Читать книгу Katharsis. Drama einer Familie - Michael Reh - Страница 11
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Das Erwachen
Max wachte am Sonntag, den 13. Juni, gegen 14 Uhr auf.
Lippen wie Sandpapier, die Kehle völlig ausgetrocknet, sein Schädel brummte und für ein paar Minuten war er völlig orientierungslos. Nachdem er eine Ewigkeit an die Decke gestarrt und gewünscht hatte, sie wäre der Himmel, die Hölle oder zumindest das Fegefeuer, kehrte die Erinnerung langsam in seinen malträtierten Schädel zurück oder was noch von ihm übrig war und funktionierte.
Solche Momente widerten ihn so abgrundtief an, dass er vor lauter Selbsthass nicht wusste, ob er aus dem Fenster springen oder sich das nächste Messer im Harakiristil in den Bauch rammen sollte. Beides versprach einen zu blutigen Ausgang und so wartete er den Anfall einfach ab und schaute weiter auf den Wasserfleck an der Decke. Nach einer halben Stunde quälte er sich in die Küche des Appartements, sein Blick fiel auf leere Wodkaflaschen, Valiumtabletten und Koksreste auf der Anrichte.
Zwei Espressi und drei Zigaretten später kam die Erinnerung an die letzten 36 Stunden zurück. Nachdem er für einige Sekunden bewusstlos vor dem Flagshipstore von Ralph Lauren auf dem West Broadway zusammengebrochen war, kam Gott sei Dank Pablo, der Doorman, um ihn in die klimatisierten Hallen des Gebäudes zu schleppen.
Max hatte sich bei dem Fall die Stirn aufgeschlagen, blutete wie ein Schwein, sein Handy hatte den Fall seltsamerweise unbeschadet überlebt.
Während das Blut auf die weißen Marmorfliesen der Lobby tropfte, wusste Max nicht, ob die eventuelle Gehirnerschütterung oder seine Schwester, die immer noch am Telefon war, Schuld an seiner Übelkeit trug. Irgendwo nahm er die Kraft her, um zu sagen, dass er sie zurückrufen würde.
Kurze Zeit später begleitete ihn JM in die Notaufnahme des Mount Sinais Hospitals. JM kannte den Arzt von diversen sexuellen Happenings und so mussten sie nur dreißig Minuten zwischen schreienden Kindern, blutenden Unfallopfern und hysterischen Eltern warten.
300 Dollar später und mit einer Klammer auf der Platzwunde trafen Max und JM Thierry, den Schneemann mit dem weißen Pulver, an der Ecke 61. Straße und 10th Avenue. So begann eine Rutschpartie, die fast dreißig Stunden dauern sollte.
Max hatte die letzten zwei Stunden seines Lebens schon vergessen, noch bevor er sich kurz darauf mit JM die erste Line in die Nase zog. Danach war alles egal und die beiden Freunde putschten sich gegenseitig mit viel Wodka und einigen bezahlbaren Escorts zu den Limits ihres heiligen Grals hinauf.
Die Klammer in der Stirn wurde unwichtig, die Damen wurden erst am Samstagmorgen entlassen. An Schlaf war nicht zu denken, Thierry stand 45 Minuten nach einem Anruf erneut vor der Tür und sie machten da weiter, wo sie angefangen hatten. Neue Escorts waren schnell gerufen, Viagra war immer zur Hand. Jedes Gefühl wurde rigoros weggeschnupft.
Irgendwann am frühen Sonntagmorgen schaffte Max es, völlig high in ein Taxi zu fallen, das ihn nach Hause fuhr.
Vier Schlaftabletten der starken Sorte und zwei Valiumtabletten halfen ihm für einige Stunden, das Bewusstsein zu verlieren, und so stand er am Nachmittag mit der Klammer im Kopf und dem Eisring um sein Herz in seinem Soho-Loft und alles war mit noch stärkerer Macht und ohne Kompromiss zurückgekehrt: Nikolas saß in Dortmund in Untersuchungshaft, angeklagt wegen zweifachen Mordes.
Max bemerkte, dass er seine Schwester noch nicht einmal gefragt hatte, wen sein Bruder getötet hatte. Warum hatte er nichts gemerkt, gespürt? War das Band zwischen ihnen nicht mehr existent?
Mit Zwillingen ist das so eine Sache, besonders bei eineiigen. Nikolas und Max waren unzertrennlich in den ersten Jahren ihres Lebens und auch später, nachdem Nikolas dann schwierig wurde und sich zurückzog, spürte Max doch immer, wenn mit seinem Bruder etwas nicht stimmte.
Wie alle anderen in der Familie nahm Max irgendwann hin, dass Nikolas seltsam war, kaum sprach, anscheinend autistische Züge angenommen hatte. Er nahm es hin, wie man Wolken am Himmel hinnehmen muss, an einem Tag, der wolkenfrei bleiben soll. Es war eben so.