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Die zweite Trennung

Es war eine schlimme Nacht. Max lag auf der Couch im Wohnzimmer seiner Großmutter.

Am Morgen rief Helene Magda an, um zu erfahren, ob die Brüder den Nachmittag zusammenverbringen konnten. Das würde leider nicht gehen, denn sie, Magda und Erich, würden mit Nikolas in den Zoo fahren und wären schon fast aus der Tür raus. Aus Max’ Sehnsucht wurde Wut. Nikolas vermisste ihn also gar nicht.

Am frühen Abend durfte er Fernsehen gucken, ein Privileg, das Helene nur selten gewährte. Im ersten Programm lief eine Verfilmung des Märchens Die Schneekönigin.

Er starrte auf den Bildschirm und erfuhr zum ersten Mal die Geschichte von Kay, Gerda und der Königin im Eispalast. Ihm gefielen die Schneekönigin und ihr vereistes Reich, denn Kay schien nicht mehr zu fühlen, dass er eigentlich lieber mit Gerda zusammen war und nach Hause wollte. Die Splitter des Spiegels, der eine in seinem Herzen, der andere in seinem Auge, machten ihn still und unempfindsam.

Das erschien Max wie eine Lösung. Seine Wut wich einer Kälte, die sich wie ein Ring um seine Gefühle legte. So wie in Andersens Märchen, in dem die Glassplitter des Spiegels und die Schneekönigin das Herz des Knaben vereist hatten, fühlte er plötzlich nichts mehr.

Dass Gerda ihren Kay am Ende mit den heißen Tränen erlöste und aus dem kalten Paradies in die Realität zurückholte, erschien ihm nicht weiter wichtig oder erstrebenswert. An diesem Abend ging Max klaglos ins Bett und schlief traumlos bis zum nächsten Morgen.

Am Sonntagabend kam Anna allein. Wie immer, wenn sie dem dörflichen Mief entflohen war, erschien sie wie ein anderer Mensch. Sie leuchtete, sprudelte nur so vor Energie und all den neuen Eindrücken, die sie aus der großen Stadt mitbrachte. Sie erzählte von der Mauer, die durch die Stadt Berlin gezogen war und Familien trennte, vom großen Kaufhaus KaDeWe, vom Kudamm, Checkpoint Charlie und den Berlinern mit Schnauze.

Ein Klischee nach dem anderen füllte ihre Erzählungen. Max hörte kaum zu, während Helene mit zusammengepressten Lippen aus dem Fenster schaute. Anna war wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal einen Schulausflug gemacht hatte. Diese Situation sollte sich immer wiederholen, wenn sie von einer ihrer Reisen, die sie später alleine zweimal im Jahr unternehmen würde, zurückkehrte. Dass Max besonders schweigsam war, fiel ihr nicht weiter auf.

Kurz darauf packte Anna Max in den hellblauen Audi 60, hielt fünf Minuten später vor Magdas Haus gegenüber der Kirche, stieg aus und war bald mit Nikolas zurück. Sie trug ihn auf dem Arm, was sie eigentlich schon seit einiger Zeit nicht mehr getan hatte, da die Jungen ihr zu schwer geworden waren.

Sie setzte Nikolas auf den Beifahrersitz und stieg ins Auto. Er sagte kein Wort und starrte nur vor sich hin. Der vereiste Max saß auf der Rückbank. Schweigend fuhren sie die paar Minuten nach Hause.

Anna drehte sich zu Max: »Max, steig aus, mach das Garagentor auf und warte vor der Haustür.«

Er tat wie befohlen, wissend, dass etwas passiert sein musste, denn er hatte seine Mutter noch nie so verwirrt gesehen. Er wartete einige Minuten vor der Haustür, bis Anna mit Nikolas auf dem Arm kam. Noch immer hatte Nikolas kein Wort gesagt. Fragend schaute Max ihn an, doch sein Blick blieb unerwidert. Sie aßen kurz zu Abend, putzten sich die Zähne und mussten ins Bett, schließlich war am nächsten Tag Schule.

Die Brüder hatten ein so genanntes Stockbett. Max schlief oben, Nikolas unten. Es war ruhig im Zimmer, Max beugte sich nach unten und fragte endlich, was los sei, wie es bei der Tante und im Zoo gewesen war. Nikolas antwortete nicht, drehte sich zur Seite. Max war verstört, kletterte aus dem Bett, um seine Mutter zu fragen, ob etwas passiert sei. Sie beruhigte ihn und meinte, Nikolas hätte wohl etwas Fieber und bekäme eine Erkältung. Max wusste, dass sie log. Sie schickte ihn zurück ins Bett. Im Dunkeln kletterte er die Holzleiter hoch und erschrak. Nikolas lag in seinem Bett und schaute seinen Bruder mit großen Augen an. Max legte sich neben ihn und sofort klammerte sich Nikolas an ihn an und weinte. Max weinte mit, wusste nicht warum, und fühlte nur, dass irgendetwas Schlimmes passiert war und dass es nie mehr so sein würde wie früher. Irgendwann schliefen sie fest umschlungen und völlig erschöpft ein.

Am nächsten Morgen musste Max allein in die Schule. Nikolas hatte Fieber, erbrach sich. Anna meinte, er hätte einen grippalen Infekt, Max sollte nicht zu ihm und in den nächsten Tagen bei seiner Schwester schlafen. Am nächsten Tag hatte Max ebenfalls einen heißen Kopf und wollte nicht zur Schule. Anna sagte, er solle nicht so ein Theater machen, band ihm einen Schal um und schickte ihn in die Grundschule.

In der ersten Pause um 10 Uhr mussten alle raus auf den Schulhof, es war ein schöner Septembermorgen und die Kinder spielten Gummitwist an der Mauer, die an Magdas Garten grenzte. Alle schrien und redeten laut.

Plötzlich erschien Magda an der Mauer. »Seid ruhig, ihr Blagen, das ist ja nicht zum Aushalten«, keifte sie. Dann sah sie Max. Sie starrte ihn an, murmelte etwas und schon war sie verschwunden.

Nach einigen Tagen ging es Nikolas etwas besser, aber er verhielt sich seltsam. Er aß nicht, selbst den geschmorten Wirsing, sein Leibgericht, das es immer mittwochs gab, verschmähte er. Er wand sich in den abendlichen Kuschelminuten aus den Armen seiner Mutter und redete nur das Nötigste. Jede Nacht kletterte er zu Max ins Bett, weinte, sagte aber kein Wort.

Max wusste nicht, was er tun sollte, lag bei seinem Bruder, bis er einschlief, und hielt ihn nur fest. Nikolas wachte oft in der Nacht auf und fing an zu schlafwandeln.

Nach einigen Wochen hatte er ein paar Kilo abgenommen. Herrmanns Strafpredigten und die Pflege seiner Mutter konnten ihn nicht aus seiner Sprachlosigkeit erlösen. Selbst als der Vater den Gürtel aus seiner Hose zog und Nikolas zum Reden prügeln wollte, erreichte er nichts damit. Nikolas starrte apathisch vor sich hin.

An einem windigen Freitagnachmittag Anfang November ging Anna mit den Zwillingen über die Brücke ins Dorf. Im ersten Haus auf der linken Seite hatte Dr. Betrail seine Praxis. Nikolas musste sich auf den Behandlungstisch legen. Der Arzt drückte mit großen Händen auf seinem Bauch herum und stellte Fragen, die Max nicht verstand. Dann erklärte er, dass Nikolas eine Blindarmentzündung hätte und ins Krankenhaus müsste. Der Arzt flüsterte Anna etwas zu und sie verließ mit Max den Raum. Nach einigen Minuten wurden sie wieder hereingerufen. Nikolas starrte den Mann im weißen Kittel entsetzt an.

Am nächsten Tag brachte Anna ihn ins Bezirkskrankenhaus. Sie konnte nicht bei ihm bleiben, denn das war gegen die Vorschriften. Drei Tage später besuchte sie ihn. Nikolas sprach kein Wort und weinte auch nicht. Er lag regungslos im Bett. Nach zwei Wochen wurde er mit einer großen Narbe am Bauch entlassen.

Tags darauf hörte Max seine Eltern im Schlafzimmer reden. Er presste sein Ohr an die Tür, als er seinen Namen hörte. Anna weinte, Herrmann sprach in kaltem Ton von schwer erziehbaren Kindern, die Probleme machten, und dass er mit seinem Latein am Ende wäre. Er habe heute mit Erich und Magda gesprochen und die hätten ihm geraten, Nikolas in ein Kinderheim zu schicken, damit er wieder richtig essen würde und nicht so bockig wäre. Max’ Hals wurde trocken. In fünf Wochen war Weihnachten.

Unvermittelt riss Herrmann die Tür auf. »Was erdreistest du dich und lauscht hier an der Wand? Dir werd ich zeigen, wer hier der Herr im Haus ist. Eine Unverschämtheit!« Und schon hatte er den Gürtel aus seiner Hose gezogen und schlug auf Max ein, der in sein Zimmer floh.

Herrmann folgte ihm Wut schnaubend, ein bebender Fleischberg von 120 Kilo, das Gesicht rot vor Wut. Marie und Nikolas sahen die beiden kommen und fingen ebenfalls an zu schreien. Marie hing sich an den Arm ihres Vaters, um ihn davon abzubringen, Max weiter zu verprügeln, Nikolas schrie und zog sich in die Ecke des Zimmers zurück.

Anna schaffte es schließlich, Herrmann zu beruhigen. Marie und Max wurden leise, nur Nikolas stand in seiner Ecke und schrie. Er schrie, ohne Luft zu holen und lief blau an. Seine Augen verdrehten sich nach oben, so dass fast nur das Weiße zu sehen war. Kurzerhand schnappte sich Herrmann seinen schreienden Sohn, ging ins Bad und stellten den Schlauch der Dusche an. Eiskaltes Wasser spritzte zu allen Seiten und er hielt Nikolas’ Kopf in den Wasserstrahl. Max starrte die beiden an, Nikolas bekam einen Schock, verschluckte sich, fing an zu husten und hörte auf zu schreien.

Laut schnaufend stellte Herrmann Nikolas hin, drehte den Wasserhahn zu und schaute Anna an: »Magda hatte Recht. Das wirkt und wir hätten es schon viel früher machen sollen! Morgen meldest du beide Jungs für das Kinderheim an. Es reicht mir.«

Drei Tage später brachte Anna die Zwillinge im wilden Schneegestöber des ersten Wintereinbruchs in ein katholisches Kinderheim, wo sie vier Wochen von Nonnen zum Essen und zur Gehorsamkeit erzogen wurden. Sie mussten die Betten selber machen, morgens um fünf aufstehen, Haferschleim und Joghurt essen. An den Nachmittagen wurde gebastelt. Nikolas war immer an Max’ Seite, sprach aber nach wie vor nicht. Max gewöhnte sich daran.

Am 22. Dezember war die Zeit im Heim vorbei. Anna holte ihre Söhne am Busbahnhof in Lüdow wieder ab. Sie kam eine halbe Stunde zu spät und erklärte, dass der Schnee und die Straßenverhältnisse daran Schuld hätten. Max wusste es jedoch besser. Sie stiegen ins Auto und fuhren zurück ins Dorf. Es schneite, Anna konnte nur sehr langsam fahren. Während der Fahrt, die vielleicht eine halbe Stunde dauerte, schaute Anna die Jungen immer wieder an und beteuerte, wie froh sie sei, dass beide wieder zu Hause seien. Sie glaubten es ihr nicht.

Zu Hause angekommen, lief ein dick vermummtes Mädchen auf sie zu, völlig mit Schnee bedeckt. Marie drückte erst Max und wandte sich dann zu Nikolas. Er schaute sie an, sagte kein Wort, drehte sich um und ging zur Haustür.

Er hatte seit dem Besuch bei Magda kein Wort gesprochen. Er würde für eine sehr lange Zeit nicht mehr sprechen.

Katharsis. Drama einer Familie

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