Читать книгу Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh - Страница 10
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Der Anfang
Max’ Vater, Herrmann, wurde als jüngstes von vier Kindern geboren. Seine Mutter Magdalena war eine verarmte Adelige aus Pommern, die sich während eines Besuchs bei Verwandten im Ruhrgebiet unsterblich verliebt hatte.
Dass das Objekt ihrer Begierde kein Geld hatte, war der 18-jährigen Magdalena von Rasatz egal und somit verlor Deutschland in jenem Sommer nicht nur den ersten Weltkrieg, sondern Max’ Großmutter auch ihre Unschuld an Paul, einen Bergarbeiter, auf einer der zahlreichen Zechen in einem Kaff im Ruhrgebiet namens Schwarzhausen.
Ihre Hingabe an den stattlichen Paul Wilde hatte zur Folge, dass sie von ihrer Familie verstoßen und enterbt wurde. Letzteres fiel naturgemäß nicht weiter ins Gewicht. Der Adelsname wurde ihr entzogen und sie durfte nicht nach Pommern zurückkehren.
Schwanger mit dem ersten Sohn, Paul Wilde junior, sollte sie ihr Leben von da an bis zu ihrem Tod im Zechendorf verbringen.
Schwarzhausen war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Kaff mit 400 Seelen. Da man aber reichhaltige Braunkohlevorkommen fand, entstand im Jahr 1905 die stattliche Zeche. Ein majestätisches Bauwerk, das eher an den Buckingham Palace erinnerte als an eine Industrieanlage, wären da nicht die Fördertürme gewesen, die das Landschaftsbild beherrschten und die Macht der Ruhrkohle AG bezeugten.
Schwarzhausen, zehn Kilometer von Dortmund entfernt, jener Stadt aus Bier, Stahl und Schweiß, sollte das Zentrum von Max’ kindlichem Universum werden.
Doch zurück zu Magdalena von Rasatz, der früh geschwängerten Landpomeranze, die nun, statt sich mit Anstandsunterricht – hätte sie ihn bloß richtig verfolgt – und Französischlektionen zu verlustieren, die dreckigen Windeln ihres Erstgeborenen waschen musste.
Magdalena und Paul zogen in eine Drei-Zimmer-Wohnung in die Hauptstraße, schräg gegenüber der katholischen Kirche, die sie auch beflissen jeden Sonntag aufsuchten.
Magdalena, mit einem potenten Mann verheiratet, gebar zwei Jahre nach Pauls Geburt Zwillinge, die auf den Namen Ilse und Erich getauft wurden.
Ilse wurde zur lebenslangen Friedensstifterin der gesamten Familie, vermittelte zwischen Brüdern und Vater, Mutter und Vater, Schwiegertöchtern und Vater. »Um des lieben Friedens Willen!«, wie sie sich ausdrückte, blieb sie ein Leben lang dem Glauben der katholischen Kirche verhaftet, ohne den lieben Gott oder andere Autoritäten zu hinterfragen.
Ihr Bruder Erich, missmutig und schon als kleines Kind ständig nölend, bereitete der Familie nie viel Freude und arbeitete später für das Finanzamt.
Magdalena durchlief ihr freudloses Leben an der Seite ihres Mannes, der im wahrsten Sinne mit strenger Hand die Familie zusammenhielt. Dies machte er nur zu gerne deutlich, indem seine Faust nicht nur auf dem Tisch, sondern auch in den Gesichtern der geliebten Frau und Kinder landete. Er verbrachte sein Leben unter der Woche in den Stollen der Zeche und am Wochenende bei seinen Repräsentationspflichten in der Kirche und in der örtlichen Kneipe. Man besuchte die Verwandten in den anderen Dörfern und lebte am Leben vorbei, da man es nicht kannte.
Depressionen kamen und gingen, die Weimarer Republik hinterließ keine Spuren und Schwarzhausen schlief nach wie vor den Dornröschenschlaf.
1933 sollte sich alles ändern, wenn auch nicht für lange. Hitler kam an die Macht und 13 Jahre nach der Geburt der Zwillinge wurde Magdalena wieder schwanger. Gewollt war der Nachkömmling anfangs nicht. Ein Schicksal, das sich in der Familie über dreißig Jahre später wiederholen sollte.
Es war ein besonders heißer Sommer, Olympia hielt Berlin und Europa in Atem. Alle schwitzten, waren aber dennoch im Aufschwung und guter Hoffnung. Magdalena in der Hoffnung, bald von den überschüssigen zehn Kilo befreit zu werden, das deutsche Volk in der Hoffnung, den wirtschaftlichen Aufschwung unter der Führung Hitlers zu erleben.
Herrmann wurde am heißesten Tag des Jahres, am 18. August gegen 14 Uhr, in einer Wohnküche geboren. Magdalena überlebte die Geburt mit Hilfe der Hebamme nur knapp, verlor Unmengen Blut und machte die späte Schwangerschaft in ihrem Leben permanent dafür verantwortlich, dass sie ein paar Jahre später an Blutkrebs erkrankte, den sie jedoch überlebte.
Trotz aller widrigen Umstände verband sie eine tiefe Liebe zu ihrem neugeborenen Sohn, der hilflos und blutverschmiert in ihren Armen lag, instinktiv wissend, dass die Mutter der rettende Anker seines Lebens werden sollte.
Eine dörfliche Idylle, wäre da nicht der hauseigene Diktator gewesen. Was Paul sagte, galt ohne Widerrede und Diskussion und wer nicht parierte, bekam eins aufs Maul. Wer ihm nicht den Respekt zollte, den er glaubte zu verdienen, wurde kleingemacht oder ganz einfach aus seinem Bewusstsein verdammt.
Selbst später im hohen Alter, er war bereits über achtzig, halb blind und vegetierte seit zehn Jahren im Morgenrock auf der Couch bei Korn und Bier dahin, hatte er die Macht über seine Familie nicht verloren. Niemand wagte es, sich gegen den alten Haudegen durchzusetzen.
Niemand weinte ihm allerdings auch nur eine Träne nach, als er starb, selbst seine Gattin nach 54 Ehejahren nicht. Sie war nur froh, nicht mehr jeden Mittag um 12 Uhr das Essen auf den Tisch stellen zu müssen.
Eine Blase umgab die deutschen Dörfer in der Zeit nach Hitlers Machtergreifung. Das Radio war Bindeglied zwischen den Machthabern in Berlin und den Mikrokosmen der Dörfer. Es gab Nationalsozialisten im ganzen Staat und auch genug in Schwarzhausen. Man passte sich an und der Dorfjude wurde verschleppt.
Paul Wilde junior, der Erstgeborene, war damals gerade Anfang zwanzig. Er wurde Soldat und starb auch brav im Feld fürs Vaterland. Erst später sollte Max herausfinden, dass sein seliger Onkel Paul, dessen Bild bis zum Tode der Großmutter über ihrem Sofa hing, in der SS war und auch zu Hitlers Leibgarde gehörte. Das wurde allerdings beim Sonntagskaffee verschwiegen.
Es gibt allerdings einen Beweis für seine Mitgliedschaft bei Hitlers Paradesoldaten. Für einen Film der Nazi-Diva Zarah Leander brauchte man in einer Szene fünfzig Statistinnen, die im Hintergrund einen engelsgleichen Chor mimten. Da die Leander groß und breit war, fand man keine Damen, die sich eigneten, und so wurde kurzerhand eine Gruppe von SS-Soldaten aus Berlin nach Babelsberg abkommandiert, in wallende Kostüme gesteckt, mit blonden Perücken ausgestattet und drastisch geschminkt. Noch heute kann man, wenn man genau hinsieht, Paul in der zweiten Reihe ganz rechts außen stehen sehen, während Frau Leander musikalisch verspricht, dass sie weiß, dass ganz, ja wirklich, ganz bestimmt ein Wunder geschehen wird, auch in Schwarzhausen.
Dort war das Gefühl der Ohnmacht allgegenwärtig, wenn auch den meisten nicht bewusst. Man lebte sein Leben, wehrte sich nicht und hatte höchstens Angst vor dem Nachbarn, der Informationen, die nicht regimekonform waren, weitergeben konnte. Was scherten einen die verschwundenen Juden.
Die ersten Lebensjahre von Max’ Vater waren geprägt von der engen Beziehung zur Mutter und zur älteren Schwester. Als der Krieg begann und die Nahrung knapper wurde, wurde er im Alter von fünf Jahren in ein kleines Dorf auf dem Land bei Paderborn geschickt. Kinderlandverschickung! Ein Bauernhof wurde sein neues Zuhause und sollte es für einige Jahre bleiben. Verstört von der Trennung, verschloss er sich mehr und mehr seiner gesamten Umgebung.
Er mistete Ställe aus, ging morgens fünf Kilometer zur Schule und nachmittags wieder zurück, trug Sommer und Winter kurze Hosen und schlief mit dem verhassten Knecht in einer Kammer ohne Ofen. Der Höhepunkt seines einsamen Lebens im Exil, das vier Jahre dauern sollte, war der monatliche Besuch der Mutter, die auch gleichzeitig auszog, um zu hamstern, damit die Familie daheim etwas zu essen hatte.
Einmal im Jahr kam er für kurze Zeit nach Hause. Beim letzten Besuch im Herbst 1944 nur, um mitzuerleben, wie das elterliche Haus zerbombt wurde. Von da an gab es kein Zuhause für Herrmann mehr.
Selbst dreißig Jahre später sprach er den Namen des Dorfes bei Paderborn nicht aus und nahm bereitwillig große Umwege in Kauf, um nicht an dem Ort seiner einsamen Kinderjahre vorbeifahren zu müssen.
Ein gehemmter, schüchterner Junge von elf Jahren kehrte nach Kriegsende im Sommer 1945 in sein Heimatdorf zurück, besuchte das Gymnasium und sagte zu allem Ja und Amen, aus Angst, wieder von der Familie getrennt zu werden.