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Die erste Trennung
Paul Wilde senior hatte beschlossen, dass er ein alter Mann sei, zog den Anzug aus und den Morgenmantel an. Er war 71 Jahre alt.
Danach verließ er die Wohnung nie wieder und tyrannisierte alle, die zu Besuch kamen. Er trank Weinbrand und Bier und entgegen aller guten Ratschläge rauchte er ständig Zigarren. Kam man in die kleine Wohnung der Großeltern, wäre eine Gasmaske durchaus angebracht gewesen, aber Anfang der siebziger Jahre gab es den Begriff passives Rauchen noch nicht und somit war der blaue Dunst, der die Wohnung erfüllte, ganz normal. Der Großvater hatte gelbe Finger, seine Lunge rasselte beim Atemholen und er schlug laut mit dem Löffel gegen den Tellerrand, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand.
Da er nach einer Operation einen künstlichen Darmausgang hatte, aber nicht jeden Tag von einer professionellen Hilfe versorgt werden wollte, musste Herrmann neben den Einkäufen und den sonntäglichen verräucherten Kaffeebesuchen auch zweimal in der Woche nach der Arbeit die Windeln seines alten Vaters wechseln. War er beruflich verhindert, wurde Anna diese zweifelhafte Ehre zuteil.
Oft endete diese Aktion in lautstarken Beschimpfungen gegen Anna, diese in seinen Augen nichtsnutzige junge Frau. Alle anderen Verwandten hatten sich wohlweislich aus diesen Pflichten herausgewunden und schimpften nur hinterrücks über den alten Paul, dem es keiner recht machen konnte.
Anna, damals Mitte zwanzig mit drei kleinen Kindern, lief oft zu ihrer Schwägerin Magda, die ja nur hundert Meter entfernt in ihrer Wohnung auf die Jüngere wartete, um dann gegen den ganzen Wilde-Clan Gift zu sprühen.
Herrmann beschloss, zurück nach Schwarzhausen zu ziehen. Ende August zog die Familie Wilde in eine Fünf- Zimmer-Wohnung. Die Zwillinge waren sieben Jahre alt geworden in diesem Sommer.
Das Haus aus der Jahrhundertwende gehörte dem verknöcherten, magenkranken alten Herrn Knufmann, der im Erdgeschoss mit seiner kurzsichtigen und einem Frettchen ähnelnden Frau Bertha wohnte. Im zweiten Stock wohnte der Sohn des Hauses mit seiner geschwätzigen, immer lachenden Frau und seinen drei Kindern.
Die Nachbarschaft war gutbürgerlich und provinziell. Die Zwillinge teilten ein Zimmer, Marie, da schon fast drei Jahre älter, residierte im Einzelzimmer mit Waschbecken.
Sie spielten unter den Augen des greisen und grantigen Nachbarn Herrn Fost mit den anderen Kindern im Garten nebenan, machten Schularbeiten und gingen am Wochenende zum verrauchten Großvater. Alles verlief ruhig.
Anna und Herrmann waren beide sehr aktiv in der katholischen Kirche, im Kirchenvorstand, Pfarrgemeinderat, Kirchenchor und Kolpingverein. Letzterer traf sich jeden Freitag um 20 Uhr im Jugendheim. Nach Diskussionen um das seelische Wohlergehen der Gemeinde begab sich die Gruppe, damals bestehend aus dreißig Männern, in die populärste Kneipe des Ortes, Roberts, um ausgiebig zu trinken.
Alle paar Monate organisierte die Kolpingsfamilie eine Bildungsreise für die Mitglieder und ihre Ehefrauen. Für ein Wochenende im September war Berlin angedacht. Anna war froh, dem dörflichen Mief für einige Tage zu entkommen. Die Goldmarie wurde ins Paradies zur gutmütigen Tante Ilse auf den Hügel geschickt, die Zwillinge sollten bei Magda untergebracht werden.
Am Donnerstagabend klingelte das Telefon und eine schmerzgeplagte Magda ließ verlauten, dass sie es, wie sie sich ausdrückte, an der Pumpe hätte und außerdem Migräne im Anzug wäre, da das Wetter mal wieder umschlagen würde. Sie könne nur einen Jungen aufnehmen, Nikolas.
Anna machte kurzerhand Helene mobil. Unter schwerem und tränenreichem Protest wurden Nikolas und Max getrennt, da sich Helene ebenfalls außerstande sah, für zwei Enkelkinder gleichzeitig zu sorgen.
Max war geschockt. Noch nie war er von seinem Bruder getrennt gewesen. Während er bei seiner Großmutter in der Küche saß und mit feuchten Augen Kakao trank, kroch ein schlechtes Gewissen in ihm hoch. Es musste doch einen Grund geben, dass seine Mutter ihn von Nikolas getrennt hatte.
In dieser Nacht träumte Max von Ratten in einer dunklen Höhle, die wie überdimensionales Brot aussah, das von innen völlig zerfressen war. Die Ratten hatten nichts, um den Hunger zu stillen. Zu Hunderten starrten sie Max aus ihren rot unterlaufenen Augen an und gierten nach seinem Fleisch. Er lief und lief, fand aber keinen Weg, denn die Höhle war unendlich, ein dunkler, zerfressener Raum, dessen Boden weich und matschig war. Irgendwann prallte Max gegen eine Wand und die Ratten, die immer näherkamen, scharten sich in einen Halbkreis um ihn. Als die erste Ratte zum Sprung ansetzte, wachte Max schweißgebadet auf. Er war allein, auf der großen Couch im Wohnzimmer, das durch einen Flur vom Schlafzimmer der Großeltern getrennt war. Zitternd lag er wach, bis es hell wurde.