlichen Spanien und in Südfrankreich selbst um die unvollständige Rezeption christlicher Gewohnheiten? Dafür sprechen die kritischen Äußerungen jüdischer Gelehrter des 11./12. und 14. Jahrhunderts gegen die Erwartungen, die andere zugunsten der Toten an postmortale Gebetshilfe und gute Werke gehegt haben; sie scheinen die Abwehr eines als fremd empfundenen Brauchs zu manifestieren.

Trotz aller Einschränkungen, die angesichts des Forschungsstandes gemacht werden müssen, kann bei den jüdischen Stiftungen des Mittelalters, gemessen an den Überlieferungen aus Nürnberg, Altkairo und Spanien, keineswegs von einem Leitmotiv des Seelenheils die Rede sein. Dieses ist vielmehr offenbar nur okkasionell aufgetreten und war dann stark von christlichen Einflüssen geprägt.

Der Zoroastrismus und die drei Eingottreligionen Vorderasiens bilden also den Rahmen der ‚Stiftungen für das Seelenheil‘. Die persische und die monotheistischen Religionen drangen im Laufe der Zeit, wenn auch meist nur oberflächlich und in unterschiedlicher Intensität, nach Indien und China vor.458 Süd- und Ostasien waren aber in der Alten Welt vor allem von eigenen Religionen und ‚weltanschaulichen Systemen‘ geprägt, die ebenfalls durch die welthistorische Zäsur der ‚Achsenzeit‘ geprägt wurden.459 Es fragt sich, ob hier auch ein ähnlicher Typ von ‚Stiftungen für die Seele‘ oder ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ belegt werden kann. Wie ungewöhnlich es ist, vom Okzident aus einen solchen vergleichenden Blick auf Indien und China zu werfen, zeigt die kürzlich erschienene⁼Abhandlung von Helmut Feld (geb. 1936) über die Geschichte der Seele; der Autor beschränkt sich nämlich ganz auf eine traditionelle Sichtachse vom Alten Orient über Juden und Griechen, von Etruskern und Römern bis zu den Christen und der westlichen Moderne.460 Mit den Welten des Islams und Persiens blieben bei ihm Süd- und Ostasien mit ihren Religionen völlig unbeachtet, so dass seine generalisierenden Urteile stets durch den Defekt okzidentaler Befangenheit entwertet werden.

Die ‚Achsenzeit‘ wird für Indien mit den (ältesten) Upanischaden (ca. 7./6. bis ca. 4./3. Jahrhundert v. u. Z.)461 sowie dem Buddha (gest. um 420/350 v. u. Z.) als Stifter einer Religion belegt;462 diesem ist noch sein angeblicher Zeitgenosse und Gründer des Jainismus, Mahāvīra, zur Seite zu stellen.463 Für China wird aus etwa derselben Zeit neben Konfuzius (ca. 551–479 v. u. Z.)464 noch Laotse (Lao-tsu) genannt, doch hat dieser, dem Daodejing, das grundlegende Werk des philosophischen Daoismus, zugeschrieben wird, vielleicht gar nicht gelebt.465 In Indien ist neben Buddhismus und Jainismus noch der ältere Traditionen repräsentierende Brahmanismus/Hinduismus zu beachten.

Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte

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