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Vorspiel

Ich bin jeden Morgen beim Aufstehen überrascht, dass ich da bin und dass noch immer eine Welt um mich ist, die weitergeht. Ich glaube, ohne dieses Element der Überraschung könnte ich mir nicht die Begeisterung für Leben und Kunst bewahren, die ich empfinde.*

Leonard Bernstein – ein Magier der Musik. Arturo Toscanini bemerkte einmal: »In Bernsteins Konzerte gingen die Leute auch, wenn er der schlechteste Dirigent der Welt wäre.« Ein Ausnahmekünstler, der sowohl die europäische Musiktradition von Bach, Beethoven, Mozart, Mahler und Richard Strauss beherrschte als auch amerikanische Formen populärer Musik. Er war ein besessener Dirigent, Komponist, Pianist und Pädagoge und eine strahlende Persönlichkeit des Kulturlebens im 20. Jahrhundert. Er war ein unkonventionelles Universalgenie, voller Verve, Charisma und Enthusiasmus. All das hat er vor allem auch jungen Musikern vermittelt wie dem Dirigenten Gustavo Dudamel. Dieser meint: »Bernstein is still around. He never died …« Die Unterscheidung zwischen ernster und leichter Musik gab es für Leonard Bernstein nicht. Manche Klassikpuristen verstörte er mit Aussagen wie: »Man kann nicht das Wort gut benützen, um eine einzige Art von Musik zu beschreiben. Es gibt guten Bach u n d guten Bob Dylan.«

Hinter dem Ruhm, hinter seiner scheinbar lockeren Art zu leben, verbargen sich Stress, Spannung, Zerrissenheit und Konflikte seiner Sexualität. Bernstein führte ein Leben voller Leidenschaft, in dem aber auch Disziplin ihren Platz fand. Er war ein Verführer, wusste das und genoss es. Er brauchte, er suchte die menschliche Nähe und blieb – inmitten äußeren Trubels – immer ein Einsamer, trotz Ovationen, Kuss- und Umarmungsorgien. Es war ein wildes, unruhiges, oft trauriges Leben. Phasen exzessiver Lebensgier wechselten mit Zeiten tiefer Depression und Angst vor dem künstlerischen Versagen. Leonard Bernstein, der Kosmopolit, der charismatische Renaissancemensch, der durch ein ungeordnetes Privatleben taumelte, exzessiv feierte, bis zu hundert Carlton täglich rauchte und reichlich Ballantine’s Whisky trank. Immer wieder versuchte er, in Entwöhnungstherapien von Alkohol und Zigaretten loszukommen.

»Das Wunderbare am Dirigieren ist«, meinte er, »dass man dabei nicht raucht und Sauerstoff in rauen Mengen einatmet.« Wie konnte ein Mensch, der sich privat dem Leben hemmungslos hingab, so versunken in die Musik sein und so konzentriert seine Tätigkeit als Dirigent, Komponist, Pianist und Pädagoge ausüben? Eines der Rätsel im Leben des phänomenalen Leonard Bernstein …

Entspannung fand der Suchtmensch beim Schreiben von Gedichten, oder wenn er Kreuzworträtsel löste. In sechs verschiedenen Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Hebräisch, Spanisch. Oder bei einer Canastapartie mit Freunden. Egal wo: im Flugzeug, in Hotelhallen, Warteräumen – und sogar im Taxi, die Kartenhäufchen auf dem Schoß balancierend … Versuche der Entspannung für einen ewig Rastlosen.

Leonard Bernstein war ein Ausnahmekünstler, dessen musikalische Lebenslinie sich schon als Bub abzeichnete. Er gab schon Klavierstunden, obwohl er selbst noch Unterricht bekam. Er war ein Vollblutmusiker, ein Vermarktungsgenie, das auch die Klaviatur der Publicity – Herbert von Karajan ähnlich – brillant beherrschte. Beide Herren waren dem Medienzeitalter viele Jahre voraus.

Leonard Bernstein war der Euphorie fähig, aber auch der Zurückhaltung. Er gab hinter Umarmungen der Gesellschaft nur einen kleinen Teil seines Seelenlebens preis. Seine wilden, hemmungslosen Gesten haben viele Hörer und Kritiker irritiert. Sie stellten jedoch einen Teil seiner völligen Hingabe an die Musik dar. Er dirigierte immer, als sei er der Komponist, und zwar von Anfang an so extravagant und mit solch rauschhafter Begeisterung – voller kalkulierter Ekstase –, dass ihn manche des Exhibitionismus bezichtigten.

Das Time Magazine verdächtigte ihn, er fülle die Konzertsäle »mit Hilfe eines Sexappeals, den er von sich gibt wie ein exaltierter Zitteraal«. Seine Gegner – für Kritikerlegende Joachim Kaiser die »vereinigten Gehörlosen« – meinten, er inszeniere beim Dirigieren immer nur sich selbst. Er tanze auf dem Podium nur herum. Kritiker Joachim Kaiser sah es anders: »Bei Bernstein erlebt man ein Fluidum von Wahrheit und Leidenschaftlichkeit. Seine Unmittelbarkeit, seine dramatische Vergegenwärtigungskraft, ist das Gegenteil von bloßer Selbstdarstellung.«

Längst wurden Bücher und Dissertationen über das Leben Bernsteins verfasst. Wer sich in das Leben des Universalgenies vertiefen will, dem sei die Leonard Bernstein Biographie (Albrecht Knaus Verlag) von Humphrey Burton empfohlen. Diesem umfassenden Werk verdanke auch ich viele Informationen. Rund dreißig Jahre arbeitete der Brite Burton – Schriftsteller, Dozent an der Universität von Cambridge, BBC-Direktor und Regisseur klassischer Musikdokumentationen – an dem 800 Seiten starken Band.

Das vorliegende Buch über Leonard Bernstein, der 2018 seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, ist kein musikwissenschaftliches Werk. Accelerando und Adagio, Pizzicato und Presto, Staccato und Stringendo sind nicht die Bausteine dieses Bandes. Ich habe versucht, bunte Mosaiksteine aus dem Leben einer der prägendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen. Dabei brachten mir unter anderem in Gesprächen und Beiträgen Gundula Janowitz und Christa Ludwig, Kurt Rydl und Otto Schenk den Menschen und Musiker Leonard Bernstein näher.

Dieses Bernstein-Buch wurde auch zu einem Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts. Kaum eine Zeit hat die Geschichte der Menschheit so geprägt wie die Jahre zwischen 1900 und 1999, einem Jahrhundert der Kriege, des Holocaust und des Kommunismus, der Entdeckungen, der Massenkommunikation und des gesellschaftlichen Wandels.

Leonard Bernstein war ein Phänomen musikalischer, aber auch menschlicher Vielseitigkeit. Dieses Buch will auch die Geschichte des Humanisten und Idealisten Bernstein, der einen Teil seiner Gage Amnesty International und dem Kinderhilfswerk UNICEF spendete, erzählen.

Ich habe Leonard Bernstein immer wieder in Wien und Salzburg getroffen – und war beeindruckt von einem großen Musiker und einem ganz großen Menschen.

Michael Horowitz, Herbst 2017

* Sämtliche Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind, stammen von Leonard Bernstein.

Leonard Bernstein

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