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KAPITEL 5 Der Partyheld, der Klavier spielen konnte
ОглавлениеFrüher oder später trotzt jeder Sohn seinem Vater, streitet mit ihm, verlässt ihn, nur um zu ihm zurückzukehren und – wenn er Glück hat – sich bei ihm geborgener zu fühlen als zuvor.
Wann immer die Familie Bernstein bei Freunden mit einem Klavier eingeladen war, klimperte Lenny drauflos. Seine Liebe zur Musik war bald für alle erkennbar. Die Mutter zeigte sofort Verständnis für die erwachende Musikalität ihres Sohnes. Doch sie hatte im Hause Bernstein nicht viel zu sagen. Der autoritäre Vater hielt nichts von den musikalischen Anwandlungen Lennys: »Er war beunruhigt, er liebte mich, er wollte für mich nur das Beste«, erinnerte sich Lenny später, »Sicherheit für meinen Lebensweg war für ihn das Wichtigste. Ich sollte in sein – allmählich florierendes – Geschäft, die Bernstein Hair Company, eintreten oder wie unsere Vorfahren Rabbiner werden. Aber Musik? Vaters Vorstellungen von einem Berufsmusiker stammten noch aus dem russischen Ghetto; er hatte das Bild eines Klesmer vor Augen, der kaum mehr darstellte als einen Schnorrer, der mit einer Klarinette oder Violine von Stadt zu Stadt zog und für Almosen, ein paar Kopeken und ein kostenloses Essen, nächtelang auf Hochzeiten oder Bar Mizwas spielte. Er wollte nicht, dass sein Sohn ein Bettler würde.«
Eines Nachts wurde die Familie durch Lennys Klavier-Klimpern aufgeweckt: »Bist du meschugge? Es ist zwei Uhr früh«, schrie der Vater. Sein Sohn antwortete ihm: »Ich muss spielen, die Klänge sind in meinem Kopf und sie müssen hinaus.« Irgendwann kapitulierte Sam Bernstein und fand sich damit ab, dass der Bub jede freie Minute am Klavier verbrachte. Der Weg Lennys schien vorgezeichnet zu sein. Und auf dessen Bitten willigte Sam schließlich ein, ihm bei einer in der Nachbarschaft wohnenden Lehrerin Unterricht geben zu lassen. Für einen Dollar pro Stunde. Zwei Jahre lang kam die »dunkle, unglaublich attraktive und exotisch aussehende Frieda Karp« Woche für Woche zu den Bernsteins in die Wohnung und brachte Leonard Tonleitern und Stücke für Anfänger bei. Schon sehr bald beherrschte der übereifrige Schüler Melodien wie Mountain Belle oder On to Victory. Lenny lernte sehr schnell: »Es dauerte nicht lange, bis ich lauter und schneller spielte als Frieda Karp – ob auch besser, weiß ich nicht.« Nach weniger als einem Jahr musste die Klavierlehrerin schon Chopin- und Bach-Präludien mitbringen und bald darauf Chopin-Nocturnes. »Bei dem es-Dur Nocturne drehte ich regelrecht durch, und meine Mutter stand daneben und weinte.« Bald gab Frieda Karp unumwunden zu: »Der Junge ist talentiert – ich kann nicht mehr mit ihm mithalten …« Musste sie auch nicht. Heirat und Übersiedlung der Klavierpädagogin nach Kalifornien bereiteten dem Unterricht ein abruptes Ende. Mit geschickter Diplomatie erwirkte der Zwölfjährige bei seinem Vater die Erlaubnis, sich selbst nach einer Lehrerin umzusehen. Das dreimal so hohe Honorar für seinen Unterricht bei Miss Susan Williams wurde durch einen Kompromiss erzielt: Leonard verzichtete – bis auf 25 Cent – auf sein wöchentliches Taschengeld.
Bereits während der zweijährigen Ausbildung bei Miss Williams hatte Leonard Bernstein seinen ersten öffentlichen Auftritt: Am 30. März 1932 spielte er bei einem Schülerkonzert, das die Klavierlehrerin veranstaltete. Lenny, der Star, trat als Letzter der elf Eleven auf. Er spielte Cracovienne Fantastique von Paderewski, Tendre Aveu von Schütt und die g-Moll-Rhapsodie von Brahms. Allerdings mit zweifelhafter Technik: Die Susan-Williams-Methode bestand darin, die Finger so zu krümmen, dass die Fingerspitzen von oben nicht zu sehen waren.
Schon ein Jahr zuvor war der dreizehnjährige Leonard im Mittelpunkt gestanden. Bei seiner Bar-Mizwa-Feier an der Schwelle zum Erwachsenen hielt er eine brillante Rede. Englisch und Hebräisch. Jetzt war der Vater erstmals stolz auf seinen Sohn. Er schenkte ihm einen Flügel, der das inzwischen arg ramponierte Klavier von Tante Clara ablöste. Das kränkelnde Kind Lenny hatte sich längst zu einem attraktiven, selbstbewussten jungen Mann entwickelt. Im Sommer-Ferienlager gewann Lenny jedes Jahr den Hochsprung-Wettbewerb, als er auch die Medaille als bester Campteilnehmer überreicht bekam, empfand er »ein Maß an Stolz, wie ich es bei der Musik bisher nicht erlebt hatte. Plötzlich mit dem Erwachsenwerden oder Pubertät oder Sex, was auch immer das ist, wuchs ich heftig, ich wurde der größte Junge in der Straße, der schnellste Läufer, der beste Schwimmer und ich hatte eine Million Freundinnen. Ich war ein Partyheld – denn ich konnte Klavier spielen.«
Lennys rapide Fortschritte ließen ihn bald so sehr über das Können von Miss Williams hinauswachsen, dass sie selbst einen anderen Pädagogen empfahl. Sie schlug dem Vater vor, ihren hochbegabten Schüler dem besten Klavierlehrer Bostons, Heinrich Gebhard, vorspielen zu lassen. Der aus Deutschland stammende Gebhard verlangte allerdings 25 Dollar pro Stunde – für die Bernsteins eine astronomische Summe. Ähnlich stur wie sein Vater, überredete Lenny ihn, vorspielen zu dürfen. Maestro Gebhard erkannte die Musikalität des jungen Mannes, meinte aber, er müsse noch lange an der richtigen Technik des Klavierspiels feilen, und schlug vor, Lenny solle bei seiner Assistentin für bloß sechs Dollar pro Stunde Unterricht nehmen. Die junge Lehrerin Helen Coates stimmte zu und begann sofort mit dem Unterricht des hochbegabten Teenagers. Allerdings schienen sechs Dollar Stundenlohn für den Vater ein unüberwindliches Hindernis. Doch Leonard fand einen Ausweg: Er gönnte sich nur jede zweite Woche eine Klavierstunde. Er war kein bequemer Schüler, wie seine neue Lehrerin oft seufzend meinte. Zu systematischen technischen Übungen hatte Lenny nicht die geringste Lust. Doch Musikalität und Gedächtnis des Buben waren frappant: »Er konnte lesen, singen, memorieren – alles was ihm unter die Finger kam«, beschrieb die Musikpädagogin ihren hochbegabten, aber durch Eigenwillen auch höchst anstrengenden Schüler. Damals in Boston begann eine Jahrzehnte dauernde Verbundenheit Leonard Bernsteins mit Helen Coates. Fast ein Leben lang, mehr als fünfzig Jahre, sollte sie als persönliche Assistentin auch loyale und verlässliche Vertraute sein. Helen war Lenny so ergeben, dass sie ihm anfangs als seine Sekretärin verschwiegen hatte, die Schreibmaschine nicht bedienen zu können. Daher bezahlte sie aus eigener Tasche eine Sekretärin, die die Bernstein-Briefe schrieb. Und es störte sie auch nicht, dass sie der Maestro immer wieder hinausschmiss. Am nächsten Tag rief er an, es täte ihm leid, sie möge doch gleich wiederkommen.
Ned Rorem, später erfolgreicher Komponist, erinnerte sich, Ende der 1940er-Jahre eines Nachts Bernstein in Greenwich Village über den Weg gelaufen zu sein. Ned war betrunken und unternehmungslustig: »Wir fuhren in seine Wohnung. Als Helen Coates am nächsten Morgen hereinkam, fand sie uns beide in Lennys Bett. Doch das brachte sie überhaupt nicht aus der Fassung.« Sie bat sogar Freunde, nachdem diese morgens aufgestanden waren und Lenny noch schlief, um ihre Telefonnummer, falls der Maestro sie anrufen wolle. Jahrzehnte nach den ersten Klavierstunden bedankt sich Leonard Bernstein euphorisch bei Helen, seiner Vertrauten und Klavierlehrerin seiner Jugend: »Helen war die beste Lehrerin, die ich je hatte. Ich verdanke ihr diesen überwältigenden Drang, meine Ideen mit anderen zu teilen. Ich habe bei ihr gelernt, die tiefere Bedeutung meiner Arbeit zu erkennen und das Eindringen von Schönheit zu fördern.« Daher war es für Bernstein selbstverständlich, sein Buch Joy of Music Helen Coates mit »tiefer und liebevoller Wertschätzung für 15 selbstlose Jahre« zu widmen.
Eines Tages nahm der Vater seinen musikbegeisterten Sohn zu einem Klassikkonzert, einem Klavierabend des Komponisten Sergei Rachmaninow, mit. Ein Geschäftsfreund hatte Sam zwei Karten geschenkt. Lenny erinnerte sich später an den beeindruckenden Abend, den er als Vierzehnjähriger erlebte: »Das Programm war sehr anspruchsvoll mit einer schwer verständlichen späten Beethoven-Sonate. Mein Vater konnte mit dieser Musik überhaupt nichts anfangen, aber hielt bis zum Ende durch. Ich platzte fast vor Begeisterung.«
Bald brachte Lenny – sehr zur Freude des Vaters – das Geld für die Klavierstunden selbst auf. Zeitungen austragen wollte er nicht, so nutzte er das geliebte Piano als Einnahmequelle. Für einen Dollar pro Stunde gab der Klavierschüler selbst Unterricht: Kindern von Freunden und Nachbarn, sieben, acht Jahre alt. An den Wochenenden verdiente der Teenager wesentlich mehr. Mit zwei Freunden, einem Schlagzeuger und einem Saxophonisten, bildete er ein Jazz-Trio. Man spielte auf Hochzeiten und Geburtstagsfeiern. »Ich kam immer mit zwei Dollar nach Hause – zwei Dollar und wunden Fingern … das Klavier musste die fehlenden Klarinetten, Trompeten und Posaunen ersetzen … manchmal spielte ich auf Klavieren – das kann man sich gar nicht vorstellen – ohne Elfenbein auf den Tasten; da blieben die Finger einfach hängen und bluteten und taten wahnsinnig weh … mit Tremolos imitierte ich Streicher … durch die Band lernte ich auf einmal populäre und schwarze Musik kennen, wie ich sie im Radio noch nie gehört hatte … und das wurde zu einem Teil meines musikalischen Lebensstroms. Genauso wie Chopin und Tschaikowsky. Es war sehr anstrengend, aber gleichzeitig wunderschön, denn es machte mich unabhängig von meinem Vater.«
Mama Jennie, die als Kind den herumziehenden Klesmer-Musikern bis weit an die Stadtgrenze von Schepetowka nachgelaufen war, empfand für die Musikalität ihres Sohnes dankbare Gefühle, Erinnerungen an die alte Heimat tauchten auf. Die Mutter war immer auf seiner Seite, auch wenn es um Musik ging. Unweigerliche Streitereien mit ihrem Mann endeten immer wieder in ernsthaften Ehekrisen. Die ständigen Streitereien der Eltern am Frühstückstisch inspirierten Leonard später zu der Eröffnungsszene von Trouble in Tahiti, ein nur rund vierzig Minuten dauerndes Musikstück, in dem sich ein Ehepaar durch geistige Leere anödet und sich permanent beschimpft. Mama Jennie kompensierte ihre enttäuschte Liebe durch starke Gefühle für ihren Erstgeborenen. »Meine Mutter und mein Vater passten einfach nicht zusammen; jeder für sich war ein interessanter und netter Mensch, aber sie hätten einander niemals heiraten sollen … sie haben sich leider nie geliebt. Und mein Vater war ein zutiefst melancholischer Mensch, der sehr viel Liebe suchte und sie in seiner Ehe nicht fand. Wenn er sich ungeliebt fühlte, wurde er sehr böse – zu meiner Mutter, nicht zu den Kindern«, erinnerte sich Lennys Schwester Shirley später an Auseinandersetzungen in der vergifteten häuslichen Atmosphäre. »Er war ein manisch-depressiver Typ. Wenn er mit seinen Rabbinern gemeinsam den Sabbat feierte, tanzte und sang, war er ein ekstatischer Chasside. Aber er konnte auch ohne klaren Grund furchtbar schwermütig im Zimmer auf- und abgehen. Und das sprang auf Lennys Wesen über …«
Allmählich war sogar Sam Bernstein stolz auf seinen Sohn. Gemeinsam unternahmen sie eine Schiffsreise. Es gefiel Sam, dass sein Sohn auf der Karibik-Kreuzfahrt auf dem Flügel des Luxusdampfers im Ballsaal die Passagiere begeisterte: mit Schlagermelodien und musikalischen Rätseln. Die Zuhörer mussten erraten, ob ein Schlager von Bach oder Beethoven geschrieben worden war. Sams Freude darüber, einen solch begabten und unterhaltsamen Sohn zu haben, wuchs immer mehr. In den 1930er-Jahren gelang es dem cleveren Unternehmer sogar, die Musikalität Lennys mit seinem Geschäft zu kombinieren: Als Sponsor finanzierte er bei einem Bostoner Sender ein wöchentliches Radioprogramm: Avol präsentiert … Sam Bernstein war am – kurzlebigen – Erfolg der Avol-Laboratorien beteiligt. Der junge Mann, der die Werbesendung für Friseurprodukte Woche für Woche mit leichter Klassik am Klavier begleitete, war das spätere, weltweit gefeierte Musikgenie Leonard Bernstein.