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KAPITEL 8 Rachmaninow für Rehe
ОглавлениеEin großer Lehrer ist einer, der aus seinen Schülern Funken herausschlagen kann, Funken, an denen ihr Enthusiasmus für Musik, oder was immer sie studieren, schließlich Feuer fängt.
Der vielseitig aktive Harvard-Student Leonard Bernstein wurde Mitarbeiter des bereits 1866 gegründeten Kunst- und Literaturmagazins der Universität, für das auch Louis Begley, T. S. Eliot und Norman Mailer Texte geliefert haben. Lenny schrieb für The Harvard Advocate Musikkritiken. Sein erster veröffentlichter Beitrag war die Rezension eines Konzerts des Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Serge Koussevitzky, jenem Dirigenten, der für Bernstein ein wichtiger Förderer werden sollte – und eine Art Ersatzvater.
Der aus armen Verhältnissen stammende Russe Serge Alexandrowitsch Koussevitzky studierte in Moskau Musik. Durch die Heirat mit Natalia, der Tochter eines reichen Teehändlers, konnte er seinen Traum vom Dirigieren verwirklichen. 1908 gab er in Berlin sein Debüt als Dirigent. Zwei Jahre später mietete Koussevitzky einen alten Dampfer und gab mit einem von ihm zusammengestellten und finanzierten Orchester an 19 Orten entlang der Wolga Konzerte. Zu Beginn der 1920er-Jahre flüchtete Koussevitzky vor den Bolschewiken. Als Meilenstein der Musikgeschichte gilt seine Pariser Uraufführung der orchestrierten Fassung von Mussorgskis Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung, die Maurice Ravel im Auftrag Koussevitzkys geschaffen hatte. Bis 1949 leitete Serge Koussevitzky 25 Jahre lang das Boston Symphony Orchestra. Er entwickelte sich immer mehr zu einem schillernden Paradiesvogel des traditionsgebundenen amerikanischen Musiklebens. Ein exzentrischer Mensch und Musiker, der im Stil eines Grandseigneurs lebte.
Bereits 1937 gründete der fantasievolle Künstler Koussevitzky das Tanglewood Music Festival, das sich bald als größtes musikalisches Sommervergnügen Amerikas etablierte. Er erkannte den Wunsch, der Künstler und Publikum einte, während der heißen Sommermonate die schwülen Metropolen zu verlassen und auf dem Land zu musizieren. Tanglewood, von Boston und New York nur jeweils rund 250 Kilometer entfernt, schien ihm der ideale Platz zu sein. Auf einem parkähnlichen Gelände, das zwei alten Schwestern gehörte, die auf dem Höhepunkt der Großen Depression ihren großen Grund loswerden wollten. Als sich kein Käufer fand, schenkten sie die Liegenschaft dem Boston Symphony Orchestra – jetzt konnte dessen Musikdirektor Serge Koussevitzky die Idee des Sommerfestivals reifen lassen. Am Fuße der sanften Berkshire-Hügel ließ er zuerst ein Zelt aufstellen, bald folgte eine 5200 Plätze fassende – rund um das Orchester fächerartig angeordnete – Festspielhalle, die der finnische Architekt Eliel Saarinen 1938 erbaute. Das Orchester und ein Teil des Publikums hatten im shed, einem Verschlag, ein Dach über dem Kopf. Man saß auf lehmgestampftem Boden auf einfachen Holzstühlen. Das eigentliche Auditorium lag jedoch im Freien: Die Natur triumphierte über Parkett, Prunk und Plüsch.
Das Freiluftspektakel von Tanglewood entwickelte sich zum Wallfahrtsort amerikanischer Musikpilger. Die ungezwungene Atmosphäre lockte immer mehr Jazz- und Klassikfans in die Natur. Es galt in Boston und New York als chic, bei der künstlerischen Landpartie dabei zu sein. Vor dem Amphitheater klappte man mitgebrachte Sessel auseinander, Decken wurden ausgebreitet und Picknickkörbe geplündert: Als Ouvertüre gab es Sandwiches. Sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, begann das Natur-Musikerlebnis. Auch im angrenzenden Wald konnte man noch mithören. Rachmaninow für Rehe.
Der deutsche Pianist Justus Frantz hat sich Jahre später wie viele andere junge europäische Musiker auch von Tanglewood inspirieren lassen – für sein Schleswig-Holstein Musik Festival, das er 1986 gründen sollte. Eine ganze Region in Schleswig-Holstein wurde plötzlich Festivalgelände: Herrenhäuser und Schlösser, Kirchen und Reitställe öffneten für Frantz, seine internationalen Stars und talentierten jungen Musiker aus aller Welt ihre Tore. Bereits im Frühjahr 1972, während eines Urlaubs auf den Kanarischen Inseln, den ihm sein Manager Harry Kraut dringend empfohlen hatte, lernte der erschöpfte Leonard Bernstein Justus Frantz in einem Haus, das er gemeinsam mit dem Pianisten Christoph Eschenbach bewohnte, kennen. Lenny verliebte sich in die beiden jungen Musiker, vor allem in den 28-jährigen Justus.
Auch für Rudolf Buchbinder und sein Musikfest im niederösterreichischen Schloss Grafenegg, wo im Wolkenturm Jahr für Jahr Klang auf Kulisse trifft, war Tanglewood ein Vorbild. Für den Ausnahmepianisten Buchbinder war Bernstein »einer der größten Musiker des letzten Jahrhunderts. Was er geleistet hat – ich habe zum Beispiel sein Ravel-Klavierkonzert gehört –, ist wirklich keine Kleinigkeit. Er hat phänomenal gespielt und vom Klavier aus dirigiert. Und wenn er nur die West Side Story geschrieben hätte, wäre er auch schon in die Musikgeschichte eingegangen. Bernstein ist als Musiker unique. Es gibt keinen zweiten Dirigenten wie ihn. Und er hat hervorragend Klavier gespielt. Er war nicht einer der größten Pianisten – aber, wenn er sich mehr Zeit zum Üben genommen hätte, wäre er sicherlich noch besser geworden. Leonard Bernstein hat das Leben in all seinen Formen voll genossen. Ich erinnere mich, er hatte in seinem Sakko – links und rechts eingenäht – zwei längliche Taschen für je einen Flachmann, gefüllt mit Whisky: Ballantine’s.«
Zurück zu den Anfängen des Tanglewood-Festivals: Zehn Jahre nach der Gründung ließ sich der geschäftstüchtige Serge Koussevitzky etwas Spektakuläres einfallen: Der Maestro brach – wie mit dem RCA Victor-Musikkonzern vereinbart – mitten während der Egmont-Ouvertüre ab. Von dem Moment an, als die Bostoner Symphoniker aufgehört hatten zu spielen, ließ RCA Victor ihren neuen Plattenspieler weitermusizieren, eine riesige weiße Berkshire-Musiktruhe. Man merkte kaum einen Unterschied bei der Wiedergabe. Bis dahin hatten Grammophonapparate nur Tonschwingungen bis 8000 Herz. Der mächtige Plattenspieler triumphierte mit dem doppelten Tonumfang und kam dem Orchester sehr nahe. Die Fachwelt bestätigte diese musikalische Entwicklung. Koussevitzky verhalf dem Musikkonzern zu neuen Umsatzrekorden.
In diesem Jahr 1947 gab es für Maestro Serge auch ein privates Highlight: in Lenox, nicht weit von Tanglewood entfernt. Nach achtzehnjähriger Tätigkeit für Koussevitzky richtete die 46-jährige Sekretärin Olga Naumoff dem 73-Jährigen seine Hochzeit aus. Olga selbst war die Braut. Sie war die Nichte von Natalia, der zweiten Frau Sergeis, der Tochter des Teehändlers. Die Hochzeitsreise führte das Paar mit der Queen Elizabeth nach Europa.
Im Sommer 1940 kam Leonard Bernstein auf Empfehlung von Dimitri Mitropoulos und Fritz Reiner nach Tanglewood. Serge Koussevitzky, schon immer Förderer junger, begabter Musiker, war sofort vom Talent des aufstrebenden Virtuosen beeindruckt. Er lud Lenny ein, an einem Dirigentenkurs in der neu gegründeten Ferien-Musikschule teilzunehmen. Junge Solisten, Komponisten und Dirigenten hatten inmitten der hügeligen, entspannenden Landschaft die Möglichkeit, sechs Wochen lang mit großen Meistern zu studieren und von ihnen zu lernen. Bald gewann Bernstein durch seine offene Art Koussevitzkys Vertrauen und Sympathie. Er wurde sein Lieblingsschüler. Lenny durfte nun auch jenes Stück dirigieren, das er schon Jahre zuvor studiert hatte: ein noch unbekanntes, zeitgenössisches Werk seines Kompositionslehrers, Randall Thompsons Zweite Symphonie. Neben Lehrern wie Randall Thompson und dem Dirigenten Fritz Reiner unterrichtete auch Isabelle Vengerova den hochbegabten Lenny am Curtis Institute, einem »Treibhaus für Wunderkinder«. Sie war brillant, streng, resolut und galt als eine der großen Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Die Pianistin wurde in Wien bei Josef Dachs, bei dem auch Hugo Wolf studiert hatte, ausgebildet. Lenny nannte sie »beloved Tyranna«, geliebte Tyrannin. Der Unterricht war nicht immer friktionsfrei. Bei Mrs. Vengerova brauchte man als Schüler »Nerven aus Stahl, um ihre Klavierstunden zu überleben«, wie es der Pianist Gary Graffman in seinen Memoiren Ich sollte wirklich üben ausdrückte.
28 Jahre später – Graffman studierte inzwischen auch bei Rudolf Serkin und Vladimir Horowitz – sollten sich die beiden Vengerova-Gezeichneten bei einer legendären Schallplattenaufnahme der frühen 1960er-Jahre wiedertreffen: Mit Bernstein als Dirigent und den New Yorker Philharmonikern spielte Gary Graffman am 2. Mai 1960 Rachmaninows Klavierkonzert No. 2 und seine Rhapsodie über ein Thema von Paganini ein. Als sich Graffman viele Jahre später den Ringfinger seiner rechten Hand verletzte, begann er mit eisernem Willen, sein Repertoire an Fingersätzen neu zu entwickeln, um den verletzten Finger nicht gebrauchen zu müssen. Die geliebte Tyrannin Vengerova wäre wohl stolz auf ihren Schüler gewesen.
Zurück nach Tanglewood. In seiner prachtvollen Villa Seranak auf einem alles überblickenden Hügel oberhalb eines kleinen Sees hielt Koussevitzky acht Wochen lang vor und nach den Konzerten Hof. Die weiße Holzvilla, in den Bäumen versteckt, mit einer Reihe von Schaukelstühlen auf der Terrasse – wie im Marilyn Monroe/ Billy Wilder-Klassiker Some like it Hot – wurde schon bald sommerlicher Treffpunkt der Musikelite von Boston und New York. Noch heute können Besucher in der Villa Seranak Memorabilien des schillernden Tanglewood-Gründers bestaunen: Im ehemaligen Schlafzimmer ruhen im Schrank die eleganten Anzüge des Maestros, neben dem Hundewaschbecken im Entrée hängt der Strohhut, den der Maestro noch während seiner letzten Spaziergänge getragen hat.
Neben der nahen Mount Pleasant Church, heute eine beliebte Hochzeitslokation gutsituierter Amerikaner, fand Serge Koussevitzky seine letzte Ruhestätte. Erst im Alter von 65 Jahren hatte er zu unterrichten begonnen. Sehr bald schon hatte sich eine enge Freundschaft und Verbundenheit zwischen dem kinderlosen Koussevitzky und Lenushka, wie er Leonard warmherzig nannte, entwickelt. 1942 wurde Bernstein Assistent von Koussevitzky in Tanglewood und begann selbst zu unterrichten. Bis zu seinem letzten Konzert in Tanglewood am 19. August 1990, seinem Todesjahr, küsste Leonard Bernstein immer, bevor er das Podium betrat, seine Manschettenknöpfe, ein Geschenk von Serge Koussevitzky. Eine Erinnerung an »meinen großartigen Kussi«, ein Ritual des sentimentalen Lenny.
Jahrzehntelang wurde Bernstein von unerbittlichen Kritikern verfolgt, etwa von Claudia Cassidy von der Chicago Tribune. Sie hasste den »Emporkömmling«. Knapp vor Beginn eines Koussevitzky-Konzerts mit Tausenden in der Halle und fast 10 000 Zuhörern, die vor der offenen Rückwand auf der Wiese lagerten, erschien der Maestro – wie immer – in seinem eleganten Automobil, von der Anhöhe seiner Villa Seranak kommend, mit einer Entourage von Motorradfahrern. Sobald Serge Koussevitzky dem Wagen entstiegen war, ertönte ein Trompetensignal. Niemand durfte den Saal mehr betreten, alles wartete atemlos auf den Beginn des Konzerts. Doch einmal kam eine Dame zu spät, wollte noch hinein und wurde vom Ordner zurückgehalten. »Sind sie verrückt? Ich bin Claudia Cassidy von der Tribune«, brüllte sie. Stoisch erwiderte der Platzanweiser: »Mir völlig egal, ich ließe Sie nicht hinein, sogar wenn Sie Leonard Bernstein wären …« Die Kritiken Claudia Cassidys aus Chicago blieben über viele Jahre verletzend und voller Hass.