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Ad Absurdum

Max hatte im Laufe seines Lebens eine wunderbare Technik entwickelt, sich gegen alles zu schützen. Die Schneekönigin kam und legte einen Ring aus Eis um sein Herz und er fühlte nichts mehr.

Als er seinen Vater in Magdas Wohnung nach zwanzig Jahren wiedersah, funktionierte der Schneeköniginmechanismus wie immer hervorragend.

Herrmann starrte ihn fassungslos an. Das alte Gesicht vereiste, wurde hart und verschlossen. Nichts hatte sich geändert.

»Maximilian, ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.«

Max bemerkte, dass sich der Umschlag, den sein Vater sich in die Brusttasche gesteckt hatte, etwas wölbte. Offensichtlich war mehr als ein Dokument darin. »Ob da wohl das Testament drin ist?«, dachte er beiläufig.

Herrmann reichte Max seine Hand mit ausgestrecktem Arm entgegen. Max hasste diese ausgestreckte Hand, die nicht zu seinem Vater zu gehören schien, sondern die er wie einen Fremdkörper zwischen sich und andere stellte. Marie konnte er ohne weiteres in den Arm nehmen, aber bei Nikolas und Max kam dies einer Unmöglichkeit gleich. Wenn Nikolas wieder einmal aus einer Klinik oder von einer Sonderbeobachtung nach Hause kam, tätschelte Herrmann ihm kurz das Haar, als ob die Berührung seiner Haut ihm zu persönlich schien.

Max ignorierte die Hand. Sie war alt und faltig geworden, leblos.

Sie standen sich wie zwei Statuen aus Eis gegenüber. Max dachte, dass er wirklich dringend etwas zu trinken brauchte, um diese ganze Scheißsituation wegzuspülen. Hier stand er mit seinem Vater im Schlafzimmer seiner Tante, dabei sollte er doch auf einer Karibikinsel Bademode fotografieren, am Abend heftig Rum trinken und dann das Model vögeln. Die Situation war so absurd, dass er lachen musste.

Herrmann starrte ihn entgeistert an. Max schüttelte den Kopf: »Keine Angst, hat nichts mit dir zu tun«, log er, obwohl ja alles was mit ihm zu tun hatte.

»Was machst du denn hier?«

»Ich sortiere die Kleidung von Magda und Erich und werde sie morgen an die Kleiderkammer der Kirche weitergeben, es ist ja nichts beschädigt. Die Beerdigung ist übermorgen, die Leichen sind freigegeben. Sie werden in der Familiengruft beigesetzt.«

Falls er trauern sollte, so merkte man ihm nichts an. Herrmann gehörte zu der Sorte Menschen, die ihre Gefühle niemals zeigten, bis auf eine Ausnahme: unter Alkoholeinfluss.

Das einzige Mal, als er Max in den Arm nahm, war er so besoffen, dass es Max anwiderte. Bis heute konnte er seine Fahne riechen, seine glasigen Augen sehen, seine gestammelten Worte: »Komm doch mal her und gib deinem Vater einen Kuss«, hören und alles wand sich in ihm.

Bis zu seinem 21. Lebensjahr hatte er keinen Alkohol getrunken. Insofern war es gut, dass sein Vater ein funktionierender Alkoholiker war: Er bewahrte Max zumindest eine Zeit lang vor einem zu frühen Tod.

»Warum hat Nikolas das getan? Ist er durchgeknallt, hat er neue Medikamente bekommen?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Woher soll ich das wissen? Er wohnt nicht bei mir und ist schließlich ein erwachsener Mann.«

Max starrte seinen Vater fassungslos an, obwohl er dessen Reaktionen nur zu gut kannte. »Aber er wohnt doch im gleichen Haus wie du.«

»Was nicht bedeutet, dass ich weiß, was er treibt, oder verantwortlich für ihn bin, er hat sich von mir abgewandt und …«

Wütend entgegnete Max: »Er hat sich von dir abgewandt? Das ist ja wohl das Letzte. Wie kannst du nur so etwas behaupten, das stimmt doch so nicht. Du hast ihn allein gelassen, hast ihn verprügelt und dann ständig in Sanatorien und Psychoheime gesteckt.«

»Das geschah nur zu seinem und eurem Besten. Er war schließlich ein schwer erziehbares Kind und wurde ja später auch als Autist diagnostiziert. Was sollten deine Mutter und ich tun? Wir haben versucht, euch gleich zu behandeln und das Beste aus der Situation zu machen. Er hat sich von uns abgewandt, nicht wir uns von ihm.«

Max konnte nicht glauben, dass sein Vater sich selbst nach diesen Morden noch weiter belügen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er glaubte anscheinend wirklich, richtig gehandelt zu haben.

»Du bist immer noch ein selbstgefälliges Arschloch, daran hat sich wohl nichts geändert. Lieber die Kinder opfern, als sich selbst zu hinterfragen«, entgegnete er achselzuckend. Er verspürte keine Wut mehr, die Schneekönigin hatte ihn wieder fest im Griff.

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden. Wo bleibt dein Respekt vor mir?«, schnaubte Herrmann.

»Den Respekt musst du dir woanders holen, probier’ es mal bei deiner Tochter.« Max drehte sich um und ließ ihn stehen. Offensichtlich musste er sich weitere Informationen woanders besorgen. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Wohnung.

Er ging zurück zu Frau Weise, die noch immer in der Küche im Erdgeschoß saß, und reichte ihr den Schlüssel.

»Max, was ist los, du bist ja ganz weiß im Gesicht?«, fragte sie erschrocken.

»Ich habe meinen Vater oben getroffen. Ich melde mich morgen bei Ihnen, ich muss erstmal schlafen.«

Er verabschiedete sich und verließ das bleierne Totenhaus.

Der Himmel war inzwischen dunkelgrau geworden und das heranziehende Gewitter kündigte sich durch den ersten Donner an. Max lief die Hauptstraße hoch, gelangte zu seinem Wagen und fuhr zurück ins Dorf. Dort entdeckte er, wo früher ein Fachwerkhaus die alte Dorfkneipe beherbergt hatte, einen scheußlichen Betonklotz, in dem sich neben Arztpraxen und Büroräumen auch ein Hotel befand. Er ging hinein, mietete ein Zimmer, das an Unpersönlichkeit kaum zu überbieten war, packte seine Tasche aus und sah hinunter auf die Hauptverkehrskreuzung des Dorfes. Nur ein paar Spätzügler rannten noch herum, die Geschäfte hatten gerade geschlossen, es war nach 18 Uhr.

Er brauchte dringend etwas zu trinken. Er zog seine Jacke an, lieh sich an der Rezeption einen Regenschirm und steuerte auf die Kneipe, die gegenüber dem Haus seiner Tante lag, zu.

Der Name hatte sich wie so vieles nicht geändert. Roberts stand in altdeutscher Schrift, die Gemütlichkeit und ein gutes Bier versprach, über der Eingangstür. Hier hatten sie Familienfeiern, von der Kommunion über Taufen bis hin zum Leichenschmaus, erlebt. »Was soll’s?«, dachte er und ging hinein.

Der Geruch von Kneipen, so wie im Roberts, ist auf der ganzen Welt gleich. Es ist eine Mischung aus kaltem und warmen Rauch, Parfum, Schweiß, dummen Gesprächen, unerfüllten Lebenswünschen und Alkohol.

In der Kneipe hatte sich nichts geändert. An der Wand hingen die Glücksspielautomaten, dahinter ein altersschwacher Flipper, neben der Theke eine Sparbox der örtlichen Sparkasse.

Er ging an den Tresen. Frau Roberts stand wie damals mit einer dunkelbraun gefärbten und mit Haarspray gefestigten Hochsteckfrisur dahinter. Die Augenbrauen waren perfekt nachgezogen, der Mund leuchtend rot übermalt, die Falten waren tief eingegraben. Sie schaute ihn an und war keineswegs überrascht, ihn zu sehen, so schien es. Wahrscheinlich hatte sie genug in ihrem Leben in diesem Dorf mitbekommen.

»Was soll’s denn sein, Max, oder muss ich jetzt Herr Wilde zu dir sagen?«

»Max ist schon in Ordnung, Frau Roberts, aber ich heiße schon seit zwanzig Jahren Remark. Haben Sie was Kräftiges, einen Scotch auf Eis?«

Sie griff zur Flasche, schenkte einen Doppelten ein und schrieb den Betrag auf den eingetrockneten Bierdeckel.

»Da kann ich ja noch einiges trinken heute Abend, bei den Preisen«, versuchte Max zu witzeln. Sie zog die aufgemalte Augenbraue nach oben, nahm ihr Tablett und ging auf die andere Seite des Raumes, wo ein älterer Mann ein Bier und einen Korn bestellte. Ansonsten war es leer in der Kneipe, was Max nur recht war. Er hatte keine Lust, Menschen aus seiner Vergangenheit zu treffen, außerdem war ihm inzwischen bewusst, dass jeder hier im Dorf Bescheid wusste.

Frau Roberts kam zurück hinter den Tresen und zapfte das Bier.

»Seit wann bist du wieder da?«, fragte sie.

»Heute Morgen bin ich gelandet.«

»Und, hast du schon jemanden getroffen?«

»Oh ja, meinen Vater.«

Diesmal sah sie Max direkt an und zog nicht nur eine, sondern beide Brauen nach oben.

»Ich habe ihn zufällig in der Wohnung meiner Tante getroffen, als ich mir den Tatort anschauen wollte. Er war auch da, allerdings konnte er mir wie immer nichts erklären. Wissen Sie, wo Nikolas steckt? Auf welchem Revier ist er untergebracht oder wo ist das Untersuchungsgefängnis?«

»Sie haben ihn nach Lüdow gebracht, dort gibt es seit einiger Zeit ein UG, anscheinend wird er verhört. Dein Vater war gestern Abend hier und hat sich ordentlich die Kante gegeben und dann wird er ja gerne etwas gesprächiger. Er hat Nikolas aber noch nicht besucht und sich eher darüber ausgelassen, dass man ihn schon viel früher hätte einsperren sollen. Gegen 11 hat Renate ihn dann abgeholt. Laufen konnte er nicht mehr alleine.«

Sie stellte ihm einen weiteren zweifachen Whiskey vor die Nase, mit einem Ausdruck der professionellen Wirtin, die weiß, wann man einen Drink brauchte. Max kippte den Drink zu schnell, verschluckte sich an dem harten Zeug und verschüttete den Rest auf der Theke und seiner Hose. »Scheiße«, fluchte er und versuchte, zwischen dem Husten noch Luft zu holen.

Frau Roberts nahm ein Wischtuch, kam um den Tresen herum. Sie streute etwas Salz auf seinen Oberschenkel und drückte das feuchte Tuch darauf.

»Magda, wo bleibt mein Bier?«, rief der Gast am anderen Ende des Raumes.

Max schloss die Augen und merkte, wie er ganz plötzlich von innen nach außen vereiste. Es war wie eine plötzlich auftretende Lähmung, die ihn ergriff. Er konnte sich nicht bewegen, seine Kehle war wie zugeschnürt.

»Ich komme sofort, du siehst doch, dass wir hier einen kleinen Unfall hatten«, rief sie hinüber und presste das feuchte Tuch weiter auf Max’ Oberschenkel.

Um Max herum wuchs eine Mauer aus Stahl, er starrte auf die alte Frau, die ihm die Hose trockenrieb und hatte das Gefühl, dass die Schneekönigin Tausend Eisringe gleichzeitig um sein Herz und seinen Hals legen würde.

»Max, was ist mit dir, ist dir schlecht? Gott, Junge, du bist ja ganz blass geworden«, sagte die Wirtin, ihr Gesicht kam näher. Max sah, dass sich der Lippenstift in die kleinen Fältchen in ihren Mundwinkeln gegraben hatte. Bevor die Lähmung vollständig Besitz von seinem Körper ergriffen hatte, schaffte er es, einen Laut aus seiner Kehle zu bringen. Er versuchte, vom Barhocker zu steigen, schob ihre Hand, die immer noch auf seinem Oberschenkel war, weg und starrte sie an.

»Nichts, ich weiß nicht, vielleicht ist der Whiskey zu stark, entschuldigen Sie, ich brauche frische Luft«, stammelte er, legte einen Schein auf die Theke und taumelte aus der Kneipe.

Der Gast am anderen Ende des Raumes schüttelte den Kopf und sagte: »Genauso verrückt wie sein Bruder, die gehören beide eingesperrt!«

Es hatte inzwischen angefangen zu regnen und Max lief ohne den Schirm, den er in der Kneipe vergessen hatte, über die menschenleere Straße in Richtung Hotel. Der Nachtportier hatte seinen Dienst angefangen und las Zeitung. Als Max völlig durchnässt in der Lobby ankam, schaute der Mann kurz auf und schreckte förmlich zurück. Ein kurzer Blick auf die Titelseite genügte Max zur Erklärung. Nikolas starrte ihn aus leblosen Augen an. In roter Schrift zwei Wörter: Der Schlächter.

Max seufzte und schüttelte nur unwirsch den Kopf: »Nein, ich bin nicht Nikolas Wilde, sondern sein Bruder. Bitte sagen Sie dem Zimmerservice, er möchte mir die Karte heraufschicken und einen doppelten Scotch auf Eis.«

Der Portier reichte ihm den Schlüssel. Max drehte sich um und verschwand im Aufzug.

Katharsis. Drama einer Familie

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