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3. Freude – die kleine Schwester der Gnade

Tief im Westen gibt es eine fünfte Jahreszeit. Da sang in den Nachkriegsjahren Ernst Neger in Mainz ein altes Trostlied für Kinder, die sich wehgetan hatten. Es wurde der berühmteste Karnevalsschlager: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut. Es Kätzje hat e Schwänzje, es ist bald widder gut. Heile, heile Mausespeck, in hunnerd Jahr ist alles weg.«20 In einer Strophe erklärt der Sänger, wenn er jetzt mal der Herrgott wäre, würde er die zerstörte Stadt Mainz in den Arm nehmen: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut.«

Das Lied bietet Trost, weil es doch irgendwie gut wird, weil in hundert Jahren alles vorbei ist, auch das Schlimme. Es geht vorbei. Es währt nicht ewig. Nichts. Leider auch das Leben nicht, aber eben auch der Schmerz nicht.

Viele Jahre früher sitzen jüdische Männer und Frauen in einer vom Krieg zerstörten Stadt. Jerusalem liegt in Schutt und Asche. Notdürftig haben sie unter Nehemias Führung die Stadtmauer wieder aufgebaut. Viel Flickschusterei, mehr Lücke als Mauer. Jetzt kommen sie zusammen, und Esra, ihr Prediger, ergreift das Wort. Die Stimmung ist gedrückt, man sieht mehr Zerstörung als Aufbau, man fühlt mehr Kümmernisse als Freude, man hat ringsum mehr Feinde als Freunde. Und Esra sagt nicht: »Heile, heile Gänsje«. Er beschwört auch nicht die Vergänglichkeit als Trost. Esra ist nicht Ernst Neger, er ist ein in der Bibel verwurzelter Tröster und Seelsorger. Und er wagt etwas Ungeheures: Er redet von der Freude. Er verbietet geradezu die kümmerliche Stimmung. Raus, ihr Trauergeister! »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke« (Nehemia 8,10).

Thema Nr. 1 des geistlichen Trainings für lebendige und mündige Christenmenschen ist Freude. Zielpunkt Nr. 1 unserer inneren Veränderung ist Freude. »Weicht Ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, kommt herbei.«21 »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!« Darum geht es in der Nachfolge! Gott versorgt lebendige und mündige Christen mit einem Lebenselixier: der Freude!

Was wir von der Freude wissen sollten

Freude ist ein intensives, ein helles und starkes Empfinden, und zwar als innere Resonanz auf etwas Gutes, das uns widerfährt. Freude ist der Hüpfer, den unser Herz macht. Freude überrascht uns. Freude zieht die Mundwinkel und die Augenmuskeln nach oben. Freude ist ein Kribbeln im Bauch. Freude lässt die Sonne aufgehen.

Es ist völlig klar, es gibt tausend Gründe, sowohl für die Freude als auch für ihr Gegenstück, den Kummer. In der Regel denken wir hier zuerst an äußere und irdische Gründe. Und die sind keineswegs zu verachten: ein sonniger Tag nach vielen grauen vernebelten Wochen, eine Frühlingsblume, ein Sieg meiner Mannschaft, frische Brötchen mit Himbeermarmelade, große Dinge, eine bestandene Prüfung, die bevorstehende Hochzeit, die Geburt eines Kindes. Äußere und irdische Gründe: Wenn sie sich einstellen, freuen wir uns – und es ist recht so.

Daneben stehen immer auch die äußeren und irdischen Gründe für großen Kummer, für Sorge, Trauer, ein bedrücktes Inneres. Und die sind alles andere als harmlos: das Alleinsein, die Sorge um den Frieden, Krankheit, eine gefährdete Ehe, zu viel oder zu wenig Arbeit, die Angst vor dem, was kommen könnte. Unser innerer Pegelstand wandert rauf und runter, runter und rauf. Freude und Kummer, mal so, mal so. Das alles ist groß und stark, auch für Menschen, die Gott vertrauen.

Aber Nehemia und Esra sprechen nicht davon, wenn sie den Kummer vor die Tür weisen und der Freude die Tür öffnen. Es geht ihnen offenbar um eine andere Art der Freude. Diese Freude ist tief, stark, hell, leuchtend, warm. Und diese Freude scheint vor allem enorm unempfindlich zu sein, wie eine Super-Hardshell-Jacke, die Wasser und Wind abweist. Eine Freude, die nicht abhängig ist von den äußeren und irdischen Umständen. Eine Freude, die sich in uns so verwurzelt, dass sie unzerstörbar erscheint. Eine Freude, die vor Schmerz nicht kapituliert und in der Tiefe noch leuchtet. Die äußeren Umstände in Jerusalem gaben wenig Anlass zu solcher Freude. Und doch sagen Nehemia und Esra: Hört auf mit dem Kummer, Freude steht bereit, und sie macht euch stark. Hier möchte man gleich rufen und fragen: »Ja, liebe Leute, wie soll das denn gehen?« Manche haben es mit der Freude leichter, andere schwerer, ich bin bestenfalls im ersten Lehrjahr, wenn es um die Freude geht.

Aber das ist ja gerade das Originelle an Esras Rede! Uns wird hier etwas Ungewöhnliches angeboten: Es gibt für ganz normale Menschen eine solche widerständige, starke, bleibende und beständige Freude. Für die seelisch heller Gestimmten und für die seelisch dunkler Gestimmten: eine Freude, die zur Grundmelodie des ganzen Lebens wird, egal wie die Umstände aussehen. Nur: Wie soll das gehen?

Vorerst setzen Esra und Nehemia noch eins drauf. Sie reden ja im Modus der Anweisung: »Seid nicht bekümmert!« Sie gebieten, befehlen, ordnen an. Mancher ist der Ansicht, dass man Freude »nicht befehlen kann«. Doch die Bibel sieht das anders. Paulus schreibt den Philippern: »Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört! Ich sage es noch einmal: Freut euch!« (Philipper 4,4). Aufforderung, Modus: Imperativ!! Die angemessene Reaktion darauf finden wir bei einem kleinen Propheten, Habakuk, am Rand des Alten Testaments. Der sagt: »Ich will mich freuen des Herrn und fröhlich sein in Gott, meinem Heil. Denn der Herr ist meine Kraft« (Habakuk 3,18-19).

Es hat demnach auch etwas mit Entscheidung (»Ich will«) und Übung zu tun, ob ich mich freue oder nicht. Offenbar kann ich der Freude die Tür öffnen und den Kummer vor die Tür weisen. Offenbar kann ich das Leben so leben, dass Freude Raum findet. Das fängt schon bei den äußeren und irdischen Dingen an: Gehe ich achtlos mit Gottes kleinen und großen Geschenken um oder genieße ich aufmerksam, was er mir schenkt? Als Lehrling im ersten Lehrjahr der Freude habe ich mir angewöhnt, an jedem Tag in mein Tagebuch einen Satz zu schreiben: »Wofür ich heute danken kann …« Ich kann dem Empfinden eine Tür öffnen oder verschließen. Ich bin mir nicht willenlos ausgeliefert. Gott will mir einen Weg zu einer stabilen Freude zeigen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich finde das ungeheuer verlockend und bin zugleich ziemlich weit davon entfernt.

Warum die Freude am Herrn uns stark macht

Esra und Nehemia stellen uns diese Freude noch etwas näher vor: Es ist die Freude am Herrn. Paulus formuliert es so: »Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört.« Und Habakuk schreibt: »Ich will mich freuen des Herrn.« Es ist Gottes Freude. Darum geht es hier. Können wir uns Gott fröhlich vorstellen? Gott als das froheste Wesen im Universum? Gott sieht sich seine Schöpfung an und sagt nicht schwäbisch: »Isch scho recht«, also: »Wird seinen Zweck erfüllen.« Er redet göttlich, Freude schöner Götterfunken: »Es ist sehr gut.«

Jesus spricht mehrfach über die Freude im Himmel, wenn ein einziger Mensch umkehrt (vgl. Lukas 15,7+10). Wenn Sie sich Gott wieder zuwenden, dann jubelt der Himmel, dann macht Gottes Herz einen Satz. Sie sind Grund genug für göttliche Freude. Wenn Sie wieder einmal ankommen und im Himmel anklopfen, heißt es nicht: »Ach der schon wieder!«, sondern dann braust der himmlische Jubel auf. Freude!

Wie kommt nun solche Freude in unser Leben? Es ist als Erstes Freude über den Herrn. Damals in Jerusalem war bei einer Predigt von Esra etwas Bemerkenswertes geschehen, das dem Wort von der Freude eine ganz große Tiefe schenkt (vgl. Nehemia 8,1-12). Esra predigte klar und verständlich die Gebote Gottes und das Volk hörte zu. Das ist ein großes Wort darüber, wie es in der Gemeinde zugehen soll: »Die Ohren des ganzen Volkes waren dem Gesetzbuch zugekehrt.« Und dann? Nach Kurzem fing der Erste an zu schluchzen. Dann weinten sie auch in der vierten Reihe. Und nach einer gewissen Weile strömten die Tränen nur so. »Alles Volk weinte.«

Sie hörten aus der Bibel, wie ihr Leben sein könnte. Gott ehren und lieben. Keine anderen Götter. Einen Tag in der Woche der ewigen Plackerei entkommen und ausruhen. Ehen, die intakt sind. Kinder, die geliebt und umsorgt werden. Alte, die man nicht sich selbst überlässt. Keiner fürchtet um sein Eigentum. Geredet wird, was wahr ist, und das auch noch in Liebe. Fremde werden freundlich aufgenommen. Für die Armen fühlen sich alle zuständig. Dankbar lebt jeder mit dem, was ihm gegeben ist, und starrt nicht neidisch in Nachbars Garten. So sollte es sein, so könnte es sein, aber so ist es nicht. So weit sind sie weg von einem wahrhaftigen Leben. Es ist zum Heulen.

Was tun nun die Prediger? Rufen sie eine Fastenwoche aus? Diesmal nicht. Sie sagen: »Seid nicht bekümmert!« Freut euch vielmehr über den Herrn! Warum? Weil der Herr euch nicht verwirft. Weil er euch nicht verstößt. Er sieht eure Tränen und freut sich, wie sich nur Gott freuen kann, über eure Reue. Er vergibt und verzeiht. Schließt euch jetzt bloß nicht in euren Kummer ein. Freut euch über den Herrn, der euch vergibt. Das ist der erste Weg zur Freude: Das Volk hört und sieht den schmerzlichen Abstand zu dem, was es sein könnte, und staunt, denn Gott vergibt. Da wo wir tief in den Abgrund schauen, wartet nicht Kummer, sondern neue Freude.

Es ist als Zweites die Freude in der Nähe des Herrn. Diese Freude ist »eure Stärke«. Sie macht stark, belastbar, lebendig, mündig. Das Wort Stärke meint hier: eine Trutzburg, ein Schutz, ein Ort der Geborgenheit in großer Gefahr, ein Willkommen, wenn wir nirgends mehr hinkönnen. Stärke heißt nicht Muskelpakete, die mir plötzlich wachsen, sondern eine Schutzburg, in die ich immer fliehen kann, jederzeit, wo ich mich bergen kann und daheim bin. Hier bist du willkommen! Dann darf ich erleben: Egal wie meine irdischen und äußeren Umstände sind – die Freude am Herrn steht mir immer offen. Egal wie meine innere und seelische Verfasstheit ist – die Freude am Herrn birgt mich.

Ich muss hier an Paulus denken, der zusammen mit Silas in Philippi im Knast landete (vgl. Apostelgeschichte 16,23-40). Da hocken sie also in einem finsteren Loch und es ist höchst unsicher, ob sie wieder heil herauskommen. Sie sind misshandelt worden und liegen in Ketten. Und was tun sie in so schlimmen Umständen, was machen sie mit der Furcht, die in ihr Herz kriecht? Sie suchen den inneren Zufluchtsort auf, der ihnen offensteht, sie kehren ein in die Freude beim Herrn. Sie handeln absolut gegen alles Erwartbare: Sie beten und singen Loblieder. Nicht, weil sie so unbeeindruckt sind oder weil ihre Frömmigkeit ein olympisches Ausmaß erreicht, sondern weil der Herr in der Nähe ist und sie in die Freude kriechen wie unter einen Schutzmantel.

Ich glaube übrigens, dass Gott solche Erfahrungen gerade dann schenkt, wenn wir in die Verließe unseres Lebens geschickt werden. Ich vertraue darauf, dass wir gerade dann seine Nähe erleben werden. Das ist der zweite Weg zur Freude: in der Tiefe unter den Schutzmantel kriechen, weil der Herr nah ist. Hier sind Sie willkommen und in absoluter Sicherheit.

Und das Letzte: Es ist die Freude auf den Herrn. Wir gehen auf die ewige Freude zu. Dafür hat die Bibel das Bild einer langen Festtafel, an der wir sitzen und mit Jesus das neue Leben feiern werden. Darum haben die Menschen der Bibel immer wieder gemeinsam gefeiert, gegessen und getrunken. Esra und Nehemia sagen nicht nur: »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.« Sie sagen auch: »Deckt die Tische. Esst und trinkt und teilt mit denen, die nichts mitgebracht haben« (vgl. V.10) Das Geistliche wird hier ganz leiblich.

Alle Diätberater müssen jetzt sehr tapfer sein: fette Speisen, süße Getränke! Apfelkuchen! Mit Sahne! Extra-Käse auf der Pizza, bitte keine Cola light. Den alten guten Wein! Fasten? Nicht, wenn Gottes Volk feiert. Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Sonst schon. Aber nicht, wenn es gilt, gemeinsam Gott zu feiern und sich gemeinsam auf ihn zu freuen.

Wie öffne ich mein Leben einer Freude, die unabhängig ist von äußeren Umständen und seelischem Bauplan? Esra und Nehemia sagen: Freu dich über den Herrn, vielleicht unter Tränen, denn er vergibt so gern. Freu dich in der Nähe des Herrn, denn er ist wie eine Trutzburg, wenn dir das Leben übel mitspielt. Freu dich auf den Herrn und tu das jetzt schon! Iss und trink und feier, was kommt.

Wie schön wäre es, wenn wir Menschen würden, deren Frömmigkeit durch Freude bestimmt wird, und wenn unsere Gemeinden für die Freude berühmt würden, die hier lebt, an guten wie an schweren Tagen! Seid bitte nicht bekümmert, freut euch, »denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.«

Lebendig!

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