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Von einer Insel zur anderen

Max hatte nicht vor, allzu lange in Deutschland zu bleiben.

Er versuchte, nicht an die Konsequenzen zu denken, spürte nur instinktiv, dass Nikolas ihn brauchte. Wegen ihm machte er diese Reise. Er packte nur das Nötigste ein, da er nach einer Woche wieder in den vertrauten Sphären seiner Heimatinsel auftauchen wollte. Eine Woche in Schwarzhausen. Er versuchte, sich erst gar nicht vorzustellen, was ihn erwarten würde.

Um 19 Uhr bestieg er ein Taxi, das, nachdem es sich durch den Stadtverkehr und den Midtowntunnel gequält hatte, prompt im Verkehr auf dem Highway stecken blieb.

Die Vergangenheit hatte Max wie eine große Welle eingeholt. Sein Bruder saß in Untersuchungshaft und war wegen Mordes angeklagt. War es alles nur ein Versehen? Oder wollte Marie ihn mit einem Trick nach Deutschland zurücklocken? Und wen hatte Nikolas ermordet?

Max griff zu seinem Handy und suchte die Nummer seiner Schwester, die noch nicht ahnte, dass er die Reise über den großen Teich bereits angetreten hatte.

Nach einigem Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter: »Dies ist die Nummer von Marie, Ingo, Leo, Lena und Paul Kretscher. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.«

Max schaute auf die Uhr. Es war bereits 1 Uhr morgens in Paderborn. Er hinterließ keine Nachricht.

Nachdem er aufgelegt hatte, wurde ihm bewusst, dass er von einer Minute zur anderen zum Onkel mutiert war, denn offensichtlich lebte seine Schwester nicht in einer WG, sondern hatte mit ihrem Mann Kinder in die Welt gesetzt. Na super, das Familienglück der Goldmarie war offensichtlich perfekt. Hatte er etwas anderes erwartet? Herrmann hielt bestimmt wie eh und je seine schützende Hand über das finanzielle Wohl seiner geliebten Tochter. Wie schön für ihn, wie schön für Marie! Max war diese Liebe fremd und da er um diese Zeit auch niemand anderen von der ihm geistig, moralisch und räumlich entfernten Familie erreichen konnte, schaltete er sein Handy aus und kam nach einer weiteren Stunde mit übler Verspätung am Flughafen an.

Er quälte sich durch die Massen von Touristen, schreienden Kindern und gestressten Businessleuten, um am Schalter der Fluggesellschaft zu erfahren, dass der Flug zwei Stunden Verspätung haben würde. Müde verzog er sich in die Lounge, um auf den Abflug zu warten.

Die Senator Lounge der Lufthansa am JFK Flughafen hatte eine Ruhezone, in der man die Füße hochlegen konnte und nicht von quäkenden Babys oder schnatternden New-York-Touristinnen, die zu viel Sex and the City gesehen hatten, belästigt wurde.

Gerädert von den Ereignissen und Exzessen der letzten 48 Stunden, freute sich sein gequälter Körper auf die zwei Stunden Auszeit. Er war alleine, schlief sofort ein und träumte, dass er auf dem Sofa seiner Tante Magda lag.

Er war noch ein Kind. Die Sonne schien durchs Fenster. Es war um die Mittagszeit im Spätsommer. Draußen war es ruhig, die an das Haus angrenzende Schule war leer, es waren Ferien. Der Geruch von abgekochtem Fett und frischer Blutwurst zog aus der Fleischerei im Erdgeschoß durchs Küchenfenster und Max, noch immer auf dem Sofa liegend, schaute durch die Küchentür in den Flur der Wohnung und sah eine selbstgestrickte Puppe auf dem Regal sitzen. Tante Magdas Hund, ein alter stinkender Terrier namens Mecki, lag in seinem abgewetzten Hundekorb. Max stand auf und wollte ihn streicheln, merkte aber, dass Mecki ausgestopft war. Tote Glasaugen sahen ihn ausdruckslos an. Max schaute nach rechts in das tieferliegende Badezimmer.

Die Übelkeit kam unerwartet, denn ausgestreckt an den Rand der alten Badewanne gelehnt lag Magda, die Augen weit geöffnet, die Hände verkrampft. Jemand hatte sie erschlagen, an ihrem gespaltenen Schädel klebte ein Rinnsal getrockneten Blutes.

Max öffnete den Mund und schrie, doch kein Laut kam heraus. Er versuchte zu fliehen, konnte jedoch keinen Muskel bewegen. Tote Hundeaugen fixierten ihn und es dauerte unendlich, bis ein lang gezogener Schrei aus seiner trockenen Kehle hervorbrach. Zuerst kaum vernehmbar, dann immer lauter werdend. Schweißgebadet wachte er auf.

Vollkommen verwirrt bemerkte er, dass die Empfangsdame der Lounge im Türrahmen stand und ihn entsetzt anstarrte. »Herr Remark, Ihr Flug geht in zwanzig Minuten«, krächzte sie und verschwand.

Erschrocken fuhr sich Max mit der Hand über die Stirn und zuckte schmerzhaft zusammen. Er hatte die Klammer vergessen und fühlte sich wie nach einem Marathon. Er nahm sein Handgepäck und stolperte durch die Passkontrolle und den Bodycheck, lief den langen Flur zum Flugsteig hinunter und erreichte die Maschine.

Noch ehe der Flieger abhob, versank Max völlig erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Er verpasste die drei Gänge des Menüs, die Ansage des ersten Offiziers und des Kapitäns und wachte erst nach zwei Stunden in der abgedunkelten Maschine mitten über dem Atlantik wieder auf. Fast alle Gäste schliefen, ein paar schauten Videos auf ihrem Inseat-Monitor und drei Geschäftsleute bereiteten Unterlagen für die Sitzung vor, die ihnen in ein paar Stunden trotz Jetlag bevorstand.

Max war jetzt hellwach, ging zur Stewardess und bestellte einen Kaffee und einen doppelten Whiskey. Seine Gedanken in dem kleinen Raum in zehntausend Metern Höhe gingen zurück zu seinem Traum, den er nicht verstand.

Warum lag Magda mit aufgeplatztem Schädel neben ihrer Badewanne und ließ sich von ihrem ausgestopften Terrier anstarren? Max hatte die Frau seit Jahrzehnten nicht mehr getroffen, konnte sich nicht einmal erinnern, sie auf der Beisetzung seiner Mutter gesehen zu haben.

Alles, was ihm einfiel, waren Begegnungen in der Kindheit. Geburtstage, die Kommunion, Familienfeiern, bei denen man feucht-fröhlich Zusammenhalt vorgaukelte, sein Bruder, der sich immer ängstlich verkroch.

Magda und Erich waren oft dabei und dennoch hatte Max kein Bild von ihnen aus späteren Jahren. Es war wie ein eiserner Vorhang, der nicht nach oben gehen wollte, so wie im Theater, wenn auf der Bühne oder im Zuschauerraum Feuer ausbricht und entweder die Zuschauer oder die Akteure vor den verzehrenden Flammen geschützt werden sollen.

Tante Magda. Jahrelang hatte er nicht an diese Frau, die er nie sonderlich mochte, gedacht. Sie musste inzwischen fast achtzig sein.

Und dennoch war das Bild ihres zertrümmerten Kopfes, ihres erstaunten Gesichtsausdruckes so klar und real, dass ihm schlecht wurde.

Katharsis. Drama einer Familie

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