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2 Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil 2.1 Einleitung
ОглавлениеVor mehr als hundert Jahren beginnt Richard M. Meyer seine „Deutsche Stilistik“ mit folgenden Worten:
Die Stilistik wird insgemein als eine Art Geheimmittellehre aufgefaßt, die allerlei Kunstgriffe zur Erzielung ästhetischer Wirkungen an die Hand geben soll. Davon kann im Ernst nicht die Rede sein; vielmehr ist sie eine wissenschaftliche Disziplin, die als solche das Verständnis vorhandener Erscheinungen zu fördern und zu verbreiten sucht. In diesem Sinn behandeln wir die Stilistik in dem folgenden Abriß als ein System theoretischer Erkenntnisse, das sich selbstverständlich praktisch verwerten läßt, gerade wie die Grammatik (im Sprachunterricht) oder jede andere Wissenschaft. (Meyer 1913: 1)
Aktuell an diesen Worten ist einiges: der Status der Stilistik als Wissenschaft, die Systemhaftigkeit theoretischer Erkenntnisse, die praktische Verwertbarkeit von Einsichten in stilistische Regularitäten. Nicht mehr aktuell ist natürlich auch einiges: Von einer Geheimmittellehre spricht heutzutage niemand mehr. Statt um Kunstgriffe geht es heute um theoretisch fundierte methodische Instrumentarien. Und schlösse man sich der Auffassung Meyers an, dass die Stilistik letztlich nichts anderes sei „als eine vergleichende Syntax“ (ebd.: 3), bliebe das Blickfeld eingeengt auf ein Teilsystem des SprachsystemsSprachsystem als Stilmittelreservoir und der Blick versperrt auf den eigentlichen Stilbereich in seiner Bindung an und seiner Einbindung in die Kommunikation. Erstaunlicherweise gelingt es dem Autor dennoch, den Blick zu weiten und Stilistisches auch im Rahmen von „Gattungen“ wie ‚Essay‘, ‚Literarisches Porträt‘ und ‚Wissenschaftliche Darstellung‘ zu beschreiben.
Vor mehr als zehn Jahren beginnt die „Einführung in die Stilistik“ von Karl-Heinz Göttert und Oliver Jungen folgendermaßen:
Das hat Stil! Oder auch: Das hat keinen Stil! – erstaunlicherweise verstehen wir solche Aussagen bestens, ohne sagen zu können, was Stil eigentlich ist. Diese definitorische Verlegenheit stellt kein kleines Manko für die Stilistik dar. Eine Einführung in die Disziplin der Stilistik hat es da etwas einfacher, weil sie das Manko nur zu benennen, nicht zu beheben braucht. (Göttert/Jungen 2004: 13)
Kritikwürdig an diesen Ausführungen ist erstens, dass das Wort Stil in den angeführten Beispieläußerungen ein ästhetisches Werturteil zum Ausdruck bringt, im Sinne von ‚ästhetischÄsthetik/ästhetisch ansprechender Gestaltung‘ verwendet wird, während die Aufgabe der Stilistik darin besteht, den Grundbegriff Stil so zu bestimmen, dass damit die Vielfalt an Gestaltungsweisen mit neutralen Kennzeichnungen (Stil der Wissenschaft, Werbestil, Märchenstil, Stil Thomas Manns usw.) erfassbar wird. Kritikwürdig an den zitierten Worten ist zweitens die Annahme, dass Einführungen in eine Wissenschaftsdisziplin ohne eine Definition des jeweiligen Gegenstands auskommen können. Der Verzicht auf eine Definition hat zwangsläufig zur Folge, dass lediglich diffuse Vorstellungen vom Gegenstand entstehen, was wenig hilfreich und letztlich unwissenschaftlich ist. So nährt der Verzicht auf eine Stildefinition berechtigte Zweifel, ob die Stilistik überhaupt zu den Wissenschaftsdisziplinen gehört. Die Zweifel daran potenzieren sich, wenn anstelle des Bemühens, zu einer Stildefinition zu gelangen, spöttische Vergleiche angestellt werden, wenn Stil z.B. mit einem Fabelwesen wie dem Ungeheuer von Loch Ness verglichenVergleichen wird: „Man spricht davon, schreibt und hält Vorträge darüber, doch über etwas, was unsichtbar bleibt.“ (Dubois u.a. 1974: 24)
Dabei ist über Stil als Grundbegriff der Stilistik wahrlich schon viel gesprochen und geschrieben worden. Der Begriff bietet unerschöpflichen Diskussionsstoff. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stilrichtungen (Text-, Gesprächs-, Pragma-, Sozio-, Literatur-, Funktionalstilistik u.a.) und weitaus mehr Stilauffassungen, -konzepte und -definitionen. Selbst innerhalb einer Stilrichtung können verschiedene Sichtweisen zur Geltung kommen. So ist es im Rahmen der Textstilistik möglich, den Fokus auf pragmatischePragmatik/pragmatisch Aspekte des Stils zu richten: Stil wird als die Art und Weise des Vollzugs einer TexthandlungTexthandlung (z.B. ERZÄHLENERZÄHLEN/Erzählen, WERBENWERBEN, BEURKUNDENBEURKUNDEN) begriffen. Im Rahmen der Textstilistik ist es aber auch möglich, im Stil eines Textes ein mehr oder weniger komplexes kommunikatives Zeichen zu sehen, mit sprachlichen und nichtsprachlichen Komponenten, in monologischer oder dialogischer Form, mit individueller oder überindividueller Prägung, mit pragmatischer, sozialer oder ästhetischer BedeutungSemantik/semantisch, in poetischenPoetizität/poetisch oder nichtpoetischen Kommunikationszusammenhängen. Von dieser semiotischen Sichtweise (Stil als Zeichen in der Kommunikation) sind die stiltheoretischen Ausführungen im vorliegenden Buch getragen. Die Problematik vieler Stiltheorien resultiert aus einem Universalitätsanspruch bzw. aus der Verabsolutierung eines ganz bestimmten Aspekts. Eine semiotisch orientierte Textstilistik legt sich zwar auch fest, hat aber das Potential, die verschiedensten Aspekte unter einem Dach zusammenzuführen.
Bei dem hier vorzustellenden Stilkonzept gehen wir nicht von einer fertigen Stildefinition aus. Stattdessen werden Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil in der Art eines Puzzles aneinandergelegt und an Beispieltexten erläutert, um sie am Ende in einer Stildefinition zusammenzuführen. Strittiges bleibt weitestgehend ausgeblendet, doch auf eine Diskussion stiltheoretischer Fragen wird nicht gänzlich verzichtet, denn auch die Problematisierung von Positionen kann dazu beitragen, möglichst viel Klarheit über das Phänomen Stil zu gewinnen. In diesem zweiten Kapitel wird deshalb an das Ende eines Abschnitts gelegentlich ein Block mit der Überschrift „Diskussion“ gestellt, in dem Fragen, die sich aus dem Studium der Fachliteratur ergeben, erörtert oder offene Fragen, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht befriedigend beantworten lassen, formuliert werden.