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August

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Als R. mit der U-Bahn in die Stadt fuhr, hätte er Kathrin erzählen können, um bei Beate Uhse Präservative zu kaufen, stieg an der Münchner Freiheit ein junges Paar zu, vom Stamm der Hippies.

Das Mädchen stand vor R., an die Haltestange gelehnt, die Hand verdreht vor dem Mund, und er kapierte nur allmählich, dass sie nuckelte, ja, sie lutschte regelrecht am Daumen.

»Bei Beate Uhse ausschließlich Männer – nein, außerdem ein junges Paar, das gemeinsam Pornos beguckte, voller Vergnügen.« Das erzählte er Kathrin dann tatsächlich.

»Verzeihen Sie«, sagt die elegante ältere Dame, die seit München mit im Abteil sitzt, »sind Sie Hamburger? Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht. Hamburger sind ja sehr korrekt – sie würden niemals solche Sandalen anziehen.«

R. trägt seinen hellen Baumwollanzug (Boss), ein hellblaues Hemd – und Jesuslatschen, aus Lederresten, frühe siebziger Jahre. »Verzeihen Sie«, sagt die Dame, »ich bin einfach neugierig.«

Und R. fällt zum ersten Mal richtig auf, dass er Erster Klasse reist.

Im Briefkasten lag der Benachrichtigungszettel für ein Einschreiben – aber sie werden gleich abreisen. Doch Kathrin muss ohnehin zum Postamt, Geld einlösen, und R. bedrängt sie, sie möge unbedingt nachfragen, ob der Einschreibebrief womöglich schon zurückgegangen sei.

R. muss sich nämlich der Gewissheit erwehren, dass der Brief von der Herausgeberin stammt; dass sie ihm die fristlose Kündigung ausspricht, weil er Urlaub genommen habe, ohne beim Verlag den entsprechenden Antrag einzureichen und genehmigen zu lassen. Linz. An den Nebentisch setzt sich ein Mann – R. denkt: Anfang 50 –, das Gesicht in die Hände gestützt, blickt er sich – R. denkt: sorgenvoll, bekümmert – in dem Café um, bis sein Blick auf dem nackten Rücken von Kathrin hängen bleibt – R. denkt: dies ist der Grund seiner Sorge, seiner Bekümmerung, dass er älter wird, und der nackte Rücken einer jungen Frau spiegelt es ihm wider.

Dann kommt der Wirt, dick, wohlwollend, aufmerksam; er begrüßt den Stammgast, der einen Gespritzten, weiß, bei ihm bestellt und etwas zu essen. »Ein paar Wiener sind recht?«

Der Mann fragt Kathrin, ob die Zeitung, die vor ihr auf dem Tisch liegt, frei sei, ja, sicher. Er setzt sich die Brille mit den halben Gläsern auf und vertieft sich in die Zeitung, während der Wirt den Plastikbehälter mit den Semmeln auf seinen Tisch stellt.

Wien. In diesem Kaffeegarten hat auch ein älterer Mann zu arbeiten, er trägt eine blaue Schürze. »Ja, für dich haben wir auch etwas«, sagt er, als er den Hund sieht, und bringt wenig später eine Schüssel Wasser, aus der N. aber nicht trinken will, »es wird wohl noch zu kalt sein«.

Dann will ein Paar am Nebentisch zahlen. »Ich schicke sie Ihnen gleich, die Polska«, die polnische Kellnerin, die ausgesprochen majestätisch bedient. Dann wünschen andere Gäste Soda und ein Tonic Water, »ein Soda, einmal Tonic Water«, wiederholt der Mann mit der blauen Schürze, »ich lasse es Ihnen gleich bringen«. Dann kommt zu einem dritten Tisch, wo schon eine sitzt, eine zweite alte Dame, »ich habe gestern Ihre Bekannte gesehen«, erklärt der Mann den beiden, »nicht die aus der Währinger Straße, sondern die andere«. Die Damen schauen ratlos. »Das wollte ich Ihnen doch sagen.« Und dann nimmt er die Schüssel mit dem Hundewasser und gießt es ins Gebüsch, »er hat also nichts getrunken« – als wolle er R. tadeln, weil er N. nichts davon eingeflößt hat.

Worin eigentlich seine Arbeit besteht, hat R. inzwischen verstanden. Er räumt Geschirr, Gläser, Flaschen von den Tischen. Aber er konnte für sich die Phantasie durchsetzen, er sei nicht das Faktotum, sondern der Chefkellner.

Eisenstadt. Das belegte Brot, garniert, im Schlosscafé besteht aus einer gebutterten Graubrotschnitte, die mehrere Wurstscheiben – eine Art Salami – bedecken. Auf den Wurstscheiben wiederum liegen, diese nicht gänzlich verhüllend, Käsescheiben – eine Art Emmentaler –, die, wie die Wurst, verschwitzt ausschauen.

Die Käsescheiben bedecken auf der einen Seite der Brotschnitte Gurkenscheiben, während die andere mit einem Streifen Mayonnaise aus der Tube verziert wurde, ein Streifen, der mit rotem Paprikapulver bestäubt ist.

Messer und Gabel wurden nicht serviert. Das Brot ist quer in Streifen geschnitten, die man einzeln mit der Hand aufnimmt, wobei die Mayonnaise auf die Papierserviette tropft, die unter dem Brot liegt, weshalb man sie hinterher nicht zum Abwischen der Finger verwenden kann.

Auf einer Treppe, die nur schlecht in das Haus Scheinerstraße 6 passt, steht Peter Herzberg. Ob R. mal kommen könne? In einem Zimmer, das ungefähr das ist, in welchem einst Jürgen Felz arbeitete und jetzt Klaus Kunkel sitzt, versammelt sich der Personalrat. Man wolle R. ausdrücklich, das hält eine Art Resolution fest, Unterstützung zusagen für die Schallplatte mit konkreter Poesie, die er produziert habe. Peter Herzberg hat es vorgelesen und schaut R. beifallheischend an. Wenig später befinden sich alle im Schwimmbad, trotz des kalten und regnerischen Wetters. Gisela Steinbacher, die Chefsekretärin, erklärt R. auf das handgreiflichste ihre Liebe, aber er wacht auf, bevor er sie verschmähen kann.

R. hat Brigitte Landes geheiratet – es war ein dringlicher Wunsch, der sich aber, als er erfüllt ist, als schlechterdings unrealisierbar erweist. Nicht nur, dass sie bei ihren Eltern leben, die sich andauernd im Zimmer aufhalten, diese Eltern erwarten außerdem von R. eine Erneuerung der christlichen Lyrik und finden das, was R. pflichtschuldigst hinschmiert, alles andere als befriedigend. Mit Kathrin redet R. ausführlich und sarkastisch über die unmögliche Situation, die ja umso unmöglicher ist, als Kathrin und R. weiterhin verheiratet sind.

Elisabeth Berres kommt zu Besuch – so kann man das nicht sagen. Auch wenn sie sich auf das Sofa setzt, geht es im Grunde nur um ein Vorbeieilen; wenn sie reden, geht es bloß um einen Wortabtausch en passant, wie bei einer Zufallsbegegnung auf der Straße. »Warum hast du überhaupt Slawistik studiert?«, fragt Kathrin. – »Kannst du nicht was Einfacheres fragen?«, antwortet Elisabeth Berres klagend.

Sie macht bald Ferien und fährt nach Polen. Sie werde Lebensmittel, Wurst- und Fleischkonserven, Käse mitnehmen, zur Selbstversorgung und für den Kleinhandel. R. kommt es so vor, als wäre das als verschärfte Reise in die Depression geplant, die schon unentwegt an ihr zehrt; ihm kam das Slawistik-Studium damals so vor, als sei es materialisierte Depression.

»Hier riecht es ja so durchdringend gut«, spottet Kathrin und schnüffelt in die Luft, »sind Sie das? Haben Sie sich parfümiert?« – »Wieso?«, fragt Goetz, gleichzeitig verlegen und stolz, »das mache ich doch immer.«

R. hat es nie bemerkt und bemerkt es auch jetzt nicht.

Bernd Dürr hat sich eine helle Sommerhose und eine Sonnenbrille gekauft – bislang trug er ausschließlich Bluejeans, und seine Sonnenbrille war eines dieser archaischen Modelle mit kreisrunden Gläsern im Drahtgestell. »Das Ende der Jeans-Periode.«

Vor allem habe ihn irritiert, dass, wenn er mit Gabi Dürr ein Lokal betritt, regelmäßig alle sie beaugenscheinigen, während man ihn übersieht. Als er jetzt mit der neuen Sonnenbrille durch die Innenstadt spazierte, fand er freilich trotzdem bei niemandem Beachtung.

Der Hund taucht. »Der Hund taucht ja«, sagt die ältere Dame, »der geht ja mit dem Kopf unter Wasser.« Der Hund taucht weiterhin: nach der sandgefüllten Plastikflasche, die Kathrin immer wieder für ihn in die Isar wirft.

»Das habe ich noch nie gesehen«, sagt die ältere Dame, »schadet das denn den Ohren nicht?« – »Die werden sowieso nass«, sagt Kathrin und wirft die Plastikflasche neuerlich ins Wasser, woraufhin der Hund wiederum taucht.

»Erstaunlich«, sagt die ältere Dame. »Hat er noch keine Ohrenentzündung gehabt?« – »Nein«, antwortet R. kurz, verärgert. Warum? »Doch«, hätte er antworten sollen, »leider schon öfter«, und dann hätte sie die ältere Dame darüber aufgeklärt, dass das vom Tauchen komme. Sie hätte sie darüber belehrt, dass sie den Hund nicht zum Tauchen anreizen sollten mit der sandgefüllten Plastikflasche – dann hätten sie auch keine Probleme mit seinen Ohren.

Landshut. Im Gasthaus Zur goldenen Sonne fangen an einem Stammtisch plötzlich zwei Männer zu singen an. Mit Stimmen, die nicht ungeübt klingen, insbesondere die des einen, fetteren, der eine Brille trägt und eine gebackene Frisur.

Was singen sie (die um die 40 sind) unter dem Beifall der anderen Männer und zur wohlwollenden Erheiterung des übrigen Lokals? Arien aus dem »Zigeunerbaron«, »Funicolì funicolà«, ganz am Schluss ein bisschen »And when the saints go marchin’ in«.

Wie tradieren sich diese Melodien? R. kennt sie ja selbst, bloß die Texte nicht. So wenig wie die singenden Männer.

»Gibt es eine FAZ?«, fragt R. – »Nein, die ist noch nicht da, überhaupt ist die Post noch nicht da«, antwortet Frau K.

Später ist sie da, und die FAZ liegt vor Frau K. auf ihrem Schreibtisch. Als R. herantritt, holt sie gerade ein Manuskript aus seinem Kuvert. – »Geben Sie mir mal die FAZ.« – »Gleich; ich will sie erst selber lesen.« – »Lesen Sie doch zuerst das Manuskript.« – »Nein; lesen Sie es.« – »Um Gottes willen.«

Es entsteht ein richtiger Streit mit Anschreien, und als R. spätabends Kathrin, die gerade aus Köln zurückkehrt, davon erzählt, freut sie sich: »Du und deine Frau K., eine richtige Bürofeindschaft.«

Zuerst wird das Zeit-Magazin durchgeblättert, wobei eigentlich nur die Cartoons von F. K. Waechter und, gegebenenfalls, Hans Traxler genauer studiert werden; ein Text ist im Zeit-Magazin schon seit unvordenklicher Zeit nicht mehr gelesen worden.

Dann folgt Die Zeit selbst, wobei es sich im Wesentlichen ebenso um Durchblättern handelt: ganz gewiss des politischen und des Wirtschaftsteils. (Regelmäßig aber ein sehnsüchtiger Blick auf die Ausschreibungen der Universitäten in Berlin.) Manchmal wird ein Artikel im Feuilleton gelesen (hier schaut R. vor allem nach, ob jemand ihn zitiert); ebenso wird mit den Artikeln in der Abteilung »Modernes Leben« verfahren.

Dann ist der Stern dran, und hier ist zwischen Durchblättern und Lesen glücklicherweise nicht mehr genau zu unterscheiden, denn im Wesentlichen handelt es sich ja um Bilder mit kurzen, rasch fassbaren Unterschriften. Zuweilen wird ein Text in der Abteilung »Diese Woche« studiert und – am sorgfältigsten von allem – das Fernsehprogramm für die nächste Woche.

Erding. Abendessen mit Erika Quandt und Fritz Posau. Kathrin erzählt von Gertraud Busch, ihren ersten Auftritten als Psychotherapeutin, und Erika Quandt berichtet, dass sie mehrere Jahre lang eine dieser Körperpsychotherapien absolviert habe. – »Warum?« – »Aus Neugier.« – »Aber bloß aus Neugier macht man doch so etwas nicht.« – »Ich war halt sehr depressiv.«

Kathrin beginnt eine kräftige Verteidigung der Psychoanalyse, und Erika Quandt versucht zu erklären, dass ihr Therapeut genau wie ein Analytiker verfahren sei. Dann gesteht sie, dass sie von der Psychoanalyse niemals etwas habe erwarten können, denn schon der Gedanke, Reden helfe, sei ihr ganz fremd. – »Seitdem hat Erika«, so einer von Fritz Posaus wenigen Sätzen an diesem Abend, »viel weniger Depressionen. Und sie hat sich auch körperlich verändert.«

Es fällt auf, dass sie, die Mathematikerin – darüber reden sie später, nach Hause zurückgekehrt – viel mehr redet als er, der Schriftsteller, und dass ihr das Reden, die Kontaktaufnahme durch Reden, viel Spaß zu machen scheint.

Christel Dopplers Telefon klingelt, und R. geht dran. Es ist Enzensberger. »Ah, Michael, guten Tag. Was machen die Zähne?« Er habe davon gehört, dass R. öfter zum Zahnarzt müsse, »Sie sagen ja nichts.« – »Hätte ich Sie deswegen anrufen sollen?« – Er übergeht die Bosheit. »Eigentlich möchte ich Carlos sprechen, ist er da?« – »Nein, er kommt erst morgen wieder.« – »Ist er in Frankfurt?« – »Nein, in Berlin.« – Michel hat also auch nichts gesagt.

»Hier, das Impressum«, strahlt Frau K. und übergibt Michel ein Manuskript. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, und er steht davor. Sie übergibt es ihm auch nicht richtig, sondern hält es vor ihm in die Luft, damit er danach greife. »Hier, das Impressum. Schau noch mal drüber.«

»Ist es denn in Ordnung?« – »Dafür«, strahlt Frau K. und produziert ihre höchste Heiterkeit, »dafür kann ich bekanntlich keine Gewähr übernehmen.« Woraufhin Michel das Manuskript, das er in die Hand genommen hatte, chinesisch lächelnd wieder auf ihrem Tisch platziert.

»Das ist wirklich unglaublich«, kommentiert Dirk Bickel, als sie wenig später an seinem Tisch ein Umbruchproblem betrachten, »dies Theater mit dem Impressum.« Aber er gerät so wenig in Wut wie Michel.

»Du bist so geistesabwesend«, klagt Gaston Salvatore, während Frau K. irgendwelche Papierstöße von hier nach da trägt. »Das ist so bei Leuten, die arbeiten«, so Frau K. heiter, »die sind sozusagen geistesabwesend.«

Tatsächlich sitzt Gaston Salvatore den ganzen Vormittag müßig in ihrem Zimmer herum – aber ob sie unterdessen etwas arbeitet, R. bezweifelt es voller Hohn.

»Ich darf mich für 14 Tage verabschieden«, so Michel am Ende der Konferenz, als alle aufbrechen, zu der Herausgeberin. – »Wohin werden Sie denn fahren?« – »Erst einmal eine Woche Frankfurt; ich warte ab, ob sich was ergibt. Das kann ich nie im Voraus planen.« – »Mir geht’s genauso; deshalb mache ich wahrscheinlich nie Ferien. Also«, die Herausgeberin schüttelt Michel die Hand, »viel Vergnügen!« – »Danke.«

R. steht dabei, mit diesem automatischen Lächeln, wie ein Kind, das den Verhandlungen der Erwachsenen zuschaut.

»Auf Wiedersehen«, sagt die Herausgeberin dann zu R., und er wiederholt es, wobei seine rechte Hand, die Füller und Tabakszeug hält, emporzuckt, als wollte er sie ihr reichen. Ihr Blick fällt auf diese Hand. Aber sie nimmt ebenfalls gleich Abstand von einem Händedruck.

Mitgeschrieben

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