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KAPITEL 9 Gott sagte: Nimm Bernstein

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Ein erwachsener Mann steht auf dem Podium und fuchtelt mit den Armen herum: blödsinnig! Aber irgendetwas bringt mich dazu, es zu tun.

Nach dem Ende des Studiums zog Bernstein im Herbst 1942 nach New York und bezog eine winzige Ein-Zimmer-Wohnung im Souterrain. Acht Dollar Miete pro Woche. Um überleben zu können, gab er Klavierunterricht für einen Dollar pro Stunde und schuftete als Pianist in der Tanzschule der Carnegie Hall. Die Alternative war, zu verhungern oder das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Aaron Copland, ein enger Freund, den er schon während seines ersten Jahres in Harvard kennengelernt hatte, munterte den ungeduldigen Lenny immer wieder auf: »Erwarte bloß keine Wunder, lass den Kopf nicht hängen, wenn einmal eine Weile nichts passiert. So ist eben New York.« 37 Jahre später hielt Bernstein für Aaron Copland die Laudatio auf seiner Geburtstagsfeier und huldigte ihn als: »Mein Meister, mein Vorbild, mein Weiser, mein Therapeut, mein Führer, mein Berater, mein älterer Bruder, mein geliebter Freund.«

Von Copland und Koussevitzky – seinen musikalischen Vätern – ermuntert, komponierte Leonard Bernstein bald seine ersten Werke: die Sonata for Clarinet and Piano und Jeremiah, seine erste Symphonie, die auf einem Stoff aus dem Alten Testament basiert. Das Werk über den Propheten Jeremia hat Lenny seinem strenggläubigen Vater gewidmet. Die Symphonie mit biblischem Hintergrund ist aber auch eine Huldigung an den Jazz: »Der letzte Satz, nur für Piano und Schlagzeug geschrieben, überbopt jeden Be-Bop und überboogied jeden Boogie«, meint ein Nachschlagewerk über Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Vor seinem Rücktritt als Musikdirektor der Bostoner Symphoniker 1949 hatte Serge Koussevitzky seinen jungen Freund Lenushka sogar als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Doch der traditionsgebundene Vorstand einigte sich auf den sechzigjährigen französischen Dirigenten Charles Munch. Man glaubte damals, ein erst 31-Jähriger habe noch nicht die Erfahrung, die zur Führung eines der berühmtesten Orchester Amerikas erforderlich sei. Serge Koussevitzky litt unter dieser Entscheidung. Er war immer von der außerordentlichen Begabung Leonard Bernsteins überzeugt. Am 25. August 1943, zu seinem 25. Geburtstag, schenkte er Lenny sein liebstes Portraitfoto. Es zeigt den eleganten Maestro Koussevitzky in einem zweireihigen Nadelstreifanzug. Koussevitzky hatte es mit einer Widmung versehen: »To my very dear Lenushka with all my faith, hope and love.« »Er war so etwas wie ein Vaterersatz«, meinte Bernstein viele Jahre später, »er hatte selbst keine Kinder, und ich hatte einen Vater, den ich zwar sehr liebte, der mit Musik aber so gut wie nichts im Sinn hatte … «

Die für Leonard Bernstein von Dimitri Mitropoulos angestrebte Stelle als Zweiter Dirigent des Minneapolis Symphony Orchestra konnte aus Mangel an finanziellen Mitteln des Orchesters schon 1940 nicht realisiert werden. Da Lenny auch sonst nirgends als Dirigent beschäftigt wurde, begab er sich während des Sommers immer wieder unter die künstlerische Obhut Koussevitzkys. Sobald die Tanglewood-Sommermonate vorbei waren, hielt sich der entmutigte, ungeduldige Lenny in Boston als Begleiter von Tanzveranstaltungen – Five o’Clock Teas und Geburtstagsfeiern – über Wasser. Später arbeitete der junge Musiker in Manhattan für den Verlag Harms-Remick. Hier kam er mit Jazz-Giganten wie Coleman Hawkins und Earl »Fatha« Hines in Kontakt, allerdings nur, um ihre Noten zu kopieren. Aber bald durfte Lenny auch Schlager arrangieren – unter dem Pseudonym Lenny Amber. Für einen dieser Songs, Riobamba, er wurde1942 bei der Eröffnung des gleichnamigen New Yorker Clubs gesungen, erhielt er fünfzig Dollar Honorar.

Interpretiert wurde Lennys Song von einem späteren Giganten des Show Business, der zu dieser Zeit gerade seine Karriere als Nachtclub-Sänger begonnen hatte: Frank Sinatra. Im Riobamba gab es keine Bühne, der Sänger stand zwischen den Tischen direkt neben dem des Besitzers Louis »Lepke« Buchalter, jenes üblen Führers der kriminellen Vereinigung Murder, Inc., die während der 1930er- und 1940er-Jahre für Hunderte von Morden verantwortlich war. Dreimal pro Nacht musste Frankie Boy auftreten: »Er tauchte ein in den Kreis des Spotlights und sang mit seiner sanft-gebrochenen Stimme. Ein Zauber legte sich über die Tische und in den Augen der Frauen spiegelte sich selige Zufriedenheit«, berichtete das Life Magazine blumig.

Doch nach kaum drei Jahren wurde das Etablissement in der East 57th Street, a glitzy jewel box of a joint, das The Voice Sinatra eröffnet hatte, wieder geschlossen. Zu brutal dürften die Machenschaften seines Besitzers gewesen sein: Riobamba-Boss Buchalter ist der bisher einzige mächtige Angehörige des organisierten Verbrechens in den USA, der verurteilt und hingerichtet wurde. Der Gewerkschaftskriminelle, der der Kosher Nostra zugerechnet wurde, gilt in der Geschichte der amerikanischen Mafia als besonders skrupellos. Zweimal wurde sein wildes Leben in Hollywood verfilmt, einmal verkörperte Tony Curtis den Gangster-Boss von New York. Und auch in der ersten Staffel der Erfolgsserie Die Sopranos taucht der Mafioso Louis Buchalter auf.

In den Tagen rund um seinen 25. Geburtstag hatte Bernstein 1943 ein verlockendes Angebot erhalten. Er war gerade bei Serge Koussevitzky in seiner Villa in Tanglewood eingeladen, als er zu einer Besprechung mit Artur Rodzinski, einem der renommiertesten Dirigenten jener Zeit, in seine Sommerresidenz gebeten wurde, in die White Goat Farm, einen Bauernhof im nahen Stockbridge. Es wurde eine pittoreske Begegnung mit einem sonderbaren Menschen: Während der Sommermonate in Stockbridge mutierte der Musiker Rodzinski, der sich am liebsten zeitgenössischer Musik widmete, zum Bauern. Inmitten von Bienenstöcken, Kuh- und Ziegenherden beschäftigte er sich intensiv mit alternativen Ernährungsweisen. Bernstein wurde vom Hobbylandwirt – als Imker verkleidet – begrüßt. Mit einem Motorroller fuhren die beiden Herren zu einem Heuschober am äußersten Ende des Landguts. Hier erfuhr Lenny, dass Artur Rodzinski einen Assistenten suchte, der die Vorprüfung einlaufender Partituren von zeitgenössischen Werken übernehmen und geeignete aussuchen sollte. Vor allem habe er bei allen Proben dabei zu sein, um jederzeit für Musikdirektor Rodzinski oder einen Gastdirigenten einspringen zu können.

Lenny verbrachte mehrere Tage auf dem Bauernhof. Man sprach viel über Musik und Makrobiotik. Abends am Kamin sank der Gastgeber nach dem Essen in seinen Lederfauteuil, während Lenny ihm gegenüber auf dem Boden auf einem Fellteppich lümmelte. Rodzinskis Witwe Halina erinnerte sich später in ihrer Biografie Our Two Lives: »Die beiden unterhielten sich stundenlang, Artur wollte alles Mögliche wissen über seine Herkunft, seine Familie, seine Ausbildung. Artur fand es schade, dass ein so begabter junger Mann sich seinen Lebensunterhalt mit dem Kopieren von Noten verdienen musste …«

Das Ergebnis des Aufenthalts in der Sommerresidenz von Stockbridge war erfreulicher, als sich Bernstein hätte träumen lassen: Der in Wien ausgebildete neue Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker Artur Rodzinski holte ihn als Assistenten zu seinem Orchester. Der zu Skurrilitäten neigende Exzentriker – am Pult trug er immer einen geladenen Revolver in der Hosentasche – galt als einer der Größten seiner Zeit. Seine Entscheidung für den 25-jährigen Lenny erklärte er mit folgendem Bonmot: »Ich bin alle Dirigenten durchgegangen, die mir eingefallen sind, schließlich habe ich Gott gefragt, wen ich nehmen soll – und Gott hat gesagt: »Nimm Bernstein …«

Mit dem Antritt als stellvertretender Dirigent der New Yorker Philharmonics begann für Leonard Bernstein eine Folge glücklicher Ereignisse, die seinen triumphalen Aufstieg einleiteten. Am Ende der Saison gab Bernstein bereits ein Konzert mit den New Yorker Philharmonikern in der Carnegie Hall. Artur Rodzinski, der ihn zuvor noch nie dirigieren gehört hatte, war höchst beeindruckt von der vielseitigen Begabung seines jungen Assistenten.

Leonard Bernstein

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