Читать книгу Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh - Страница 16
Оглавление9
Nie allein
Man drückte Anna kurz nach der durch das Treppenputzen eingeleiteten Geburt ihre beiden verquollenen, eher nach Minigreisen aussehenden Babys in die kraftlosen Arme. Automatisch quäkten sie nach der mütterlichen Brust, die ihnen aber aufgrund einer schmerzvollen Brustwarzenentzündung nicht gereicht wurde.
Somit nahm die Schwester die Neugeborenen aus den warmen Armen der Mutter wieder weg, nicht ohne ihr zu versichern, dass besonders hässliche Babys zu besonders hübschen Kindern heranwachsen würden. Anna bezweifelte dies, drehte sich um, bekam eine Morphiumspritze nach der schweren Geburt und war für die nächsten Stunden außer Gefecht gesetzt. Treppenputzen, ob vom Arzt verordnet oder nicht, war ihr nach diesem Erlebnis für den Rest ihres Lebens zuwider.
Die Schwester mit dem schönen deutschen Namen Gisela hatte im Bezirkskrankenhaus schon viele Babys zur Welt gebracht. Schnurstracks und ohne viele Fisimatenten wusch sie die schreienden Bündel mit lauwarmem Wasser, gab ihnen die Flasche und steckte sie ins Bett auf die Säuglingsstation. Dann rief sie bei der frischgebackenen Großmutter Helene an, mit der sie die Grundschule besucht hatte. Während die Goldmarie mal wieder Omas Bluse mit Spinat vollkotzte, erfuhr Helene, dass Anna Zwillinge zur Welt gebracht hatte.
Sie seufzte. Man stelle sich das nur vor: das erste Kind, leider nur ein Mädchen, kotzte ständig alles wieder aus, war zudem alle Nase lang krank und jetzt auch noch Zwillinge. Immerhin waren es Jungen. Wie Anna das hingekriegt hatte, wusste der Himmel.
Nachdem Helene ihrem ungeliebten Schwiegersohn in seinem Büro in Duisburg mitgeteilt hatte, dass er Vater von zwei Söhnen geworden war, war ihre Laune nicht besser. Musste sie doch mit der nicht mittagsschlafenden, dafür aber quäkenden und spinatverschmierten Goldmarie durchs halbe Dorf ziehen, um bei der Post auf der Hauptstraße den öffentlichen Fernsprecher zu benutzen. Ein eigenes Telefon gab es im Hause Remark damals noch nicht.
Die ersten Jahre der Zwillinge waren ungetrübt.
Im Sommer spielten sie im Garten der Großeltern, badeten in der Zinkbadewanne, kuschelten mit der Mutter und ärgerten die Schwester. Sie klebten förmlich an ihrer Mutter, ihrer Göttin, die an Schönheit nur von der Elizabeth Taylor ähnlich sehenden Nachbarin Frau Stahlke übertroffen wurde. Diese bereitete auch noch Nutellabrote zu, die es zu Hause nicht gab, da der Vater diesen Süßkram untersagte.
Marianne Stahlke wohnte zwei Häuser weiter, hatte ebenfalls drei Kinder, eine Küche, deren Tapete mit italienischen Motiven verziert war, und sie konnte grandios Mirácoli, den letzten Schrei von Kraft, zubereiten. Leider hatte sie einen Gatten, der sie zu allen nötigen und unnötigen Anlässen vertrimmte.
Herrmann empfand die Familie Stahlke als nicht gesellschaftsfähig und grüßte das Ehepaar nur höflich von der anderen Straßenseite. Anna und die Zwillinge mochten diese Frau aufrichtig und verabscheuten ihren Mann zutiefst. Er schlug nicht nur sie, sondern auch seine Kinder. Außerdem stank er immer nach billigen Zigarillos, hatte verfärbte Zähne, ließ die Badezimmertür ständig offen, wenn er auf dem Klo saß, und schlürfte beim Mirácoli-Essen so laut, dass einem der Appetit verging.
Das Fernsehen spielte eine große Rolle für Max, sah er dort doch die unterschiedlichsten Leute, Länder und Lebensweisen. Vieles verstand er nicht, doch sah er Menschen in einer Stadt namens Paris, in der es nur Pferdekutschen gab und wo die Frauen noch lange Kleider trugen. Besonders ein Film namens Die Halskette beeindruckte ihn. Weder wusste er, dass es sich um eine Romanverfilmung von Maupassants Le Collier handelte, noch dass es ein Lehrstück in Sachen Moral war. Auch war ihm natürlich nicht bewusst, dass Maupassant ein Frauenvernascher und vor über hundert Jahren an Syphilis gestorben war. Das sollte er erst zehn Jahre später im Französischunterricht erfahren.
Ihn rührte die treppenputzende schöne Frau in diesem Film und somit avancierte er ungewollt zum Lieblingskind der gesamten Nachbarschaft. Über Nacht war sein Lieblingsspiel das Treppenputzen geworden. Er putzte und putzte, während Nikolas mit strengem Blick daneben saß. Die Hausfrauen der Nachbarschaft konnten sich gar nicht beruhigen, dass der hübsche blonde Max so gerne die Treppen säuberte.
Oft bekam er zehn oder zwanzig Pfennig für dieses Spiel, das mehr mit einem Theaterstück zu tun hatte als mit der korrekten Treppensäuberung. Die Zwillinge trugen den erstverdienten Lohn zur Bude. So hießen damals im Ruhrpott die Kioske, heute auch Trinkhallen genannt. An der Bude gab es an die fünfzig verschiedene Behälter mit Süßkram, dem wahren Objekt der Begierde. Schaumzucker-Erdbeeren, Gummischlangen, Kokosquadrate mit Schokolade überzogen, Geleehimbeeren, Liebesperlenketten, Duplos, Milkyways und Marsriegel. Nach heutigen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen das reinste Gift. Sie kauften alles, was das Putzgeld hergab, und stolzierten damit die Straße hinunter.
Nein, nicht die Goldmarie, sondern sie waren die wahren Pipi Langstrumpfs des Wemphofes, so der Name der Straße. Sie hatten Pipis Abenteuer – und es verwunderte sie nicht, dass ein Mensch so heißen konnte – im dörflichen Kino am Sonntagnachmittag gesehen. Die Zwillinge waren sehr beeindruckt von ihr, denn sie war stark, furchtlos und kaufte für alle Kinder im Dorf Köstlichkeiten aus dem herrlichen Süßigkeitenladen.
Zwar war eine Bude im Kohlenpott kein Süßwarengeschäft aus einem schwedischen Kinderfilm und auch das dörfliche Kino wurde zwei Jahre später zum Pampamkino, der ruhrpottlichen Variante eines Sexkinos, aber das scherte die Brüder nicht.
Da Pipi leider nicht in der Nachbarschaft, sondern in einem unbekannten Land namens Schweden wohnte, verteilten Max und Nikolas die Haribo-Erdbeeren und Milkyways an die Kinder aus der Straße, fühlten sich großartig und pinkelten dann mit zusammen Martin Stahlke von der Kirchhofsmauer auf den Bürgersteig. Unglücklicherweise kam Herrmann zu dem Zeitpunkt von der Arbeit und erwischte sie in flagranti.
Was den Zwillingen Spaß machte, brachte ihn auf die Palme. Hausarrest. Vorher gab es nach dem obligatorischen Satz: »Anna, hole mir den Riemen«, womit er meinte, dass sie ihm seinen Ledergürtel holen sollte, noch kräftig ein paar rote Striemen auf den Hintern.
Verheult krochen die Brüder unter den hämischen Blicken der Goldmarie, die immer brav aufs Klo ging und auch ansonsten keinen Unsinn machte, in ihr Zimmer, einander tröstend, dass sie nicht alleine waren, und heckten Pläne aus, wie sie bald gemeinsam vor ihrem unlustigen, riemenklatschenden Vater fliehen würden. Was Pipi konnte, das mussten sie auch schaffen!
Doch trotz Prügel mit dem Riemen, katholischen Glaubenssätzen und einem moralinsauren Vater waren die ersten Jahre ihres Lebens durchaus schön und nichts sollte darauf hinweisen, welch dunkles Schicksal Nikolas und Max erwarteten würde.