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Freitagnachmittag in Psychopolis

Freitag, der 11. Juni, schien ein Tag wie viele andere im Leben von Max Remark. Aber es war der Freitag, an dem sich alles ändern sollte.

Er erwachte aus dem Delirium der letzten Drogennacht mit einem zentnerschweren Kopf und einer ebenso schweren Zunge. Eine Handvoll Aspirin, literweise Espresso und viel Zucker halfen ihm meist über die erste Depression hinweg. So auch an diesem Morgen. Es gehörte zum guten Ton, sich koksend die Nächte um die Ohren zu schlagen, ohne an den Morgen danach zu denken. Zumindest in seiner Welt.

Alle taten es und in der Modeszene kamen die Dealer ins Studio, man musste keine Drogen auf der Straße kaufen oder sich in irgendwelchen dunklen Ecken schlechtes Zeug andrehen lassen. Jeder zog seine Lines, ohne sich um Geheimniskrämerei zu scheren. Irgendwann erwischte es im Laufe der Zeit jeden und obwohl Max über die Jahre viele Talente vor die Hunde gehen sah, zog es ihn immer wieder in den Strudel des anfänglichen Verzückens, des hemmungslosen Sex und der Gier nach mehr.

Ab einem gewissen Moment machten ihn die ständig gezogenen Lines zwar völlig verrückt, aber Pillen, Alkohol und ein dicker Joint holten ihn runter und irgendwann ebbte der Rausch und später auch die Depression ab. Es war alles eine Frage der Zeit.

Irgendjemand hatte ihm vor ein paar Jahren Koks auf einer Party angeboten. Zuerst nahm er die Droge nur ab und zu. Dann jedes Wochenende, kurz darauf hatte er ein, zwei oder drei Nummern von Dealern. Sein Dealer fuhr einen Porsche.

Er ließ sich immer wieder verführen, so wie all die anderen funktionierenden und nicht funktionierenden Junkies in New York. Diesem großen, wurmstichigen Apfel, der schon lange an keinem Ast mehr Halt gefunden hatte und am Boden liegend vor sich hin rottete.

Max lebte seit fast zwanzig Jahren in New York, jenem Apfel, den Eva angeblich Adam hingehalten hatte und den dieser voller Zorn auf den Boden hätte schmeißen sollen. Aber der Dummkopf nahm erst einen Bissen, ließ ihn fallen und schickte dann die Menschheit in das faulende Verderben.

Max und seine Freunde waren der festen Überzeugung, dass der Cocktail aus Uppers und Downers, schnellem Sex, Diätpillen, ADS-Syndromen, fettfreien Diäten, Botox und Cosmopolitans ungefährlich sei, dazu noch chic und ewig dauernd. Der Drahtseilakt namens New York Life forderte ständige Bereitschaft.

Der Tod ist ein langsamer Tänzer und Max stürzte sich ins Leben, aus Angst, etwas zu verpassen, oder, was viel schlimmer gewesen wäre, nicht mehr hip zu sein. Denn das wäre der wahre Tod eines jeden Bewohners von Manhattan.

Träume hatte er keine, die Suche nach Liebe abgeschlossen. Liebe war nur eine Erfindung der Literaten und von Hollywood, denn die machten Geld damit.

Mit Mitte zwanzig war Max von Paris nach New York gezogen, hoffnungsvoll seinem neuen Leben entgegen, unwissend um die Ereignisse, die in seiner Vergangenheit stattgefunden hatten. Er hatte seine Vergangenheit so erfolgreich verdrängt, dass sie keine Chance hatte, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervorzukriechen und sich ihm zu offenbaren.

Er wurde Fotograf, war talentiert, hatte ein gutes Auge für die Schönheit der anderen. Er war erfolgreich, die Modeszene mochte seinen Blick auf die Dinge des Lebens. Und obwohl er oft erst mittags wieder nüchtern war und den Kopf nicht mehr zwischen den Schenkeln irgendeiner Unbekannten hatte, verzieh man es ihm. Meistens.

Kreative dürfen, ja müssen anders sein als der Rest der Welt. Zauberkinder, Wunderkinder, Exoten. Zumindest solange sie das gewünschte Ergebnis erzielen und gut verkaufen. Geht der Verkauf zurück, heißt es: »Hasta la vista, Baby«, und eine ganze Armee von Nachfolgern steht auf der Matte, um einen ins Tal der Versenkung zu stoßen. Von da gibt es keinen Aufstieg mehr, außer man inszenierte seine Auf- und Abstiege so gekonnt wie Cher.

Ständig tanzten am Set zehn hysterische Menschen um Max herum: Stylisten, Artdirektoren, Assistenten, Assistenten von Assistenten, Make-up- und Hairstylisten und Redakteure, meist weiblichen Geschlechts, die offensichtlich seit Jahrhunderten keinen Sex mit einem anderen Menschen hatten und dies nicht unbedingt freiwillig. »Mal baisé«, wie der Franzose sagt, denn kein Sex bedeutet eben auf Dauer bei den meisten Warmblütern auch schlechte Laune.

Max hingegen hatte so viel Sex, dass er ihm schon fast aus den Ohren wieder herauskam. Machte ein Teil von ihm aufgrund der Kokserei mal schlapp, nahm er die Wunderwaffe gegen Impotenz: kleine blaue Pillen zu zwei Dollar das Stück, aus dem Internet frei Haus geliefert.

Nach jeder durchgemachten Nacht versprach er sich hoch und heilig: »Never again«, und war doch am Nachmittag wieder bereit für die nächste Rutschpartie ins vermeintliche Glück. Er hatte sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt und machte sein Ding, egal ob high oder nicht, irgendwie kam immer etwas dabei heraus.

Der Heroinchic entstand nicht ohne Grund. Dass so viele Mädchen auf der Welt magersüchtig wurden, weil sie aussehen wollten wie Models, war nicht sein Problem. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Manche Models rauchten, schnupften oder spritzten Heroin in die Bikinizone, denn da sah man die Einstiche nicht. Kippten sie um, nahmen sie einfach eine Nase und bis fünf war alles im Kasten. Die Kasse stimmte.

An diesem Freitagabend war eine große Party in einem angesagten Club und Max wollte seinen besten Freund Jean-Marie dort treffen, den er seit zwanzig Jahren kannte. Es war ihnen egal, mit wem sie die Nacht verbrachten und Jean-Marie schlief mit allem, was zwei Beine hatte. Sex war wie Fahren auf der Autobahn. Es hing ganz davon ab, wie high sie waren, das Leben glich einem gezielten Drauflosfahren auf die Leitplanke. Volles Rohr drauf los und Whamm! Sex war Leben und Tod zugleich.

Jean-Marie, von allen nur JM genannt, konnte seit einigen Tagen sein Gesicht nicht mehr richtig bewegen – zu viel Botox. Er fand, er sah gut aus, mindestens fünf Jahre jünger, und wollte dies auch von jedem bestätigt wissen. Irgendwie war er immer noch der kleine Klosterschüler aus einem Pyrenäendorf in Saint-Marie. Sein Kommunionsbild mit den gefalteten Händen und der strahlenden Haut hing in Lebensgröße auf dem Gästeklo seines Penthouses in Chelsea.

JM war süchtig nach allem, was das Leben bot: Geld, Erfolg, Liebe, Essen, Sex, Alkohol, Macht, Klamotten, Koks, egal. Hauptsache, er bekam einen Kick und musste nicht daran denken, dass er als 16-Jähriger seine Schwester mit einem geklauten Jaguar gegen eine Wand im Pyrenäendorf gefahren hatte. Sie war sofort tot und er kotzte jedes Mal, wenn er während einer Panikattacke daran dachte. Silvester wollte er traditionsgemäß vom Dach seines Penthauses springen. Keine Therapien der Welt halfen ihm, mit beiden Beinen auf dem sumpfigen Boden Manhattans zu bleiben.

Egal ob Buddhismus, Hinduismus, Bagwhan, ja selbst Kabbala: Nichts hielt ihn mehr als drei Wochen in seinem Bann. Er stand morgens auf, nahm seine Schlankheitspillen, ging ins Fitnessstudio, hatte den ersten Sex des Tages im Dampfbad, ging danach zur Arbeit, hatte den ersten Cocktail um 16 Uhr, die erste Nase um 17 Uhr und dann auf zur nächsten Party, Max im Schlepptau.

Weder sein Therapeut, ein gelehrter Mann mit Buchveröffentlichungen, einer großen Nase und einem noch größeren Konto, noch sein Psychologe, der ihm immer wieder gerne die neuesten Pillen verschrieb, konnten ihm weiterhelfen. Aber sie verdienten über die Jahre nicht schlecht an ihm und gaben ihm zumindest das Gefühl, dass er etwas für sich tun würde und dabei nichts, aber auch gar nichts, unversucht ließ.

JM fickte alles, was zwei Beine hatte, oder auch nur eins. »Egal, mon cher, Fick ist Fick«, liebte er zu sagen. Diese Einstellung entsprach nicht unbedingt seiner katholischen Erziehung, aber er hatte in den letzten zwei Jahrzehnten auch nicht mehr in das Innere einer Kirche gesehen.

Auch Max war nach katholischen Grundsätzen erzogen worden, war Ministrant im Zirkus seiner Gemeinde gewesen, ganz zu schweigen vom Kirchenchor und der Jugendgemeinschaft. Damit gab es einen Schnittpunkt in der Vergangenheit der Freunde, die sie aneinanderkettete wie Klebstoff. Sie hatten früh gelernt, in einer heuchlerischen Welt anderen gegenüber die Wahrheit mit charmanten und intelligenten Lügen zu verheimlichen. Sie waren Meister in diesem Verfahren. Wären es die Siebziger gewesen, sie hätten mit Halston, Warhol und Bianca Jagger die Nächte im Studio 54 zur Legende werden lassen.

Denn nur darum ging es im American Dream: Sichtbar zu sein in der Masse der Anonymität, seine 15 Minuten Anteil am Ruhm zu haben, an den sich dann so viele verzweifelt klammerten, ohne wissen zu wollen, dass es nur 15 Minuten waren und nicht mehr. Aus, Schluss, der Nächste bitte! Gesehen werden! Darum ging es, das digitale Zeitalter verstärkte diesen Drang in fast jedem. Und genau das konnte Max. Sehen! Wenn es um andere ging.

Die Zeiten hatten sich geändert. Langjähriger Ruhm war nur noch eine Idee der Vergangenheit, denn alle wollten Action und bitte jeden Tag etwas Neues und Anderes. Instagram und Snapchat regierten die Welt.

Das Studio 54 hatte in den Siebzigern nach nur zwei Jahren die Pforten schließen müssen. Zuviel Sex, Drugs und Rock’n’Roll.

Nicht zu viel für die, die bei der Party dabei gewesen waren und noch lebten und nicht von AIDS oder einer kaputten Leber dahingerafft worden waren. Eher zu viel für die Hüter der Moral und die Sittenwächter der New Yorker Gesellschaft und derer gab es viele. Sie träumten von all den Dingen, die dort in den heiligen Hallen vor sich gingen. Aus Angst, es selbst mit Polizisten treiben zu müssen oder Kerzennummern durchzustehen, oder erst gar nicht – und das wäre das Schlimmste gewesen – in die heiligen Hallen eingelassen zu werden, riefen sie nach Panzern und Bataillonen, um Tugend und Anstand zu bewahren. Erst zwanzig Jahre später hatten es Bush Junior und Bürgermeister Guiliani geschafft, aus New York ein Disney-Land zu machen. Und das war es bis heute. Spiele fürs Volk. Schall und Rauch! Wenn auch nur nach außen hin.

Alice im Wunderland, in dem man die Wunder suchen musste.

Max stand an der stinkenden, dampfenden Ecke der Sixth Avenue und 48. Straße, Avenue of the Americas getauft. Er konnte nicht auf die Hamptons fahren, dorthin, wo jeder New Yorker, der es sich leisten konnte, am Wochenende verschwindet, um dann nach vier Stunden quälender Fahrt von 120 Kilometern die gleichen Gesichter wie in Manhattan zu sehen.

Er hatte am Sonntag ein Shooting, das er nicht verschieben konnte. Das Model, eine aparte Schönheit, war nicht nur berühmt für ihren Body und ihre Divenhaftigkeit, sondern auch dafür, handgreiflich zu werden und somit permanent in den Klatschspalten aufzutauchen. Bei Max hatte sie es einmal probiert, aber bevor ihn ein Schlag treffen konnte, hatte er selber zugeschlagen. Das Ganze endete in einer wilden Nummer auf dem Make-up-Tisch nach dem Shooting und seitdem ließ er sich die kleinen Tête-à-Têtes während der gemeinsamen Arbeit ungern entgehen.

Widerwillig nahm Max die U-Bahn, denn ein Taxi um diese Zeit in Manhattan zu bekommen, war unmöglich. Er schleuste sich durch das Geflecht von Menschen, Gerüchen und unzähligen Sprachen durch die Straßen hin zur Subway Nr. 9, dem Localtrain stadtabwärts, um nach Soho zu gelangen. Dort besaß er seit einigen Jahren ein Loft. Er hasste die U-Bahn, schwitzend stand er dicht gedrängt zwischen anderen schwitzenden und gestressten Menschen, die weiß der Himmel wohin mussten. Jeder wollte der Hitze der Straße entkommen und lieber einen Unterkühlungsschock in der klimatisierten U-Bahn erleiden.

Genervt war er kurze Zeit später im nicht minder überfüllten Soho, wo sich Touristenmassen aus aller Herren Länder an den Straßenhändlern, teuren Boutiquen und Künstlern, die ihre Bilder auf dem Pflaster ausstellten, vorbeiwälzten. Max wollte so schnell wie möglich in sein klimatisiertes Loft und Thierry, seinen Dealer, anrufen.

Sein Handy klingelte. Es war Carole, seine Agentin. Er fluchte, denn sie war nicht abzuwimmeln, wenn sie einmal am Apparat war. Carole war eine energische Frau, jüdisch, wie die meisten Agenten in New York. Selbst hartgesottene VIPs der Modebranche legten sich nur ungern mit ihr an, denn ihren Spitznamen der Drache hatte sie sich nicht umsonst verdient. Sie konnte alles und jeden in Grund und Boden reden und handelte dabei astronomische Gagen für Max aus.

Carole kannte alle Tricks der Branche und hatte sich selbst nach einem durch ihren immensen Drogenkonsum hervorgerufenen Bankrott wieder an die Spitze gearbeitet. Ende der achtziger Jahre hatte sie, verfolgt von einer nach Rache und Geld schreienden Schar von Gläubigern, nach Miami fliehen müssen. Die ganze Branche schien sich damals in Miami zu treffen, dort boomte es.

Carole spezialisierte sich auf europäische Kunden, riss sich am Riemen und wurde innerhalb kürzester Zeit wieder erfolgreich. Sie zahlte ihre Schulden, schmiss die Drogen ins Klo und zeigte den New Yorkern, was ein Comeback ist.

Max und Carole hatten sich während ihrer harten Anfangszeiten in Miami kennengelernt. Er mochte sie und erkannte ihr Potential. Sie verdiente im Laufe der Jahre viel Geld als seine Repräsentantin und hatte sich davon beim besten Chirurgen der Park Avenue ein Facelift machen lassen. Inzwischen war sie Mitte fünfzig, sah aber Dank der großen und kleinen Eingriffe zehn Jahre jünger aus. Einen Mann hatte sie nicht, aber das war auch gut so. Agentinnen in ihrem Alter arbeiteten besser, wenn sie kein Privatleben hatten und aufgrund mangelnder sexueller Betätigung unausgeglichen waren.

»Hallo Max, Darling, wo steckst du? Ich dachte, du wärst noch im Studio, ich muss dir unbedingt etwas erzählen …« Ohne Punkt und Komma und ohne die Absicht zu erfahren, wie es ihm ging, schnatterte sie drauf los und erzählte von Kunden, Gagen, Partys und anderen unwichtigen Dingen. Nach einigen Minuten kam sie endlich zum Grund ihres Anrufes. Max sollte am Dienstag nach Barbados fliegen, um dort eine neue Kampagne für Bloomingdales zu fotografieren. An Widerstand gegen Carole war nicht zu denken, was sie sagte, war Gesetz.

Nach zehn endlosen Minuten verabschiedete sie sich mit dem von Max abgerungenen Versprechen, am Sonntag nach der Arbeit bei ihr vorbeizukommen, um die Details für die Reise zu besprechen.

Er hatte den Eingang seines Appartementgebäudes fast erreicht und wollte schon Pablo, dem übergewichtigen puerto-ricanischen Doorman, das übliche »How are you?« entgegenrufen, da klingelte das Handy erneut. In der Annahme, es sei noch einmal Carole, nahm er ab, ohne auf das Display zu schauen.

Interessant, wie ein kleiner Moment, eine Unachtsamkeit, das Leben grundlegend verändern kann, ausgelöst durch den Druck auf eine kleine Handytaste. Über einen Satelliten im Weltall verbunden, meldete sich nicht Carole, sondern eine Stimme aus Paderborn in Westfalen: »Hallo, hier ist Marie.«

Katharsis. Drama einer Familie

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